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Des Teufels Klopfen
Gestern, Sonntag, Jahrhundert-Palais Stuttgart. Meine Freundin, Jasmin, und ich hatten noch zwei Karten für die Tribüne erwischt. Wir fanden unsere Sitzplätze und stellten fest, dass es keine besseren geben konnte, um die Grandiosen Drei aus nächster Nähe zu erleben. Bis dahin versprach der Abend ein richtig guter zu werden – wie abrupt er enden würde, konnte ich zu der Zeit ohnehin noch nicht ahnen.
Als die Musiker des Support Acts Martyrium gegen zwanzig Uhr die Plattform neben der Hauptbühne betraten, war die Halle gut gefüllt – ich schätzte zehntausend Menschen. Von Martyrium hatte ich vorher nie gehört, aber offenbar waren auch ihre Fans in dieser Arena präsent, denn noch bevor der letzte der Akteure sein Instrument beziehungsweise Mikrofon erreicht hatte, verwandelte sich die Menge vor jener Nebenbühne in ein geräuschvoll wogendes Meer gestreckter Arme.
Der Sänger begrüßte das Publikum mit „Was geht ab, Stuttgart?“, die Menge geriet noch heftiger in Wallung und ich wollte mich gerade über das uralte Phänomen der Massenhysterie amüsieren, als mich der erste Tiefschlag traf.
Mein Kopf schwenkte nach rechts, zu Jasmin, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen schadenfroh angrinste, während nun jener ersten dumpfen Erschütterung eine abgründige Bassline folgte. Das knarrende Grollen aus mannshohen Subwoofern ließ meinen Körper vibrieren.
Jasmin zu fragen, ob sie mir da etwas verschwiegen hatte, wäre bei dem Krach zwecklos gewesen, also wandte ich mich wieder dem Ort zu, an dem das akustische Unwetter erzeugt wurde. Im gleichen Moment setzten, begleitet von grellen Blitzen, dumpfe, höllenlaute Beats ein, in deren Rhythmus sich die futuristisch verkleideten Musiker zuckend bewegten.
Als ob der Teufel von unten an die Halle klopft, dachte ich.
Neben mir geriet Jasmin aus dem Häuschen. Lachend zappelte sie auf ihrem Plastiksitz hin- und her und rempelte mich mit ihrem linken Ellenbogen im Takt des Polterns herausfordernd an. Sie zwinkerte mir zu und rief mir – akustisch nicht verständlich, aber deutlich erkennbar – mit aufgerissenem Mund „Geil!“ zu. Ihre übermütig blitzenden Augen sprachen Bände: Hey, alter Sack, jetzt komm, hab dich nicht so, sei nicht so spießig, mach mit ...
Ich nickte ihr nachsichtig lächelnd „Du mich auch“ zu, dann schaute ich mich um. Das Publikum auf unserer Tribüne dürfte im Schnitt etwa in unserem Alter gewesen sein. Und was die Begeisterung dieser Leute betraf ... na ja, hätte ich herumgefragt, wer außer mir noch Lust habe, draußen, im Foyer, ein Bier zu trinken, solange bis die Grandiosen erschienen, hätten sich die Sitzreihen vermutlich drastisch geleert. Die meisten hier oben verharrten wohl lediglich in einer Art Schockstarre, aus der sie erst mal jemand befreien musste.
Aber das tat ich natürlich nicht. Ich wollte Jasmin nicht den Spaß verderben, angesichts des viel zu selten gewordenen Umstands, dass wir beide es fertigbrachten, gemeinsam etwas zu unternehmen. Außerdem bin ich doch immer offen für Neues, sagte ich mir, ließ meinem Schatz ihren Sitztanz und wandte mich wieder der lärmerzeugenden Insel jenseits der brodelnden Menge zu.
Martyrium bestand neben dem Frontmann aus zwei DJs und drei zuckenden Backgroundsängerinnen, soweit aus der Entfernung, beziehungsweise im Diskoscheinwerfer-Geflacker, das das Halbdunkel zerhackte, erkennbar. Wenn man vom Hip-Hop-typischen Sprechgesang absah, dürfte für das, was sie spielten, Techno die korrekte Bezeichnung sein. Jenes elektronische Gestampfe und Gewaber war noch nie mein Ding gewesen. Und eigentlich war es allgemein für eine andere Zielgruppe bestimmt als für die, die auf den Headliner wartete, oder?
Inzwischen realisierte ich immerhin, dass ich meine Ohrenstöpsel trotz des Brachialsounds keineswegs benötigte. Denn anders als bei einem Metal-Konzert drangen die lautesten Töne vom Hallenboden her in mich ein. Einem durch die Ohren ins Hirn sägende verzerrte Gitarrenriffs fehlten. Was da von unten gegen mein Zwerchfell drosch und Innereien, Knochen sowie jede einzelne Muskelfaser zum Schwingen brachte, zerfetzte mir wenigsten nicht das Trommelfell. Das war der erste Pluspunkt, den ich seit Beginn des Infernos vergab.
Mittlerweile lief die zweite Nummer. Mit einem anderen Rhythmus. Die Beats stampften nicht mehr monoton vor sich hin. Der mittlerweile groovende Bass tat kaum noch weh, obwohl er immer noch rumorte wie der abnibbelnde Motor eines Muldenkippers. Vielleicht hatte ich wirklich schon einen Gehörschaden.
Doch, nein: Was der Sänger – oder hier passender: MC – da rappte, war eigentlich trotz Lärmkulisse gut zu verstehen. Jetzt sang er zur Abwechslung sogar doch noch. Unisono mit einer der Sängerinnen. Sie seien „so schön verstrahlt“, trällerten sie fröhlich. Hörte sich interessant an.
Neugierig geworden, begann ich aufmerksam zuzuhören. Von Song zu Song fand ich die Texte besser. Witziger. Tiefgründiger. Der Rap des Typen da vorn hob sich vom Großteil dessen, was ich bisher als Rap kannte, wohltuend ab. Darüber hinaus konnte ich auch der Musik selbst von Titel zu Titel mehr und mehr abgewinnen.
Irgendwann lehnte ich mich zurück und schielte zu Jasmin, die selig lächelnd ihren Kopf im Takt wiegte. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, erntete ich einen erneuten Ellenbogenstoß. Dann beugte sie sich her und schrie mir ins Ohr: „Und? Schlimm?“
Ich verneinte, indem ich die Schultern hochziehend, kopfschüttelnd, eine unschuldige Grimmasse zog; in der Hoffnung, meine wachsende Sympathie für die Vorgruppe so noch einigermaßen zu verbergen. Schließlich war ich mir längst sicher, dass ihr schon vorher klar gewesen war, was uns erwartete, sie mich also ein klein wenig hintergangen hatte.
„Man kann sich daran gewöhnen!“, rief ich zurück, erntete einen weiteren Hieb in die Seite und sah wieder nach vorn, denn eine echte Unterhaltung erschien mir bei dem Gedröhn nach wie vor zu anstrengend.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich zum ersten Mal den Blick des Security-Typ auffing, der durch sein weißes T-Shirt von all seinen dunkel gekleideten Kollegen abstach. Er stand im abgesperrten Bereich vor der uns zugewandten Bühnenrampe, also maximal zwanzig Meter entfernt, direkt vor uns. Da hielt ich meine Wahrnehmung noch für einen Zufall. Meine Augen wanderten weiter bis zu Martyrium, die ihre Hallenhälfte nach Strich und Faden rockten, dann aber unbewusst wieder zurück zu jenem Glatzkopf in Weiß – er schaute immer noch zu uns hoch. Zu Jasmin und mir. Zumindest schien es mir so. Er nestelte sich am Ohr, während er seinen anderen, muskulösen Arm zögernd zum Mund führte, so als wolle er in die gewölbte Hand husten. Ob er dabei nicht doch die Konzertbesucher links oder rechts neben uns fixierte, war auf die Entfernung nicht zweifelsfrei festzustellen. Doch zweifellos fand er hier, wo wir saßen, irgendetwas beachtenswert, denn solange ich hinschaute, sah er zurück.
Einige Höllen-Beats lang hielt ich seinem Blick stand, bevor es mir unangenehm wurde und ich mich wieder der B-Stage zuwandte. Nicht zuletzt aufgrund meines schlechten Gewissens, das sich plötzlich meldete. Der Frontmann von Martyrium rief gerade eine Frage, die ich akustisch nicht verstand, ins unter ihm brodelnde Menschenmeer und hielt ihm sein Mikrofon entgegen. Das Meer antwortete mit einer gewaltigen Welle: „Schauspiel studieren!“, schallte es disharmonisch zurück.
Offenbar waren die Fans der Elektro-Rapper textsicher. Jedes Mal wenn der MC seinen Arm ausstreckte, ertönte ein tausendstimmiger Chor, der an die Cannstatter Kurve im Neckarstadion nach einem VFB-Tor erinnerte. Mir gelang es allerdings nicht einmal mehr, dem Text zu folgen. Die dafür zuständige Hälfte meines Gehirns beschäftigte sich eigenmächtig mit dem hüstelnden Security-Mann. Was für eine Information hatte der Glatzkopf per Funk weitergegeben? Hatte sie mit mir zu tun? Sollte die eigentümliche Schleuse, die wir am Einlass passiert hatten, tatsächlich einer dieser hypermodernen Körperscanner gewesen sein, die Gerüchten zufolge bereits verdeckt eingesetzt wurden? Waren wir unbemerkt durchleuchtet worden? Doch warum war ich dann nicht gleich, am Eingang, rausgefischt worden? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Vielleicht bekamen bestimmte Sicherheitsleute einfach nur vorgeschrieben, wo sie hinzuschauen hatten, versuchte ich mich zu beruhigen. Zugleich starrte ich angestrengt auf das Geschehen auf der B-Stage, um nicht unversehens von dem Glatzkopf dabei erwischt zu werden, wie ich seine Blickrichtung checkte.
Doch als der Titel endete und es „Wo sind die Hände, Stuttgart?“ durch die Arena schallte, hielt ich es nicht mehr aus. Unauffällig schielte ich zum Security-Mann, der mich an eine alte Putzmittelwerbung erinnerte. Hinter der Bühnen-Absperrung wuselten ein paar Roadies in Schwarz herum, dazwischen, wie eine Säule der Ruhe, ein weißes T-Shirt. Meister Proper blickte nach rechts. Ich atmete tief durch.
Verfolgungswahn, dachte ich. So etwas kann man sich einfangen, wenn man ein Geheimnis mit sich trägt. Das Geheimnis von etwas Unrechtem, das man tut.
Trotz dieser Einsicht – oder unbewusst gerade wegen ihr, gewissermaßen um mich unauffällig zu verhalten –, begann ich ab dem Augenblick, in dem mir der Stein vom Herzen gefallen war, mich zu bewegen. Genaugenommen wippte ich nur etwas stärker im Takt als vorher. Jasmin bemerkte dennoch bald, dass sich in mir ein Knoten gelöst hatte. Grinsend forderte sie mich mit einer Kopfbewegung auf, mit ihr im Stehen weiterzutanzen. Ich deutete mit auf meinen Wangenknochen gehaltenen Zeigefinger an, was ich davon hielt, aber ihre Idee schien bereits ins kollektive Unterbewusstsein übergesprungen zu sein, denn genau in dem Moment erhob sich vor uns die halbe Sitzreihe. Andere Gäste waren also ebenso wie ich von diesem Polter-Sound überzeugt worden.
„Die letzte Minute hat begonnen“, verkündete der Frontmann von Martyrium schmetternd in das Stampfen aus den Lautsprechern hinein. „Die wollen wir feiern! Macht nochmal Lärm, Stuttgart!“
Stuttgart gehorchte, Jasmin sprang auf, weil sie im Sitzen nun sowieso nichts mehr sah, ich folgte ihr. Nach kurzem Protest erhoben sich auch Besucher in den Reihen hinter uns, was ich allerdings nur im Augenwinkel wahrnahm, weil meine Aufmerksamkeit schon wieder dem Security-Mann im weißen T-Shirt galt. Dass er jetzt von neuem zu uns hoch starrte, hätte mir eingeleuchtet, wenn die Tribünen-Blocks neben uns nicht ebenfalls längst mit Sitzplatz-Flüchtigen bevölkert gewesen wären. Warum sieht er ausgerechnet zu uns?, fragte ich mich wieder. Bin ich wirklich paranoid oder geht’s mir gleich an den Kragen?
Aus Verlegenheit schaute ich auf meine Armbanduhr und realisierte, wie schnell die Zeit verflogen war. Innerhalb einer reichlichen halben Stunde hatte es wieder einmal eine Vorgruppe geschafft, die Mehrheit eines, zu Beginn überwiegend skeptischen Publikums für sich zu gewinnen. Ich sah auf – und dem Security-Mann quasi in die Augen.
Alles Weitere muss sich innerhalb von zwei, maximal drei Minuten abgespielt haben. Die MC verkündete schallend abwechselnd mehrmals jeweils die „letzte Minute“ und pries seine aktuelle Scheibe, die „Klick in die Kuh-Zunft“ heißt, an. Am Anfang dieser Phase war noch deutlich zu verstehen, was er sagte oder rappte. Seine Stimme hob sich noch klar vom Wummern der Bässe und Drums, von den Misslauten aus den Synthesizern, vom Jubel der begeisterten Menge, ab. Doch im Laufe weiterer, dröhnender Sekunden fragte ich mich, ob die Gesangsmikrofone allmählich ausgeblendet oder ob die Menschenmassen stetig lauter wurden.
Neben mir tanzte Jasmin, selbstvergessen im siebten Himmel des Hip-Hop-Teufels. Auch die vor mir tanzten, so wie die hinter mir und die in den Blöcken neben an. Alles tanzte. Zumindest kam es mir so da noch so vor. Ich schaute mich ja nicht um. Ich starrte wie hypnotisiert, mich unsinnigerweise mit leicht eingezogenem Kopf hinter meinem Vordermann zu verstecken versuchend, an dessen Ohr vorbei, auf den Security-Mann im Bühnengraben.
In meinem Hirn lief die Suche nach einer Erklärung auf Hochtouren. Waren die Verantwortlichen vorhin am Eingang gerade anderweitig beschäftigt gewesen und nun hatte mich einer von ihnen wiedererkannt? Oder waren die mutmaßlichen verdeckten Körperscanner gar schon so hochentwickelt, dass sie bei einem Treffer automatisch ein Foto des Verdächtigen schossen, welches gespeichert wurde und allen Sicherheitsleuten, gewissermaßen als Fahndungsfoto, zur Verfügung stand?
Während ich Sinn und Unsinn dieses Gedankens gegeneinander abwog, registrierte ich vor dem Tunnel, der vier tanzende Konzertbesucher neben mir in die Katakomben führte, eine Veränderung. Ich musste meinen Kopf nur geringfügig drehen, um zu sehen, wie einige Security-Leute mit weißen Oberteilen aus jenem Tunnel heraus in den Halleninnenraum traten, irgendwie unschlüssig, suchend, umher-, teils zu Martyrium, unter anderem aber auch zu uns schauten.
Daran zweifelnd, dass der Sicherheitsdienst allein wegen mir Teile seiner Kräfte vor unserem Tribünenblock zusammenzog, schwenkte ich zu Meister Proper zurück und fühlte mich sofort in der Falle. Die rechte Hand vor dem Mund, führte die linke des Security-Mitarbeiters, ohne dass er mich aus den Augen ließ, eine Bewegung aus, die die Schlussphase meines Konzertbesuchs einläutete.
Jene letzten Sekunden schienen in Zeitlupe abzulaufen. Aber das psychologische Phänomen der Zeitverlangsamung, das wohl in Situationen hochgradiger akuter Gefahr auftreten kann, nutzte mir nichts mehr. Angeblich soll es ja dem Gefährdeten ermöglichen, überscharf zu erkennen, was gerade geschieht, um schnell und effektiv reagieren zu können. Bei mir kam es zu spät. Erst jetzt, fast vierundzwanzig Stunden später, beginne ich nach und nach die Ursachen oder Bedeutungen der einzelnen Informationen und Eindrücke, die da in Überfülle auf mich einprasselten, zu verstehen.
Die Zeitlupe begann, als Meisters Propers Hand sich hob, bis sein Finger genau auf mich deutete. Sein Blick wanderte zu seinen weißen Brüdern hinüber. Anscheinend kommunizierte er mit ihnen. Immer mehr von ihnen wurden sichtbar. Immer mehr schauten zu mir. Nun auch einige ihrer Kollegen in Schwarz. Propers Finger führte eine kreiselnde Bewegung um mich herum aus. Einkreisen! Umzingeln! – was sollte es sonst bedeuten? Zugleich begann der absurd übertriebene Abspann der kurzen Show von Martyrium: Künstlicher Nebel wurde an ungewöhnlichen Stellen durch die Halle geblasen, Gold- oder Silberregen rieselte herab, nicht nur über der Bühne. Kindisch! Sind wir hier bei DSDS?, schoss es mir sarkastisch durch den Kopf.
Sekundenbruchteile später korrigierte ich mich: Nicht die Band hat dieses lächerliche Theater inszeniert, nein, der Sicherheitsdienst! Das sind Ablenkungsmanöver! Das ist Vernebelungstaktik pur.
Aber warum ein solcher Aufwand? Befinden sich etwa noch weitere verdächtige Subjekte in meinem Block? Und dieser unerträgliche Lärm, gehört der auch zur Zugriffstaktik der Security? Die Beats geraten total aus dem Takt. Okay, ähnlich klang es mitunter auch schon bei Jimmie Hendrix am Ende seiner Songs. Aber so laut? Muss das sein? Ich muss mir die Ohren zuhalten! Macht der Krach Jasmin nichts aus? Doch – so verdattert wie sie guckt, hat auch sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt.
Die Zuschauer sind inzwischen noch lauter als das irre Dröhnen der Musikanlage. Die schnappen ja völlig über. Und was riecht hier so? Dieser blöde Silberstaub? Womöglich ist er giftig! Ich wische ihn mir vom dunklen Hemd, ja er riecht ... irgendwie staubig, ich drehe mich um, weil sich nun auch schon die vor uns Stehenden umwenden, allerdings nicht mich anschauen, sondern etwas hinter oder über uns. Ich sehe beim Umwenden im Nachbarblock Menschen hinauf, in Richtung Foyer, eilen – vermutlich wollen sie vermeiden, später vor dem Klo Schlange stehen zu müssen –, die Verbliebenen kreischen jeweils für zwei, in einigen Gesichtern erkenne ich einen verstörten Ausdruck, höre direkt hinter mir, also jetzt aus Jasmins Richtung, einen schrillen Schrei, dann bleibt das Bild kurz stehen. Ein bizarres Bild: Die Proportionen der Halle sind seltsam verschoben.
An mehr kann ich mich nicht erinnern. Dass ich mühsam über das Gitter meines Kinderbetts krabble, mit dem Kopf hart aufs Kopfsteinpflaster aufschlage, mein zerbeultes Moped mit schmerzenden Knien am Rand der regennassen Straße abstelle, danach auf einer dreispurigen Autobahn quer durch Deutschland laufe, bis jemand meine eigene Gitarre auf meinem Schädel zertrümmert und mir ins Ohr flüstert, ich solle aufwachen, muss ich geträumt haben – irgendwann während meines unfreiwilligen Nickerchens, aus dem ich heute Vormittag hier, in der Landes-Klinik, erwacht bin.
Nun liege ich also in einem Bett mit elektrisch verstellbarem Kopfteil, schaue auf die weiße Wand gegenüber und schreibe auf, was mir zum gestrigen Abend noch einfällt oder erwähnenswert erscheint. Bis zum Abendbrot war ich noch so benebelt, dass ich von dem, was bei der Visite, heute Nachmittag, gesprochen wurde, praktisch nichts verstanden habe. Ich weiß nur, dass mir die Saustoffmaske abgenommen wurde und dass neben der jungen, südländisch aussehenden Schwester Zina mindestens drei weitere Personen, darunter vermutlich mehrere Ärzte, anwesend waren. Den Grießbrei mit Apfelmus konnte ich dann aber selber löffeln – meine rechte Hand ist ja intakt. Auch die Tabletten habe ich zum O-Saft aus dem Schnabelbecher selbst eingenommen, was Schwester Zina ebenso sehr gefreut hat wie mich.
Momentan fühle ich mich eigentlich richtig gut. Ich spüre keine Schmerzen, obwohl ich von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt bin sowie diverse Kabel und Schläuche unter den Verbänden hervor zu Überwachungsgeräten und aufgehängten Fläschchen oder Beuteln führen. Meine Beine spüre ich genaugenommen überhaupt nicht; als ich die Bettdecke angehoben und festgestellt habe, dass sie noch dran sind, bin ich regelrecht erleichtert gewesen.
Über den gestrigen Abend konnte ich bisher noch mit niemandem sprechen. Auch hat mir noch keiner offenbart, was genau mir passiert ist oder welche Verletzungen ich im Einzelnen davongetragen habe, was sicher daran liegt, dass man mich noch nicht für ausreichend aufnahmefähig hielt. Schwester Zina hat mir vorhin lediglich mitgeteilt, dass ich großes Glück gehabt habe. Dabei hat sie zur Zeitung auf meinem Nachttisch gedeutet. Mein anfänglicher Bettnachbar habe sie mir vermacht, bevor er auf eine andere Station verlegt worden sei.
Die Stuttgarter Rundschau habe ich mir dann gleich geangelt. Nach dem zu urteilen, was sie schreibt, bin ich wirklich äußerst glimpflich davongekommen. Schon die Schlagzeile auf der Titelseite, Tragödie in Stuttgart – Dach des Jahrhundert-Palais eingestürzt, hat mich die Ausmaße des Unglücks ahnen lassen. Als ich den ganzseitigen Artikel halb durch hatte, habe ich kurz unterbrechen und schlucken müssen. Mir ist abrupt bewusst geworden, wie knapp ich mit dem Leben davongekommen bin. Zuerst sei das Dach über Block B der Südtribüne zusammengebrochen, heißt es in der Rundschau. Das war unser Tribünenblock gewesen. In dem Bereich seien auch die meisten Todesopfer zu beklagen. Dreiundsechzig bei Redaktionsschluss!
Einem aufmerksamen Security-Mitarbeiter sei es wesentlich zu verdanken, dass diese traurige Zahl nicht bereits höher liege. Der Mann habe von der Bühne aus hinter den Köpfen des Publikums auf den Rängen eine, wie er sich ausgedrückt habe, „leichte Rauchentwicklung“ beobachtet, welche sich später als Staub von sich lösendem, bröckelndem Wandputz herausstellte. Der Sicherheitsmann habe die Beobachtung sofort weitergegeben und nachdem man deren Ursache festgestellt habe, sei unmittelbar, aber möglichst diskret, um eine Massenpanik zu vermeiden, damit begonnen worden, die Südtribüne von oben angefangen zu evakuieren. Ein Sprecher der Feuerwehr lobt in der Rundschau das schnelle und doch besonnene Reagieren der Sicherheitsfirma.
Na ja, schnell ... wenn ich mich recht entsinne, waren zwischen dem Moment, als ich Meister Propers Blick zum ersten Mal spürte, bis zu dem, als sein Finger zu mir – besser gesagt, zum Riss an der Wand – zeigte und seine Kollegen auftauchten, mindestens vier Titel durch die Boxen gedröhnt. Das bedeutet, es war mehr als eine Viertelstunde vergangen. Eine relativ lange Zeit, meine ich. Aber das zu beurteilen steht mir nicht zu.
Eine kritische Stimme hat sich allerdings auch in der Rundschau sofort zu Wort gemeldet: Ein Statiker will bereits vor Jahren gewarnt haben, dass die Baustandards aus der Zeit der Halleneinweihung nicht mehr den Belastungen genügten, denen das Gebäude heutzutage während eines Musikkonzerts ausgesetzt sei. Er habe wiederholt Vibrationsmessungen während einer solchen Veranstaltung gefordert, und behauptet jetzt, die von den Boxen auf das Gebäude übertragenen Erschütterungen hätten die Dachkonstruktion zuerst heftiger als zulässig schwingen und dann in dessen Folge einstürzen lassen. Schwingungen in einem Gebäude würden im Abstand zum Fundament immer größer, erläutert der Spezialist.
Dass die Schneelast auf dem Flachdach viel zu gering war, als dass sie es zum Einsturz hätte bringen zu können, darin sind sich offenbar alle Fachleute einig. Der Schnee auf dem Dach erklärt mir allerdings die Nebelschwaden und den Silberregen, Sekunden vor der Katastrophe. Staub vermischte sich mit Schneeflocken, die durch erste kaputte Stellen in die Halle wirbelten, und rieselte, von gelben Scheinwerfern wunderbar illuminiert, auf uns herab. Der ohrenbetäubende Lärm, unmittelbar bevor alles herunterkam, muss also vom über uns schwingenden Dach gekommen sein. Irre, sich das im Nachhinein bildlich vorzustellen.
Jedenfalls war meine innere Unruhe völlig gerechtfertigt. Ich leide nicht an einer paranoiden Persönlichkeitsstörung! Nur suchte ich die Ursache für meine Wahrnehmungen in der falschen Richtung. Ganz sicher werden jene geheimen Körperscanner noch gar nicht eingesetzt, weshalb auch niemand von dem verbotenen Objekt in meiner Hosentasche gewusst haben konnte. Wäre interessant zu erfahren, ob es noch da ist. Wenn ja, dann eventuell ...
Richtig vermutet, der Inhalt meiner Taschen liegt vollständig in der Nachttischschublade. Das Päckchen Tempos, der Geldbeutel und der Schlüsselbund – mit dem, zugegeben, etwas ungewöhnlichen Anhänger: dem kleinen Springmesser. Die Klinge ist zu kurz, um als illegal zu gelten, aber ich hätte es dennoch nicht mit in die Halle nehmen dürfen. „Das Führen in der Öffentlichkeit stellt eine Ordnungswidrigkeit dar“, sagt der Gesetzgeber. Aber was soll’s? No risk – no fun. Das Messerchen ist ein Andenken an einen guten Freund und ihm zu Ehren trage ich es halt immer mit mir herum.
So, gerade kommt Schwester Zina herein, deshalb werde ich Stift und Schreibblock beiseitelegen. Ich möchte sie fragen, ob sie von meiner Freundin gehört hat. Jasmin habe ich zuletzt im Jahrhundert-Palais, kurz vor meinem Totalausfall, gesehen.
„Alles klar bei Ihnen, soweit?“, fragt Schwester Zina hinreißend lächelnd und: „Was schreiben Sie da Schönes?“
Da bin ich noch mal. Schwester Zina hat mir die Nachtmedizin verabreicht und danach Feierabend gemacht. Dass meine Hand augenblicklich so zittert, liegt an dem kurzen Gespräch, das ich gerade mit ihr geführt habe. Ich habe sie das gefragt, was ich fragen wollte, und Jasmins vollen Namen genannt, als sich ihre Gesichtszüge blitzartig seltsam verdüstert haben. Sie hat dann mit einem künstlichen Lächeln zu überspielen versucht, dass sie etwas weiß. Etwas, das nichts Angenehmes sein kann. Und plötzlich hat sie es eilig gehabt. Mit demselben falschen Lächeln und den Worten, sie dürfe dazu nichts sagen und ich solle doch bitte morgen Dr. Müller fragen, ist sie aus der Tür gerauscht.
Und nun ist mir auf einmal speiübel.