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Deutschstunde
Die Sonne legte sich an diesem Freitagvormittag wie ein goldgelbes Tuch auf die Stadt, konnte jedoch hier und da einige Schattenstellen nicht verbergen. Die Wärme der Strahlen auf der Haut traf auf regelmäßige kühle Windstöße, und so wurden die meisten Arbeitsgänger von diesem lebendigen Morgen gleichsam gekitzelt und aus ihrer gewöhnlichen Trägheit angehoben.
Der Verkehr beanspruchte die Straßen schon ganz erheblich, und auch auf den Fußwegen zeigte sich ein reges Gewusel, wenn die Geschäfte sich eröffneten und hier und da eine Reklame oder irgendein Schild ausgestellt wurde. Der Handel ging frisch und munter von statten, und der Lauf der Dinge war an diesem Morgen bereits unwiderruflich ins Rollen geraten.
Auch die alte Schule in der Nähe des Hauptbahnhofs hatte bereits ihre Türen geöffnet. Von allen Seiten strömten die Lernenden zum Haupteingang; einige stiegen vom Fahrrad, andere hingegen wurden von ihren Eltern gebracht, doch die meisten kamen zu Fuß. Lebhafte unterhielten sich die Schüler, die Kleinen scherzten und spielten ein wenig auf dem Weg, und unter den älteren wurde gezwinkert und an Hemd und Zopf gezogen. Andere hingegen hielten etwas Abstand, und waren dem Rest gegenüber gleichgültig oder schauten, teils begierig, teils neugierig und dabei meistens neidisch, dem fröhlichen Spiele zu.
Ein Junge unter ihnen – er war vielleicht siebzehn Jahre alt – blieb auf seinem Weg ohne scheinbaren Grund plötzlich stehen. Es schien ihn jetzt nicht zu kümmern, dass er den Fluss der heranrückenden Schüler behinderte und daher umgangen werden musste. Dann legte er seine linke Hand aufs Kinn und fuhr langsam über sein Gesicht, so dass er ganz leicht mit dem kleinen Finger nacheinander die beiden Augenlider berührte. Er öffnete die Augen und fuhr mit seinem Blick zur alten Turmuhr. In dieser Stellung verharrte er einen Augenblick, dann atmete er tief durch und setzte seinen Weg fort.
Er war von mittlerem Wuchs, und fiel durch seine äußerst korrekte Kleidung auf, wie man sie bei Jugendlichen nur selten beobachtete. Sein Gang war ruhig und ein wenig nachlässig und es war ihm eigentümlich, die rechte Hand immer in der Hosentasche zu halten. Was aber sein Gesicht anbetrifft, hatte er ein ganz weich gebildetes Kinn und verträumte Augen, doch seine Nase wirkte etwas unplatziert und der Mund einen Tick zu üppig. Hingegen war die Stirn für sein Alter bereits gut durchgearbeitet. Sein Blick schien jetzt etwas abwesend, auch wenn man darin eine gewisse Besorgnis lesen konnte.
Er ging durchs Haupttor, über die kleine, steinerne Treppe hinauf bis zur eigentlichen Eingangstür, und betrat die Eingangshalle im ersten Stockwerk. Der Raum, wo er Deutschstunde hatte, lag zwei Etagen höher, und so stieg nun auch die Haupttreppe hinauf, während er auf dem Weg den einen oder anderen abwesend grüßte. Als er oben angekommen war, bog er in den langen Flur mit den dorischen Säulen, an dessen Ende sich der Raum befand. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet, während er ging, und gelegentlich drückte er sie zu, als wollte einen Augenblick lang gar nicht da sein.
„Morgen“, grüßte ihn die lebhafte Stimme einer Mitschülerin. Er schaute auf. Als er das Mädchen sah, geriet seine ganze Haltung in eine unsichere, hüpfende Bewegung, und er wusste nicht recht, ob er sich freuen oder umdrehen und weglaufen sollte. Er fasste sich, schob die Brust vor die Schultern und erwiderte in Generalsstellung mit unsicherer Stimme: „Hallo“. Dann trat er näher und setzte sich zu ihr auf die Treppe.
Auf ihrem Schoß lag ein Buch, in dem sie gelesen hatte. Sie machte ein etwas angestrengtes Gesicht, als ob sie sich fragte, ob es unhöflich wäre einfach weiterzulesen, dann dachte sie einen Augenblick lang nach und drehte sich schließlich zu ihm. Sie merkte, dass er auf eine unverständliche Weise nervös war und etwas unvorsichtig ihren Blick mied, und so wendete ihren Blick wieder zurück zum Buch, ohne wirklich darin zu lesen.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er leise. Das Mädchen wusste nicht recht, ob sie eigentlich angesprochen war, und so entgegnete sie ihm, ohne ihn dabei anzuschauen: „Ja, ich habe auch keine Lust mehr.“ Er schaute sie an. Wieder schien alles in ihm lebhaft zu springen und zu tanzen, und er wusste nicht was er machen sollte. Am liebsten würde er sich ihr nähern, ihr sagen, dass er sie liebt; sie umarmen und ihre weichen, großen Augen still küssen, wie er es sich schon oft vorgestellt hatte.
Es war ganz leise im Flur, und obwohl sich immer mehr Schüler vor den Klassenräumen sammelten, konnte man den Eindruck gewinnen, die Stunde hätte bereits angefangen. Fast geräuschlos schienen die lebhaften Unterhaltungen und das Spielen der Kleinen; es war, als ob sie hinter dichten Türen und Wänden längst Unterricht machen würden.
Er sah das Mädchen noch einmal an. Sie hatte die Beine umgeschlagen und las in ihrem Buch, während sie langsam den Kopf mit zunehmendem Lesefortschritt senkte und gelegentlich die langen, blonden Haare verspielt ums Ohr legte. Dann fuhr sie mit den zierlichen Fingern unter die Seite, um sie gleich darauf umzuschlagen und das Haar ums andere Ohr zu legen.
Er erhob sich. Dann wendete er sich nach links, umging das Treppengeländer, an dem er sich kurz davor noch angelehnt hatte, und stieg ein Paar Stufen hinab. Vo dort aus konnte er aus einigen Metern Entfernung das Fenster an der Zwischenplattform sehen, und er schaute hindurch, in den goldgelben Sommer und die schweren Schatten. So stand er für einige Sekunden da; sehnsüchtig und wehmütig, schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dann richtete er sich auf, und mit klarem Blick stieg er die wenigen Stufen ein letztes Mal hinauf.
„Ich habe eine Idee“, sagte er. Sie ließ Augen noch für eine Weile über dem Text, lehnte sich dann zurück und schaute ihn an. „Du wirst nicht nein sagen, wenn du etwas Gefühl in dir hast, und du hast davon eine Menge, das weiß ich.“ Dann setzte er sich wieder zu ihr und fuhr fort: „Lass uns gehen, lass uns hier und jetzt dieses Gebäude verlassen! Komm mit, wir gehen über die Kreuzung runter zum Kaffeehaus, dann steigen wir hinab zum Fluss und gehen so ein bisschen unter den Brücken, und wir schauen uns die Schiffe an, und die Leute!“. Seine Worte waren jetzt deutlich und fest, und er stand auf, um freier sprechen zu können. „Dann gehen wir wieder hinauf, über den Marktplatz am Rathaus vorbei und am Dom, und gehen weiter in Richtung Innenstadt, zum Konzerthaus, zum großen Postgebäude und zum Gerichtshaus und dann gehen wir in Richtung Kunsthalle und“ – hier brach er kurz ab, und lächelte etwas verlegen, „und wenn wir dann noch können, dann laufen wir weiter, und dann, dann gehen wir wieder zurück in die Schule.“