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- 30.06.2004
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Der zweite Königssohn
Für vita, mit Goblin
„Nesa, Nesa, du musst aufwachen!“
Gerade hatte sie noch im lauen Frühsommerwind geträumt, umfangen vom dunklen Geruch nach Erde. Dann hatte sie Tiicos quäkende Stimme aus ihrem Schlummer geweckt. Dabei musste er doch wissen, dass Nesa diese gerade warm gewordenen Tage am liebsten im Halbschlaf verbrachte. „Meditieren“ nannte sie es, denn sie war sich sicher, dass Tiico das für etwas höchst Geheimnisvolles und Magisches hielt und ihr dann fernblieb.
„Nesa, bitte wach auf!“ Eine weitere Stimme gesellte sich zu Tiicos penetrantem Organ. Nesa erkannte das zarte Lispeln Kesekes und schlug seufzend die Augen auf. Wenn Keseke sich zu ihr bemühte, dann musste es wichtig sein. Keseke schlief nämlich genauso gerne, wie Nesa. Der Weide, in der sie ruhte, gab durch ein heftiges Blätterrascheln ihren Unmut darüber bekannt, dass Nesa nun aufstand. Seufzend legte Nesa ihre Wange an das warme Holz und atmete den lebendigen Geruch ein. „Ich weiß, ich hab dir versprochen, heute bei dir zu sein. Aber ich glaube, das ist jetzt ein Notfall. Ich komme bald wieder, ich verspreche es."
Das Rascheln über ihr verklang zu einem angenehmen Wispern und im Holz öffnete sich ein schmaler Spalt, durch den Nesa ins Freie krabbeln konnte. Rittlings schwang sie sich auf einen Ast und blickte zu Boden. Dort stand Tiico, die gelben Kulleraugen flehend auf sie gerichtet. Die großen Ohren hingen traurig rechts und links des Kopfes hinunter und er kaute verlegen auf seiner Lippe. Keseke saß auf seiner Schulter und sah verschlafen aus.
„Was gibt es Tiico?“, rief Nesa herunter, verbesserte sich aber gleich zu einem würdevolleren: „Was habt ihr zu berichten? Warum stört ihr meine Ruhe?“ Verflixt, es war gar nicht so leicht, Hüterin des Waldes zu sein. Auf jedes ihrer Worte musste sie Acht geben. Tiicos Ohren sackten ein weiteres Stück ab. Verlegen senkte er den Blick zu Boden und scharrte mit den Füßen. Nesa grinste. Tiico wenigstens hatte Respekt vor ihr. Keseke dagegen war nicht im Mindesten beeindruckt. Er schlang seinen buschigen Schweif um Tiicos Hals, hob sein Näschen zu Nesa und lispelte: "Es sind Menschen im Wald.“
„Menschen?“ Nesa erschrak. Das sollte nicht sein. Das war doch ihr Wald. Menschen durften hier nicht herein. Das war gegen die Vereinbarung. Was sollte sie jetzt tun? Ach, wenn sie doch etwas mehr Erfahrung hätte. Das musste ja auch in ihrem ersten Jahr im Wald passieren. Nachdenklich wand Nesa eine dunkelgrüne Haarsträhne um ihren Zeigerfinger und suchte nach Worten.
„Ja Menschen.“ Tiico war nun auch wieder mutiger geworden. „Ein Mensch besser gesagt. Er ist jetzt am Nymphensee. Die Nymphen trauen sich gar nicht mehr ans Ufer. Guluk hat gesagt, wenn der Mensch noch lange da bleibt, wird er ihn fressen.“
„Oh, nein!“ Guluk war der alte Wassermann. Seit Nesa im Wald war, hatte er ihr nur Ärger gemacht. Und es gehörte sich nicht, Menschen zu fressen. Dann würden nur noch mehr Menschen kommen, um sich zu rächen. „Wir müssen sofort hin!“ Elegant schwang sich Nesa vom Baum und begann, zu laufen. Tiico folgte, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, angefeuert von Keseke auf seiner Schulter.
***
Verängstigt kauerte Silvius sich hinter eine Brombeerhecke. Gerade war eine große grüne Hand aus dem stillen Waldteich gekommen und hatte nach ihm gegriffen. Glücklicherweise hatte sie nur den Stiefel erwischt, den Silvius ausgezogen hatte, um seine wunden Füße ein bisschen im Wasser zu kühlen. Jetzt war er froh, dass er nicht mehr dazu gekommen war, auch nur die Zehen in den See zu tauchen.
Der großen Hand folgte ein algenbewachsener Arm, und dann lugte ein riesiger schlammbrauner Kopf mit tellergroßen orangefarbenen Augen aus dem Wasser. Aus einem Mundwinkel hingen noch die Schürbänder von Silvius’ Stiefel. Mit einem unwilligen Knurren sah das Monster sich am Ufer um. Silvius machte sich so klein, wie er konnte. Er konnte sich noch genau daran erinnern, was seine Mutter ihm über Wassermänner erzählt hatte. Sie waren unberechenbar und grausam und ihr Hunger nach Menschenfleisch war nicht zu stillen. Sie hatte ihn immer davor gewarnt, zu nahe ans Wasser zu gehen. Aber im Grunde hatte sie ihn ja auch davor gewarnt, in den Feenwald zu gehen, und wo war er jetzt?
Mit einem Grunzen zog sich der Wassermann ans Ufer. Er war gigantisch, mindestens doppelt so groß, wie Silvius. Dass so ein Monster überhaupt in den kleinen Teich passt! Silvius biss die Zähne zusammen, die unbedingt klappern wollten und hoffte, dass der Wassermann ihn von oben nicht erspähen konnte. Da beugte sich das Ungetüm zum Boden, betrachtete Silvius’ Fußabdrücke im weichen Uferschlamm und richtete dann seinen Blick auf die Brombeersträucher. Oh, nein! Ein boshaftes Glitzern trat in die ansonsten ausdruckslosen orangenen Augen, als der Wassermann sich stampfend in seine Richtung aufmachte.
Hastig krabbelte Silvius rückwärts aus dem Gebüsch hinaus und fingerte, noch immer halb am Boden liegend, nach dem Schwert an seinem Gürtel. Zweimal rutschte es ihn aus den schweißfeuchten Händen, bevor er es endlich im Griff hatte. Da war auch schon das Monster heran, grinste Silvius breit ins Gesicht, packte das Schwert mit zwei Fingern, als wäre es aus Pappe und schleuderte es in den See. Dann streckte es die Hand nach ihm aus.
„Halt, Guluk!“ Eine helle, befehlende Stimme schallte über die Lichtung. Der Wassermann brummte und ließ seine Hand sinken. Den Blick ließ er jedoch nicht von Silvius. „Der Mensch wird nicht gefressen, verstanden? Das ist gegen die Regeln!“ Ein Rascheln, und die Besitzerin der Stimme trat an die Seite des Ungeheuers. Sie schien so ziemlich das Gegenteil des Wassermannes zu sein, in jeder Hinsicht. Sie war sehr klein, sogar kleiner als Silvius, mit sehr weiblichen Formen, wie ihm nur zu deutlich bewusst wurde, denn sie war völlig nackt. Ihre Haut war von einem hellen Grün und ihre hüftlangen Haare spiegelten alle Farbtöne zwischen Grün und Golden wieder. Ihre Augen leuchteten bernsteinfarben. Sie war sehr jung, sehr hübsch und sehr wütend. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden, was einige nahe stehende Bäume zum Raunen brachte, und funkelte den Wassermann zornig an.
„Du kennst die Abmachung, wie jeder andere auch. Menschen sind tabu. Vertreiben ja, fressen, nein!“ Mit wachsendem Erstaunen konnte Silvius beobachten, wie der Wassermann sich schämte, wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter geschimpft wird. Er blickte abwechselnd zu Boden und in die Luft, aber bloß nicht auf die kleine Frau. „Und jetzt verzieh’ dich!“, fuhr sie ihn an, und das Ungeheuer trottete brav zum Ufer und ließ sich ins Wasser gleiten. Silvius kam endlich auf die Füße und wollte schon aufatmen, als sich die kleine Furie nun auf ihn stürzte. „Und du? Du hast auch noch nie von der Abmachung gehört, oder? Keine Menschen, die uns stören, so war es vereinbart!“
„Genau, so war es vereinbart!“, echote eine quäkende Stimme hinter der kleinen Frau und ein unglaublich hässliches, etwa kniehohes Wesen mit Segelohren und Knollennase trat zu Silvius. Es schien etwas außer Atem zu sein. Auf seiner Schulter kauerte ein pechschwarzer Siebenschläfer.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, lispelte das Tier. Das war der Zeitpunkt, an dem Silvius’ Sinne beschlossen, dass sie genug hatten. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel er in Ohnmacht.
***
Verwirrt betrachtete Nesa den Menschen vor ihr auf dem Boden. Er war groß, aber das sagte man ja so über Menschen. Etwa einen Kopf größer als sie selber wahrscheinlich. Na ja, würde sie eben das nächste Mal auf einen Baum klettern, wenn sie mit ihm sprechen wollte.
„Er sieht ungesund aus“, kommentierte Tiico und deutete auf die merkwürdig rosige Gesichtshaut und die beinahe farblosen Haare. „Bestimmt stirbt er bald. Deine Mutter sah auch so aus, als ihr Herbst gekommen war.“
„Unsinn, Mutter war roter“, widersprach Nesa. „Ich glaube, Menschen sehen so aus. Was trägt er denn da am Leib?“ Neugierig zupfte sie an dem weichen dunkelblauen und roten Material, das um seinen Körper geschlungen war.
„Vielleicht ist ihm kalt“, schlug Keseke vor.
„Glaube ich nicht, ist doch warm heute.“
„Wenn ich so eine ungesunde Hautfarbe hätte, würde ich sie auch verstecken“, quäkte Tiico und reckte stolz seine froschgrüne Brust. „Oder sein Ding ist zu klein und er schämt sich dafür.“
„Nein, dann bräuchte er oben ja nichts zu tragen.“ Nesa war das alles sehr rätselhaft. Sie fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Auf so etwas hatte ihre Mutter sie nicht vorbereitet.
„Am besten fragt ihr ihn selber, er wacht nämlich grade auf.“ Keseke war auf die Brust des Menschen gesprungen und musterte ihn ganz aus der Nähe.
Tatsächlich flatterten die Lider des Menschen, dann schlug er die Augen auf und zuckte merklich zusammen, als er Kesekes Schnauze direkt vor seinem Gesicht entdeckte.
„Was ist passiert?“
„Du bist umgekippt“, krähte Tiico. „Sag mal, ist dein Ding wirklich so klein?“
„Was?“
„Schsch!“ Nesa schob Tiico hinter sich und bemühte sich, eine würdevolle Haltung einzunehmen. Sie räusperte sich, reckte den Hals und hob das Kinn in die Höhe. Sie war nur froh, dass er am Boden lag, so konnte sie auf ihn herab blicken. „Was treibt dich, Mensch, in unseren Wald?“ Sie beglückwünschte sich heimlich dafür, genau den richtigen herablassenden Tonfall getroffen zu haben. Der Mensch schien auch gleich noch etwas kleinlauter zu werden.
„Ich … ich … verzeiht bitte, bitte tötet mich nicht?“
„Töten?“ Nesa runzelte die Stirn. „Wie kommst du auf die Idee?“ Plötzlich klang sie gar nicht mehr hoheitsvoll, nur noch neugierig.
Der Mensch erhob sich vorsichtig auf die Knie. „Ich meine, ich weiß, dass es verboten ist, in den Feenwald zu gehen. Aber ich wusste nicht, wohin, ich hatte solche Angst. Und hier wird mich mein Vater bestimmt nicht suchen. Aber ich werde bestimmt schnell wieder gehen, wenn ihr mich hier nicht haben wollt. Nur nicht auffressen, bitte!“ Dabei warf er einen ängstlichen Blick auf Tiico, der ihm eine breite Grimasse schnitt.
Nachdenklich legte Nesa den Kopf schief. Das klang interessant. Sie liebte neue, interessante Dinge. „Was ist denn mit deinem Vater. Warum hast du Angst?“
Der Mensch wollte offensichtlich aufstehen, aber in dem Moment schoss Tiico hinter Nesas Knien hervor und schrie laut: „Buh!“ Vor Schreck purzelte der Mensch hintenüber und saß nun wieder im Moos, während Tiico sich vor Lachen auf dem Boden wälzte. Mit einem etwas verlegenen Gesichtsausdruck erhob sich der Mensch zum zweiten Mal und klopfte den Dreck aus seinen Kleidern.
„Ich bin Silvius“, begann er, „der zweite Sohn des Königs der weiten Ebenen. Ich bin hier, weil …“
„Lass uns zu meinem Baum gehen!“, unterbrach ihn Nesa, die es ärgerte, dass sie nun zu ihm hoch sehen musste. „Da können wir reden.“ Und ohne sich weiter um ihn zu kümmern, machte sie sich auf den Weg zu ihrer Weide. An dem Knacken und Krachen hörte sie, dass der Mensch ihr folgte. Er bewegte sich durch den Wald, wie ein Wildschwein.
Als sie endlich bei ihrem Baum waren – der Mensch war nicht nur laut, sondern auch langsam und er zuckte bei jedem Geräusch zusammen – schwang Nesa sich glücklich auf einen hohen Ast, blickte ihrem Besucher auf den hellen Schopf und schlenkerte fröhlich mit den Beinen. „Nun sprich!“ gebot sie hoheitsvoll.
„Na ja, wie ich schon sagte, ich bin der zweite Sohn des Königs der weiten Ebenen. Nun will mein Vater, dass einer von seinen Söhnen die Prinzessin vom Blauen Schloss heiratet. Sie ist sehr schön und sehr reich und unzählige Männer machen ihr den Hof. Und da sie nicht heiraten will, stellt sie jedem Bewerber drei unlösbare Aufgaben. Wie in den alten Geschichten eben. Mein älterer Bruder ist schon gescheitert und von ihr in eine Steinstatue verwandelt worden, denn sie ist auch eine mächtige Zauberin. Und nun bin ich an der Reihe, aber ich möchte gar nicht. Da bin ich davon gelaufen, in den Wald.“
Nesa zog verwundert die Stirn kraus. „Warum möchtest du nicht?“
„Na ja, kennst du denn keine Märchen? Ach nein, wahrscheinlich nicht. Der zweite Königssohn bekommt nie die Prinzessin. Auch er muss bei dem Versuch sterben, sie zu erobern. Erst der dritte kriegt sie dann. Mein kleiner Bruder ist schon ganz außer sich vor Freude. Er hat sich wirklich gut vorbereitet. Er hat eine Ameisenzucht im Garten, um die Perlen zu suchen, die sie im Moos verstreut. Er hat Fische gezüchtet, die für ihn auf den Grund des tiefen Sees tauchen, in dem sie ihren Ring versenkt. Und er hat Bienenstöcke, damit die Bienen für ihn die Königstochter erkennen, wenn sie verschleiert vor ihm steht, weil sie als Einzige Honig isst. Und all das habe ich nicht!“ Traurig ließ er den Kopf hängen.
„Und warum hast du das alles nicht?“
„Ach, ich hab’s ja versucht, aber ich hab einfach kein Händchen für so was. Die Ameisen haben mich immer gebissen und die Bienen stechen mich nur. Außerdem war ich krank, als unsere Köchin die weiße Schlange gekocht hat. Deswegen kann ich auch nicht mit Tieren sprechen.“ Er warf einen Seitenblick auf Keseke. „Na ja, außer mit dem da.“
Nesa seufzte. „Das klingt wirklich alles sehr schrecklich. Kann man denn da gar nichts tun?“
Silvius zuckte mit den Schultern. „Vater besteht darauf, dass ich es auch versuchen soll. Er sagt, es schadet seinem Ansehen, wenn einer seiner Söhne sich drückt. Dabei kann Vincentus die Prinzessin gerne heiraten. Ich habe gar nichts gegen ihn. Meinetwegen kann er heiraten, wen er will, wenn ich dafür nur nicht mein Leben lassen muss.“
Nachdenklich betrachtete Nesa den niedergeschlagenen Menschen vor ihr. Tiico hatte sich im Schneidersitz zu seinen Füßen gesetzt und ihm fasziniert gelauscht, während Keseke in seinem Schoß döste. Nesa fasste einen Entschluss.
„Wir werden dir helfen!“
„Ihr?“ Zweifel lag in seinem Blick. „Könnt ihr das denn?“
Beleidigt zog Nesa die Nase hoch. „Ich bin die Hüterin des Waldes, klar kann ich!“ Damit sprang sie zu Boden. „Ich bin übrigens Nesa, der da heißt Tiico und ist mein Herold … “
„Goblin!“, verbesserte Tiico beleidigt.
„… und das ist Keseke, der … äh … Minister. Und nun lass uns losgehen, wir müssen Spinnen sammeln!“ Aufgekratzt hüpfte sie los. Das würde ein ganz ausgezeichnetes Abenteuer werden.
***
Es war eine Freude, Nesa durch den Wald gehen zu sehen. Die Zweige neigten sich vor ihr beiseite, die Blätter raschelten leise, wo auch immer sie ging, und manchmal ging ein Schauer aus Tau auf sie nieder. Dann lachte sie und schüttelte sich, dass die glitzernden Tropfen in alle Richtungen davon stoben. Auch wenn Silvius nicht genau wusste, warum sie ihm helfen wollte, und was sie um Himmels willen tun wollte, war er doch irgendwie froh, dass sie bei ihm war. Sie und ihr komischer Anhang. Da fühlte er sich wenigstens nicht mehr ganz so alleine.
Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mit Spinnen wollte. Aber sie kroch eifrig auf Knien durch das Moos, sammelte die Krabbeltierchen zu Dutzenden und steckte sie sorgfältig in Silvius’ zweiten Stiefel, den sie sich zu diesem Zweck von ihm erbeten hatte. Nachdem sie damit fertig war, kehrte sie zu dem See zurück, wo er sie getroffen hatte, und wechselte einige freundliche Worte mit dem Wassermann. Und schließlich hieß sie Keseke auf einen Baum klettern und eine schwere Wabe aus einem Astloch zu holen. Die Wabe troff von dickem, beinahe schwarzem Honig.
„Das ist der beste Honig weit und breit“, erklärte sie Silvius und streckte ihm zum Beweis ihren honigverklebten Finger entgegen. Verlegen schüttelte Silvius den Kopf. Wo kam er denn da hin, wenn er fremden Frauen die Finger abschleckte. Nesa zuckte nur mit den Schulter und leckte den Finger selber ab. Dann strahlte sie Silvius an. „Wir sind fertig, gehen wir!“
Er konnte sich nicht vorstellen, wie Spinnen und Honig ihm helfen sollten, aber er fügte sich drein. Wenn er nach der ersten Aufgabe merkte, dass ihr Plan nicht klappte, konnte er vielleicht immer noch fliehen. So machte er sich mit seinen seltsamen neuen Freunden auf den Weg zum Blauen Schloss.
Vor dem Blauen Schloss blieb Nesa stehen. „Wir können da nicht rein“, sagte sie. „Aber die Aufgaben sind ja draußen. Wir sind dann da, um dir zu helfen.“ Sprach’s, kletterte geschwind wie ein Eichhörnchen auf die nächste Linde, presste das Gesicht gegen die Rinde und – war verschwunden. Tiico schnitt Silvius noch mal eine Grimasse, dann rollte er sich zwischen den Wurzeln zusammen und begann, zu schnarchen. Keseke zwinkerte ihm noch mal zu, bevor auch er einschlummerte. Plötzlich war Silvius wieder alleine. Mit zitternden Knien ging er in Richtung Zugbrücke.
Vincentus war schon da, als Silvius beim König vorstellig wurde. Gleich packte ihn wieder die Angst. Vincentus sah so zufrieden und glücklich aus. „Vater dachte schon, du seist ausgekniffen“, begrüßte ihn sein Bruder, nach einem verwunderten Blick auf dessen bloße Füße. „Deswegen bin ich hier. Na ja, dann lösen wir die Aufgaben eben gegeneinander, nicht wahr, Majestät?“
Der König vom Blauen Schloss sah sehr betrübt aus, so fand Silvius. Wahrscheinlich war er es leid, dass seine Tochter alle heiratsfähigen Männer der Gegend in schmucke Statuen verwandelte. Wahrscheinlich wollte er gerne sein Regierungsgeschäft abgeben. Er nickte, müde. „Ja, dann werden wir eben zweimal dieselben Aufgaben stellen. Wir fangen am besten gleich morgen früh an.“ Dabei wirkte er, als wolle er das Ganze einfach nur schnell hinter sich bringen. „Ein Diener wird Euch Eure Zimmer zeigen.“
Obwohl das Zimmer geräumig war, und das Bett breit und bequem, mit Samt bezogen und einem Betthimmel aus Seide, konnte Silvius nicht einschlafen. Immer und immer wieder sah er vor sich, wie er als Statue das Brautzimmer der Prinzessin schmückte, während sie mit seinem Bruder die Hochzeitsnacht verbrachte. Ob man noch etwas fühlte als Stein? Oder bekam man nichts mehr mit? Er hoffte das sehr. Als er dann schließlich einschlief, träumte er von Millionen von Ameisen, die durch sein Bett krochen und versuchten, unter seine Kleider zu gelangen, um dort nach Perlen zu suchen. Schweißgebadet fuhr er hoch. Das war doch alles Wahnsinn. Am besten verdrückte er sich jetzt gleich, ganz schnell. Leise erhob er sich und schlich zur Tür. Vielleicht konnte er Nesa dazu überreden, dass er im Wald bleiben konnte. Eigentlich war sie ja ein ganz nettes Mädchen.
Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass die Tür verschlossen war. Das war es dann auch, mit der Flucht nach der ersten Aufgabe, dachte er sich und ließ sich verzweifelt auf die Bettkante fallen. Warum war ihm nicht vorher aufgefallen, dass die Fenster vergittert waren? Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn in die Hände. Dann begann er, die Astlöcher im Bohlenfußboden zu zählen. Eine gute Übung für morgen, ging ihm durch den Kopf, bevor er endlich doch einschlief.
***
Silvius war nervös, das konnte Nesa sehen, als die Prozession aus dem Schloss trat. Vorneweg der König und die Prinzessin. Sie war schön, wie Silvius gesagt hatte, aber ein gutes Stück größer als er, und sie hatte einen grausamen Zug um den Mund, der Nesa nicht gefiel. Dann folgten Silvius und sein Bruder, der einen großen Kasten schleppte. Die Ameisen, wahrscheinlich. Dann eine Heerschar Diener und einige Bewaffnete, die wohl dafür sorgen sollten, dass die Heiratsanwärter sich nicht aus dem Staub machten. Alle zusammen zogen mit Trommelschlag und Glockenspiel auf die große Wiese vor dem Schloss und blieben genau vor Nesas Linde stehen.
„Hört!“, verkündigte ein geckenhaft angezogener Mensch mit dröhnender Stimme. „Die Prinzessin wird nun zweimal hundert Perlen verstreuen. Einmal in diesem Wäldchen“, er deutete auf einige Bäume an einem Bachufer, „und einmal in dieser Wiese.“ Er zeigte auf die Stelle, an der das Gras am dichtesten und höchsten stand. „Bis heute Abend haben die Anwärter ihren Anteil der Perlen auszulesen. Wenn keine fehlt, ist die Prüfung bestanden!“
„Das will ich aber auch hoffen!“, grummelte die Prinzessin. „Ich musste extra eine zweite Kette zerreißen!“ Dann besann sie sich aber ihrer Position und schritt zu dem Wäldchen hinüber, gefolgt von einem Tross Diener und Zofen. Nesa konnte nicht sehen, wie sie die Perlen verstreute, aber kurz darauf kehrte sie zurück und leerte einen Beutel weißlicher Kugeln in die Wiese. Dann wandte sie sich brüsk ab und schritt zum Schloss zurück. Keiner wagte es, hinter ihr zurück zu bleiben, und so standen die beiden Brüder nun alleine da.
Silvius’ Bruder lächelte. „Weil du der Ältere bist, lasse ich dir die Wahl. Wald oder Wiese?“
Nesa sah, wie Silvius unentschlossen vom Bach zur Wiese und zurück blickte. Entnervt flüsterte sie etwas gegen das Holz der Linde und wie von einem plötzlichen Windstoß erfasst, neigte sie sich in Richtung Bach. Zum Glück war Silvius nicht allzu schwer von Begriff.
„Ich nehme den Wald!“, verkündete er. Sein Bruder nickte zufrieden und schritt davon, um seinen Ameisenkasten in der Wiese abzusetzen. Silvius dagegen trat näher an den Baum heran. „Und jetzt?“ flüsterte er.
Nesa öffnete den Baum und ließ sich vor seine Füße fallen. Tiico wühlte sich aus dem Blätterhaufen, den er um sich herum aufgehäuft hatte. Grinsend zog er Silvius’ Stiefel hervor und drückte ihn dem verwirrten Prinzen in die Hand. „Springspinnen!“, sagte er mit einem bedeutungsvollen Ohrenschlackern.
Doch Silvius schien nicht zu begreifen, deswegen nahm Nesa ihm den Stiefel sanft aus der Hand und schnürte ihn auf. „Fressen Ameisen“, erklärte sie und reichte ihm die Spinnen zurück. „Wenn die Ameisen erst mal merken, dass das Springspinnen sind, werden sie sich ganz schnell verziehen, glaube mir.“
Sie sah, wie ein Leuchten über Silvius’ Gesicht ging. Doch gleich darauf verfinsterte sich sein Gesicht wieder. „Und wie sollen wir meine Perlen finden?“
„Das lass mal meine Sorge sein“, erwiderte sie fröhlich. „Geh du mal die Spinnen aussetzen. Wir treffen uns dann im Wäldchen!“
***
Es war gar nicht so leicht, die Spinnen zu Vincentus zu befördern. Der passte ganz schön gut auf, dass Silvius ihm nicht zu nahe kam. Schließlich musste er sich auf den Bauch niederlassen und durchs Gras robben. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Spinnen ihn auslachten. Zu ersten Mal war Silvius froh, dass er nicht die Sprache der Tiere verstand.
Doch schließlich hatte er es geschafft. Mit dem Bauch im Dreck und Auge und Auge mit Vincentus’ Ameisen ließ er den Stiefel fallen und sah zu, wie die Spinnen in die Wiese ausschwärmten. Gleich darauf hörte er auch den empörten Schrei von Vincentus. „Hey, wo wollt ihr hin? Bleibt da, verdammt! Hierher, hört ihr?“
Bei dem Lärm war es nicht mehr besonders schwer, sich unbemerkt davon zu machen. Innerlich musste Silvius lachen. Auch wenn er immer noch nicht genau wusste, wie er seine Perlen finden sollte, es hatte Spaß gemacht, seinem neunmalklugen kleinen Bruder eins auszuwischen.
Als er zu dem Wäldchen kam, sah er Nesa, Tiico und Keseke in trautem Beisammensein am Ufer sitzen. Nesa hatte die Füße im Wasser hängen und neben ihr im Moos lag ein kleines Häufchen weißer Kugeln. Gerade, als Silvius näher trat, sah er, wie sich eine kleine, feine Wurzel aus dem Boden reckte und eine weitere Perle zu den anderen schnippte. „Vielen Dank!“, rief Nesa der Wurzel zu, und die wackelte noch ein bisschen hin und her, bevor sie wieder im Boden verschwand. Dann blickte Nesa zu Silvius auf und grinste. Er musste wohl ein ziemlich verblüfftes Gesicht gemacht haben. „Warum machst du dir Sorgen, wenn du doch eine Baumfee hast?“
Silvius schluckte, nickte, sprachlos. Dann ließ er sich neben Nesa ins Moos fallen. Er konnte es immer noch nicht glauben. Es schien alles gut zu gehen. Dann bemerkte er, dass Nesas Augen vor Unternehmungslust funkelten. Er musste lachen.
„Na gut, dann sag mir mal, wie du dir das mit den anderen Aufgaben vorgestellt hast. Du brennst ja geradezu darauf!“
„Erst, wenn du mir sagst, wo dein Bruder die Fische hat“
„Soviel ich weiß, in einem Teich hinter dem Schloss, warum?“
Nesa grinste. „Oh, Tiico wird sich um die Fische kümmern, nicht wahr?“ Silvius blickte auf Tiico, der sich aufgeregt das Spitzbäuchlein rieb und sich die Lippen leckte.
„Hab lange keinen guten, fetten Fisch gehabt. Guluk frisst mir immer alles weg. Hinter dem Schloss sagst du?“ Silvius nickte. „Dann werde ich das wohl gleich besorgen. Du weißt schon, was du heute kannst besorgen … “ Er sprang auf die Füße und schoss in Richtung Schloss davon. Verwirrt blickte Silvius ihm hinterher.
„Und … wie soll ich, ich meine … “
„Ach keine Bange“, Nesa winkte ab. „Ich war der Meinung, dass du ohnehin noch einen Gefallen bei Guluk übrig hast, nicht wahr?“ Und zu Silvius Entsetzen glubschte ihn plötzlich ein orangefarbenes Auge aus dem Bach an. Wie passt er nur da rein, um Himmels willen? Unwillkürlich rückte Silvius ein Stück vom Ufer ab. Mochte sein, dass er einen Gefallen bei Guluk gut hatte, aber die Gesellschaft von Nesa und ihrer Gefährten war ihm doch entschieden lieber.
„Ach mach dir keine Gedanken, ich hab ihm versprochen, dass du ja wohl die Nymphen im See nicht mehr stören kannst, wenn du verheiratet bist, da war er gleich einverstanden. Und Guluk findet einfach alles!“ Ein tiefes Gurgeln aus dem Bächlein schien ihr zuzustimmen. „Er sagt, es wäre nicht der erste Menschendreck, den er aus dem See holt“, dolmetschte Nesa hilfsbereit.
„Hmm, lass mich raten, und mit dem Honig lenken wir Vincentus’ Bienen ab“
Nesa nickte eifrig. „Ich sagte ja, das ist der beste Honig weit und breit. Blütenjungfernhonig. Da werden selbst Jungfrauen schwach, und schöne Männer, und Bienen können ihm gar nicht widerstehen. Er wird jeden Sommer frisch von den Blütenjungfern gesammelt, und die verstehen ihr Geschäft!“
„Ah ja.“ Silvius wagte gar nicht, weiter zu fragen. Trotzdem. Jetzt wollte er auch alles wissen. Wenigstens konnte er dann die nächsten Nächte gut schlafen. „Und wie soll ich … “
„Das überlass nur mir!“, unterbrach ihn Keseke. „Du musst mich nur ins Schloss mitnehmen und mich in die Nähe des Prinzessinnenzimmers bringen. Den Rest erledige ich.“
Die Frage musste sich wohl allzu deutlich auf Silvius’ Gesicht abgezeichnet haben, denn Keseke brach in ein Kichern aus. „hast du schon mal einen Siebenschläfer in deinem Zimmer gehabt, wenn du schlafen wolltest?“
Silvius schüttelte den Kopf, immer noch verständnislos. Keseke huschte zu einem Baumstamm herüber und begann, lautstark daran zu nagen. „Dann stell dir mal vor, du hörst das hier die ganze Nacht, oder fühlst kleine Füße über dich huschen. Schlafen kannst du dann vergessen!“
„Aber wie soll mir das helfen, die verschleierte Prinzessin zu erkennen?“
Nesa kicherte. „Hast du dich heute mal angesehen? Deine Schultern sind herabgesunken und du gähnst die ganze Zeit. Ich glaube, du merkst das gar nicht mal. Nun stell’ dir drei verschleierte junge Frauen vor, von denen eine ständig gähnt. Das sollte doch nicht schwer sein, oder?“
Mit einem Mal war es Silvius, als hätte man einen riesenhaften Stein von seinem Herzen gerollt. Sein Kopf fühlte sich auf einmal ganz leicht und frei an. Alles war gut. Er würde nicht sterben. In diesem Moment kehrte Tiico zurück, mit kugelrundem Bauch und lautstark rülpsend.
„Sag deinem Bruder, er züchtet köstlichen Fisch!“, murmelte er, stocherte mit einer Gräte zwischen seinen Zähnen herum und grinste Silvius dann breit an.
Silvius konnte nicht mehr. Er kicherte, lachte dann und wälzte sich schließlich, von hilflosem Gelächter geschüttelt, am Ufer herum. Nesa betrachtete ihn interessiert. „Ist er krank?“
„Nein, er hinterlässt nur seine Duftmarken“, kommentierte Keseke fachmännisch.
***
Zwei Tage später beobachtete Nesa aus ihrer Linde, wie Silvius zielsicher auf eine der drei verschleierten Frauen zuschritt, während sein Bruder hilflos daneben stand. Jubel brandete in der Menge vor dem Schloss auf und eine Kapelle spielte einen Tusch.
„Nun, das war’s dann für uns. Lasst uns heimgehen! Der Wald wird uns vermissen“, meinte Nesa und sprang von der Linde. Die Wange ans Holz gepresst wisperte sie einen Abschied und ein Dankeschön, dann nahm sie Keseke auf die Schulter und machte sich auf den Weg zu ihrem Wald. Sie freute sich schon auf ihre Schlafweide. Es ging doch nichts über einen eigenen Baum. Trotzdem, irgendwie war sie nicht ganz zufrieden.
„Hat Spaß gemacht, mit dem Menschen, nicht wahr?“ Manchmal konnte selbst Tiico feinfühlig sein. Nesa nickte.
„Ja, das war schön. Aber nun hat er ja seine Prinzessin“, sie zuckte mit den Schultern, wobei Keseke beinahe herunter gepurzelt wäre. „Und Menschen gehören eigentlich auch nicht … “
„Nesa!“ Hastige Schritte hinter ihr, sie wirbelte herum. Da stand Silvius, verlegen mit dem Fuß scharrend. Verwundert zog Nesa eine Augenbraue hoch. „Was tust du denn hier?“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und spähte über seine Schulter. Vor dem Schloss umarmte die Prinzessin gerade Silvius’ Bruder.
„Na ja, eigentlich hatte ich ja gar keine Lust zu heiraten. Und da hab ich gesagt, weil ich ja gewonnen habe, möchte ich, dass sie meinen Bruder nicht versteinert. Und alle anderen Bräutigame erlöst, damit sie heimgehen können. Und dass sie dann meinen Bruder heiraten soll, denn der hat sich doch tatsächlich in sie verguckt. Na ja, er passt auch viel besser zu ihr von der Größe und so … “
Nesa spürte, wie gute Laune in ihr hochstieg. „Und du, was tust du nun?“
„Na ja, da mein älterer Bruder das Königreich erbt und mein jüngerer ja nun hier regieren soll, da dachte ich mir, vielleicht habt ihr ja ein Herz für einen einsamen Menschen und nehmt ihn bei euch auf. Ich … hatte eine Menge Spaß mit euch“
Tiico schnitt eine Grimasse, Keseke sprang auf Silvius Schulter und Nesa strahlte. „Aber klar. Nur, wenn ich du wäre, würde ich nicht allzu nahe an den See gehen. Du hast Guluk ja kennen gelernt … “
Silvius verzog das Gesicht und nickte. „Ich werde es mir merken. Gehen wir?“
Als sie den Waldrand erreichten, blieb Silvius noch mal stehen. „Sag mal Nesa?“
„Ja?“
„Wenn Blütenjungfernhonig schöne Männer schwach macht, warum hast du mir dann eigentlich welchen angeboten?“
Nesa grinste. „Ich dachte, ich versuche es mal.“