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Des Fiedlers Todesstreich
Des Fiedlers Todesstreich [2]
Des Fiedlers Todesstreich
Des Nachts, wenn alles Leben zur Ruhe gekommen ist und selbst die Kühe im Stall eingeschlafen sind, kriecht bisweilen ein leises Schluchzen oben von den Bergen herunter und streift um die wenigen Häuser. Würde man den Mut besitzen in dieser dunklen Stunde das schützende Heim zu verlassen, dann würde man sehen, wie brennende Weihkerzen in mehr Fenster der kleinen Behausungen gestellt werden. Als könnte Gott die zermürbenden Alpträume abwehren. Am nächsten Morgen wird keiner der Bauern mehr darüber sprechen, so tun als sei nichts geschehen. Einigen von ihnen wird in dieser Nacht jedoch ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen sein. Aber wer weiß schon, woher das Geräusch genau kommt. Manch Gemeinde benötigt nun einmal schaurige Märchen als Ausgleich zu ihrem frommen Leben. Möglicherweise ist es nur der eisige Wind, der die Hänge durch die dürren Skelette der Bäume herabjagt und diese gewissenlose Zeit beklagt.
Als ich noch klein war, da hat mir mein Großvater einmal eine Geschichte erzählt, als wir die Kühe auf die Sommeralm getrieben haben. Durch saftige Wiesen, auf denen uns Blumen entgegenlachten, über glucksende Bäche und durch angenehm kühle Waldgebiete wanderten wir hinauf in die Berge. Als wir die Kühe an einem felsigen Abhang vorbeilotsten, trug uns auf einmal der Wind ein kaum vernehmbares Wimmern aus der Schlucht entgegen. Es hörte sich an wie die trostlose Melodie einer Geige. Obwohl die Sonne uns entgegenstrahlte, fröstelte ich und mir war als würde sich ein Schatten über uns legen.
„Großvater“, hatte ich damals ängstlich gefragt, „hast du das auch gehört?“
Er hatte sich am Bart gekratzt und langsam genickt: „Ja, das ist der Fiedler“
„Der Fiedler?“
„Ja, der Fiedler.“, hatte er bedächtig geantwortet. „Weißt du, es gibt da eine Geschichte um ihn. Um die Zeit, als du geboren wurdest, da lebte ein alter Geigenspieler in dieser Gegend. Er zog immerzu mit seiner Geige von Dorf zu Dorf. Egal ob Sommers- oder Winterszeit. War schon ein komischer Kauz.“
„Ja, und...?“, fragte ich gespannt.
„Nun, immer mit der Ruhe. Es war also Neujahr vor genau neun Jahren. Wir haben uns ziemlich müde morgens in die Messe geschleift. Der Hubertbauer ist sogar auf der Kirchenbank eingeschlafen und hat wie eine alte Frau vor sich hingeschnarcht. Plötzlich reißt jemand mit einem Poltern die Kirchentür auf und herein kommt Maria, die Magd. Du kennst sie, die vom Müller.“
„Die, die so ein bisschen verwirrt im Kopf ist?“
„Ja, genau die. Nur damals war sie noch normal. Also, die stürmt in die Kirche rein. Der Pfarrer, liest soeben aus dem Alten Testament von Mose vor. Sein Kopf läuft hoch rot an und er will sich beklagen. Da hält Maria plötzlich ein kleines Bündel in die Höhe und ruft: „Der Fiedler, der Fiedler. Er liegt tot oben am Fichtensteig. Das hier hatte er bei sich!“
„Was war denn in dem kleinen Bündel?“
„Darin war die kleine Annika, die Tochter vom Großbauern, eingewickelt. Die, mit der du immer spielst.“
„Was? Das hat sie mir noch nie erzählt!“
„Sie war auch noch zu klein, als dass sie sich daran erinnern könnte. Jedenfalls bleibt jetzt natürlich keiner mehr sitzen. Die Mutter von ihr, allen voran, stürmt auf die Maria zu und nimmt ihr Kleines in Empfang. Obwohl der Pfarrer sich vehement beschwert, rennen wir raus und machen uns mit ein paar Männern auf zum Fichtensteig. Jetzt wird’s merkwürdig. Der alte Fiedler liegt dort nicht mehr. Seine Leiche ist weg. Nur ein paar Blutspuren im Schnee führen in die Berge hinauf, aber verlieren sich dort ziemlich bald. Der Schnee hat ihm geholfen. Wer ihn verletzt hat, ist nie geklärt worden.“
„Und deshalb denkt man an den Fiedler, wenn man diese traurigen Klänge hier in den Bergen hört?“
„So ist es.“
„Vielleicht ist es nur der Wind aus den Bergen.“, warf ich kritisch ein. Dabei blickte ich mich ängstlich um und glaubte selbst nicht, was ich anmerkte.
„Vielleicht. Aber ich habe die Geschichte noch nicht zuende erzählt. Denn seit genau diesem Tag verschwinden immer wieder an Neujahr Neugeborene aus den umliegenden Dörfern. Nie werden sie wiedergefunden. Wer, wenn nicht der Geist des alten Fiedlers, soll es sein, der seinem grausamem Handwerk weiter nachgehen will! Wer weiß, wie viele Kinder er davor schon auf dem Gewissen hatte!“
In dieser Nacht konnte ich nicht gut schlafen. Ich lag mit offenen Augen im Stroh und stellte mir vor, wie die dunkle Gestalt des Fiedlers hereinkommt und mich holen will. Das war entschieden keine angemessene Geschichte für mein damaliges Alter gewesen.
Seither sind einige Jahre ins Land gegangen. Ich bin herangewachsen und habe den Hof meines Vaters übernommen. Die Kinderfreundschaft zwischen Annika und mir hat sich entwickelt. In zwei Tagen wollen wir heiraten.
„Kilian!“
Verwirrt schrecke ich auf. „Ja?“
„Wir beenden die Suche. Es führt zu nichts. Die Männer bringen sich bei den Schneemassen da draußen sonst selbst noch in Gefahr. Du weißt, wie schnell Lawinen ausgelöst werden können. Es dämmert schon, bald können sie nichts mehr sehen. Geh du lieber auch nach Haus und schlaf dich aus. Vielleicht kommt Annika ja morgen von selbst zurück!“
„Ha! Von selbst? Weißt du denn nicht, welcher Tag heute ist?“
„Ja, schon.“, sagt mein Gegenüber und tritt von einem Fuß auf den anderen. „Aber er hat bis jetzt nur Neugeborene geholt!“
„Ja, bis jetzt. Vielleicht will er sein Werk vollenden. Du kennst die Geschichte...“
„Wer weiß. Ich werde jetzt zu meiner Alten nach hause gehen. Und du tust auch gut daran, dich hinzulegen.“
Ich schüttele traurig den Kopf. „Nein. Ich werde sowieso nicht schlafen können solange Annika nicht wiederkommt. Ich geh noch in den goldenen Löwen.“
„Mach das. Wir werden sie heute in unser Abendgebet mit einschließen. Dich natürlich auch. Aber bedenke: Nicht alle Sorgen lassen sich im Alkohol ersaufen.“
„Nicht alle, aber viele.“
Mit diesen Worten trennen wir uns und ich gehe mutlos und verzweifelt durch das Schneegestöber auf die Dorfschenke zu.
Die Nacht wälzt sich allmählich die bewaldeten Hänge hinab und wirft die wenigen Behausungen in Dunkelheit. Außer mir befindet sich niemand mehr auf den Straßen. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln und hinterlässt eine Spur. Bald wird sie wieder von frischen Flocken verschluckt worden sein. Hätte es heute nicht geschneit, dann hätte man das Versteck des Fiedlers finden können!
Als ich die schwere Tür des Wirtshauses öffne, schlägt mir warme Luft, geschwängert vom Geruch von Bier und Tabak entgegen, die das bitterkalte Schneegestöber von draußen lässig abwehrt. Im Kamin lodert ein helles Feuer und an mehreren Tischen haben sich zur späten Stunde noch Bauern zum Kartenspielen zusammengefunden. In dieser Jahreszeit, ist es zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden. Ich gehe zur Bar und bestelle einen selbstgebrannten Klaren. Franz, der Wirt, blickt mich mitleidig an und gibt ihn mir aus. Plötzlich werden Stimmen in einer Ecke der Stube lauter und härter. Stühle werden umgeschmissen, etwas Schweres knallt auf einen Tisch. Erschreckt sehe ich mich um: Der Xaver und der Sebastian, Söhne vom Millerbauern, haben mit Alois und Ludwig einen Streit angefangen. Zwei ihrer Bierkrüge liegen in einer Lache auf dem Boden. Alois hält einen weiteren fest um schlossen, entschlossen diesen im Notfall als Waffe zu missbrauchen. Alle vier haben mehr getrunken, als gut für zu sein scheint. Sebastian schreit wild umher und will auf Alois losgehen. Xaver hält ihn jedoch mit aller Kraft davon ab und lallt: „Warten wir den morgigen Tag ab. Dann ist es vollendet. Mal sehen, ob ihr dann immer noch so mit uns umgeht!“
„Wenn ihr vier nicht sofort Ruhe gebt, dann könnt ihr in der Ausnüchterungszelle erfahren, wie ich mit euch umgehe“, übertönt jäh die zornige Stimme des Dorfpolizisten den Lärm.
Xaver dreht sich grimmig zu ihn um, schmeißt dem Wirt scheppernd Münzen auf die Theke und stürmt mit Sebastian im Schlepptau aus der Tür in die Nacht.
„Die Raufbolde. Immer machen sie nur Stress!“, schüttelt der Wirt den Kopf und schnappt sich das Geld. „Die alte Sennin, Gott hab sie selig, hat die beiden immer für Ausgeburten des Teufels gehalten...“
„Womit sie auch gar nicht so unrecht hat. Hat schließlich dafür mit dem Leben bezahlt“, brummt der Sepp aus seiner Stammecke unter dem Bärenschädel, den er behauptet vor 10 Jahren selbst geschossen zu haben, obwohl jeder weiß, dass der letzte Bär vor über 20 Jahren geschossen worden war – vom Großvater des Wirtes. Der Sepp ist ein Trunkenbold und Taugenichts. Aber wenigstens finanziert er zum großen Teil den Wirt mit, wenn er sich seine Zeche nicht mal wieder anschreiben lässt.
„Die beiden sind vielleicht Taugenichts, aber sie für den Sturz der Alten in den Abgrund oben beim Kreuz des Nordens verantwortlich zu machen, gefällt nich jedem“, entgegne ich vorsichtig.
„Vor allem nicht ihrem Vater“, pflichtet mir der Wirt bei.
„Das ist doch mir egal, wie dem das gefällt. Ich spreche doch nur die Wahrheit aus, die keiner hören will!“ Schwerfällig erhebt sich der Sepp, auf seinen Gehstock stützend, von seinem Stammplatz. Er stellt sich neben mich an die Theke und raunt geheimnisvoll: „Für ein Gezapftes würde ich dir noch so ein, zwei Geschichten darüber erzählen, die du sicherlich noch nicht kennst!“
Eigentlich ist mir nicht nach Geschichten aus der „guten alten Zeit“ zu mute. Es beschäftigen mich schwerwiegendere Dinge. Aber bei dem freudigen Glühen in seinen Augen kann ich ihm den Wunsch nicht verweigern. Ich nicke dem Wirt zu, der sodann dem Sepp ein Bier zapft. Nachdem der Alte einen großen Schluck davon getrunken und sich den Schaum aus seinem ungepflegten Bart gewischt hat, beginnt er leise zu erzählen: „Also, eines Abends, da hat die Sennin mal ein bisschen zu viel getrunken gehabt und wurde etwas redselig. Sie hat angefangen zu erzählen, dass sie dem Großbauern und noch ein paar anderen beobachtet hätte, wie sie oben inden Bergen heidnische Gottheiten angebetet hätten. Der Xaver und der Sebastian waren auch dabei... “
Die Theke polierend kommentierte der Wirt sarkastisch: „Natürlich und mein Großvater war König Ludwig II. Ich glaube, da hattet ihr beide nur zu tief ins Glaserl geschaut!“
„Ja, wer weiß. Aber die Wochen, bevor sie gestorben ist, da war sie total verstört und faselte davon, verfolgt zu werden. Ich wette, das hatte etwas damit zu tun, dass die herausgefunden hatte, dass die Sennen sie enttarnt hat. Die Sennin auch drüber geschrieben, also eigentlich müsste es sogar Beweise geben!“
„Beweise?!“ entgegne ich mit den Gedanken bei Annika, „man sagt auch, dass sie einfach nur verrückt gewesen sein soll. Hat ja auch erzählt, sie sei höchstpersönlich dem Engel Gabriel begegnet. Selbst wenn es wahr sein sollte, dann wird der Kult ihre Schriften vernichtet haben und das Rätsel wird wohl nie gelöst werden.“ Beinahe hätte ich ein zynisches „leider“ angefügt.
„Vielleicht.“, stimmt der alte Sepp zu. „Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht kann der Großbauer zwar Neugeborene opfern, aber keine Dokumente finden!“
„Sepp, das reicht. Entweder du hörst augenblicklich auf, Unwahrheiten über den Großbauern zu erzählen oder wir werden uns mal eingehend unterhalten müssen“, schaltet sich plötzlich der Dorfpolizist ein. „Jeder hier weiß doch, dass er aufgehört hat, dich als Erntehelfer einzustellen, weil du besoffen zur Arbeit erschienen bist.“ Er war hinzugetreten und hat dem Sepp seine Hand auf die Schulter gelegt.
„Ja, ja. Ist ja schon gut“, brummt der Sepp und trollt sich beleidigt zu seinem Platz zurück.
Der Dorfpolizist sieht ihm kopfschüttelnd nach und erkundigt sich: „Wie geht es dir, Kilian?“
Ich ziehe eine Krimasse und hebe die Schultern: „Wie soll’s mir schon gehen...“
„Ach, wir finden Annika schon wieder. Wahrscheinlich ist sie einfach nur runter in die Stadt, ohne es dir zu erzählen. So sind nun mal die Frauen. Machen immer nur Kummer. Morgen wird sie schon wieder auftauchen.“
„Hoffen wir’s“, erwidere ich ohne jegliche Überzeugung. „Ich werde jetzt los.“
Der Wirt und der Polizist sehen mich mitleidig an und nicken mir zu. Der alte Sepp erhebt sich und schüttelt mir die Hand. Ich spüre, wie ein Papierfetzen auf meine Handfläche gleitet. Ohne eine Miene zu verziehen, verabschiede ich mich auch von ihm und verlasse das Gasthaus.
Draußen hole ich das Papier hervor und kann gerade so die unsaubere Schrift entziffern. Es steht geschrieben: „Suche beim Pfarrer. Er hält die Dokumente versteckt!“
Verwirrt kratze ich mich am Hinterkopf. Wieso schreibt der Sepp mir das so heimlich? Warum sollte ich in den Unterlagen von der alten Sennin suchen, die an die Existenz irgendeiner Verschwörung geglaubt hatte? Oder stand es etwa in Verbindung mit dem Verschwinden von Maria? Deshalb auch die Geheimnistuerei? Selbst wenn dem so der Fall sein sollte, ist das Anwesen des Pfarrers riesig. Da erinnere ich mich immerhin an eine Möglichkeit. Als kleines Kind, hat ich oft mit den anderen auf dem Pfarreianwesen gespielt. Beim Versteckenspielen, wollte ich einmal ganz schlau sein und war in den Keller des Hauses geschlichen. Vorbei am Vorratslager, wo ich mir einen Apfel stibitze, weiter in den hinteren Teil, wo Stücke eines alten Beichtstuhles, alte Kerzenständer und Weihrauchgefäße herumlagen. Ich wollte mich schon hinter dem Gerümpel verstecken, als ich im spärlichen Licht, das durch vereinzelte Kellerfenster hereinfiel, zwischen den Spinnweben hinter dem Beichtstuhl eine Falltür erkennen konnte. Ich wusste sofort: Dort würde mich niemand finden! Ich nahm also eine der Kerzen aus den Ständern, zündete sie mit meinen neu erworbenen Schwefelhölzern an und öffnete die Falltür. Mit einem lauten Knarren schwang sie auf. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken, als ich die steinerne Treppe in den dunklen Schlund heruntertapste.
Noch überwiegte die Vorfreude, als letzter, wenn überhaupt, gefunden zu werden. Doch schon nach wenigen Minuten war ich wieder am Tageslicht und hatte mich freiwillig als erster aufstöbern lassen. Was ich dort unten nämlich gefunden hatte, war eine Mischung aus Folterinstrumenten, Regalen voller verstaubter Bücher und einem Studierschreibtisch. Alles stammte wohl noch aus der Zeit der Inquisition. Totenköpfe hatten mir entgegengegrinst und ihre Schatten hatten gierig nach mir geschnappt. Wenn die Akten der Alten nicht gefunden werden, dann weil sie dort unten lagern.
Im Laufschritt hole ich Kerzen und Zündhölzer von meinem Hof und schleiche mich an das Haus des Pfarrer an. So leise wie möglich öffne ich die Haustür. Aus dem oberen Stockwerk ertönt ein gleichmäßiges Schnarchen. Die Dielen schreien unter meinem Gewicht auf, als ich zur Kellertreppe gehe. Doch ich erreiche sie ohne, dass das Sägen nachlässt. Im Keller ist es so dunkel, dass mir das Licht einer Kerze den Weg weisen muss. An der Falltür angelangt, öffne ich sie, betrete den Geheimraum und schließe sie leise wieder hinter mir.
Im Schein der Kerze erscheinen die Folterreliquien genauso furcherregend, wie in meiner Kindheit. Die scharfen Spitzen des Nagelsargs werfen lange Schatten an die Wand. Vorsichtig blicke ich mich in dem Raum um. Der Schreibtisch ist staubfrei, was bedeutet, dass der Pfarrer hier unten auch des öfteren arbeitet. Was liest er, das die Welt nicht sehen darf? Die meisten Regale sind schon uralt, ebenso deren Bücher. Das Holz zweier Regale sieht aber noch frisch und hell aus. Eilig überfliege ich die Buchrücken. Am Rande des mittleren Reihe finde ich neben Werken über Bergkräuter und die Geschichte der Region, eines ohne Namen. Ich nehme es heraus und blättere es durch. Es sind Tagebucheinträge, in einer geschwungenen Handschrift verfasst. Als ich das Wort „Kult“ lese, weiß ich, dass ich fündig geworden bin. Vor Spannung zittere ich am ganzen Köper. Ich setze mich an den Schreibtisch und beginne zu lesen. Nach den ersten Seiten ist mir klar, dass die Sennin den Kult nur als Spiel angesehen hat. Es war ein kleines, spannendes Hobby gewesen, um sich die triste Zeit hier oben im Winter zu vertreiben. Doch je mehr Seiten ich überfliege, desto stärker verfängt sie sich in einem Netz, deren Spinnen sie nicht gewachsen zu sein scheint. Etwa in der Mitte der Mitschriften treffe ich auf einen Lageplan einer alten Höhle am Fichtensteig. Die Sennin beschreibt einen schwarzen Altar, welcher der Mittelpunkt dunkler Messen sei. Seiten später berichtet sie, dass, nach alten Geschichten zu urteilen, in solch einem Stein dunkle Götter eingeschlossen seien. Würde man sie durch Opfergaben befreien, würden diese den Helfern unbeschreibliche Macht schenken. Als Randnotiz: Ist etwa der Kult für das Verschwinden der Neugeborenen verantwortlich?! Bald danach wird ihre Schrift immer unleserlicher. Ihre Gedanken immer sprunghafter. Sie hat Angst, dass der Kult sie bemerkt hat. Dann hören die Berichte abrupt auf.
Ich stecke das Buch in meine Jackentasche und verlasse das Gruselkabinett des Priesters. Leise schleiche ich mich aus seinem Haus, schließe die Tür, den Priester verfluchend, dass er sie nicht besser geölt hat.
Ich gehe in Richtung meines Hofes und hole mein Gewehr, bevor ich mir die Höhle und den Großbauern vorknöpfen will. Als ich mich noch einmal umblicke, bemerke ich ein Licht, das im ersten Stock des Pfarrhauses entzündet worden war. Hastig beschleunige ich meinen Schritt. Zum Glück hat es wieder angefangen zu schneien, so dass zumindest meine Spuren nicht verfolgt werden können.
Gerüstet mit einem Gewehr mache ich mich auf zum Fichtensteig. Der Weg führt mich über eine kleine Brücke, an welcher Sommertags schmackhafte Forellen gefangen werden können, hinauf in die Berge, deren weiße Kuppen drohend in den Himmel ragen. Eine Zeit lang laufe ich bergauf. Nach der Karte im Buch zu urteilen, muss ich bei einer, mit einem Kreuz gekennzeichneten, Fichte in den Wald abbiegen. Auf Grund der Dunkelheit wird es zu einer schwierige Aufgabe. Ich muss den Weg mehrere Male vor und zurücklaufen und finde die Abbiegung nicht auf Grund des Kreuzes, sondern weil mir vage Spuren im Schnee den Weg weisen. Kurz darauf sehe ich an einem nahen Baum das Kreuz. Ein kalter Schauer jagt mir den Rücken hinunter. Soll ich wirklich weitergehen?
Als ich durch den dunklen Wald pirsche, kann ich außer meinen Tritten und dem leisen Rufen einer Eule kein Laut vernehmen. Die Bäume um mich herum verwandeln sich in dunkle Beobachter. Ich hoffe, dass sie sich nicht bewegen werden.
Nach einer ganze Weile treffe ich auf den großen Felsbrocken. Durch dickes Gestrüpp sehe ich roten Lichterschein wie kleine Kobolde tanzen. Hier bin ich richtig! Ich entsichere mein Gewehr und schleiche mich vorsichtig heran. Ziehe die Äste zur Seite. Sie sind mit Dornen versehen und schneiden in die Haut. Hinter den Büschen öffnet sich mir ein von Fackeln erleuchteter Gang. Geschwind schleiche ich hinein. Der Gang führt in die Erde hinein. Ich zittere am ganzen Leib. Allmählich höre ich dumpfe Laute. Wie das monotone Anschlagen von Trommeln. Das Herz der Erde? Es wird immer lauter und lauter. Als ich um die nächste Ecke biege, stehe ich am Rande einer großen Höhle. In der Mitte befindet sich der schwarzer Altar. Um ihn herum sind mehrere Kohlebecken angeordnet, deren Licht sich jedoch nicht ausbreiten kann. Wie ein Schwamm, schluckt der schwarze Stein alles Licht. Auf dem Altar liegt eine Frau – Annika. Daneben kniet ein Mann mit einer Maske. Mein Herz beginnt zu rasen. Blitzschnell hebe ich mein Gewehr. Mein Finger huscht zum Abzug. Doch eiserne Hände packen mich von hinten, entreisen mir das Gewehr und schleifen mich in Richtung des Altars. Ich versuche mich mit all meinen Kräften zu wehren, aber es genügt nicht. Ein großer Mann mit einer dunklen Maske auf dem Kopf nimmt mich in Empfang. Er beäugt mich einen Moment, bevor ich von seinen Diener mit rostigen Ketten neben dem Alter angebunden werde. Dann nimmt die Zeremonie ihren Lauf. In einem wirren Singsang aus tierischen Lauten hüpft der barbarische Priester um uns herum. Bis er schließlich einen langen Dolch zückt, den er langsam in eines der Kohlebecken taucht. Als er ihn wieder herauszieht, schimmert es rötlich an den Rändern. Der Trommelwirbel ist leiser geworden. Ich bebe am ganzen Körper, Angstschweiß bedeckt meine Stirn.
Gemächlich stellt er sich neben mich und aus seiner Maske ertönt ein höhnisches Lachen. Dann reißt er den Dolch in die Höhe und grausame Worte einer uralten Sprache verlassen seinen Mund. Zum Glück verstehe ich sie nicht.
Plötzlich wirbelt ein eisiger Windhauch durch die Höhle und zerrt an den Flammen der Fackeln. Als er entschwindet, bleibt eine leise traurige Melodie. Es ist merklich kälter geworden in der Höhle. Ein dunkler Schatten rast heran. Dann umgreift mich eine eisige Schwärze wie die Faust eines Dämonen. Sie raubt mir die Luft. Ich keuche und dann spüre ich das erlösende Ende.
Als ich wieder erwache, brennen die Feuer in den Kohlebecken noch immer. Meine Fesseln sind gelöst worden. Misstrauisch stehe ich auf. Annika liegt aschfahl auf dem schwarzen Altar. Ich stürze zu ihr und fühle ihren Puls. Er ist schwach, aber zumindest existent. Erleichtert atme ich auf. Dann erst blicke ich mich um und werde Zeuge des Grauens. Der Priester und seine Anhänger liegen abgeschlachtet und ausgeblutet auf dem staubigen Boden. Augenblicklich lege ich Annika über meine Schulter und fliehe so schnell mich meine Füße tragen aus der Höhle hinab ins Dorf.
Als am nächsten Morgen die Polizisten und Inspektoren aus der Stadt eintreffen erfahre ich, wer sich hinter der Maske des Priesters versteckt hat. Es war der Großbauer persönlich, der seine eigen Fleisch und Blut grausamen Göttern hatte opfern wollen.
Im Dorf ist es einige Zeit das vorherrschende Thema. Öffentlich empört man sich, wie so ein Teufel in ihrer Mitte hatte unerkannt verweilen können. Der Pfarrer hält eine flammende Rede in der er uns zu ewigen Sündern verdammt, sich selbst ausgeschlossen. Insgesamt sind aber alle erleichtert, dass das Grauen nun ein Ende hat. Aber wenn ich mit meiner Frischvermählten über den Dorfplatz schlendere und in die Gesichter der biederen Dorfbewohner sehe, da will ich lieber gar nicht wissen, welche weiteren dunklen Geheimnisse sich hinter manch einer Maske verstecken. Wer nicht alles gewusst hat, dazugehört hat, aber nun lieber schweigt!