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- 18.04.2002
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- Anmerkungen zum Text
Der Versuch einer Geschichte mit Deflations-Fokus.
Stilistisch hat sich ein poetischer Realismus mit Expressionismus-Elementen ergeben.
Die kursiv berichtende 'Instanz' habe ich eingeführt, um einen zusätzlichen Blickwinkel zu ermöglichen. Weiß nicht, ob das in dieser Art schon mal gemacht wurde.
Die Äußerung des Innersten
„Hallo Lena, ich komm gleich runter!“
„Is gut! – Ach, Paula?"
"Ja?"
"Bringste bitte meinen Schirm mit?“
"Mach ich."
„So, hier ist er.“
„Danke dir. Gehen wir heute mal ins Café Schubert?“
„Oh ja – da gibts doch diese tolle Sacher-Torte!“
Die siebzig Jahre alte Frau hakt sich bei ihrer Gefährtin ein. Diese ist älter, wirkt jedoch viel robuster als ihre Freundin. Offensichtlich genießen die beiden die gemeinsame Unternehmung.
„Ahh, das war ein schöner Ausflug. Soll ich dich zur Bahn bringen?“
„Nee, is schon gut. Bis bald, ich ruf dich an. Tschüss, Paula!“
Im Hausflur empfängt sie der Geruch von modrigen Wänden und verbranntem Fett. Zielstrebig geht die Witwe in ihre Wohnung im zweiten Stock. Die im ersten steht schon lange leer, das Haus, überhaupt das ganze Viertel ist ziemlich heruntergekommen. Viel Vertrautes ist verschwunden: Die Möbelfabrik wurde vor einigen Jahren aufgegeben, auch der Supermarkt. Das Neue, die düsteren Lagerhallen und das ständig dunkle Fitnessstudio sind nicht unbedingt ein Gewinn. Das Treppensteigen fällt Paula ziemlich schwer, sie ist müde …
…
… erst pennt die Oma wie tot, dann überrascht sie mich doch noch auf diesem dreckigen Balkon voller Gelump. Dabei bin ich sowieso am Abhauen.
Ein Windstoß – die Balkontür fällt hinter ihr ins Schloss. Pech.
Ich setze den Kuhfuß am Türrahmen an. Holz splittert, sonst passiert nichts. Warum geht diese verdammte Tür nicht auf! Und dieses bockige, dämliche Weib schreit rum. Widerlich, diese Kittelschürze und der elende Zwiebeldunst, der sie umgibt. Ich zerre sie an ihren Haaren, sie soll sich hinsetzen.
Sie zittert, schwitzt, in Endlosschleife Gedankenblitze … ‚nein, nicht … nein, nicht … nein‘, beklemmendes Entsetzen zerreißt ihre Brust, ein aussichtsloses Kreischen schleudert sie ihrem Peiniger entgegen.
Natürlich schlage ich zu, muss ihr das Maul stopfen.
Er triumphiert über dieses zerstörte Wesen in seiner Gewalt. Es ist nutzlos: Der Mann realisiert, dass unten im bizarren Schattengespinst der verrosteten Laterne Leute stehen geblieben sind. Weiße Flecken, das Abbild sensationsgieriger Menschen.
Sie wimmert vor sich hin, hilflos. Und ich stehe vor verschlossener Tür. Scheiße, in was hat die mich reingezogen? Wie komme ich weg mit dem Geld?
„Du, Bubi – was machst du da?“ „Wirst du mit der Oma nicht fertig?“
„Ihr Pisser – verzieht euch …“
„Sonst was?“ „Ja, was?“
Es wird unangenehm heiß unter seiner Maske. Sie ist verrutscht, er schnauft atembehindert. Gehetztes Denken, panikgetriebenes Überlegen, Ausweglosigkeit.
„Verzieht euch, sonst werfe ich die Alte runter!“
„Ach ja?“ „Jetzt gleich?“
„Ich machs, ihr Idioten, haut ab!“
„Angeber!“ „Feigling, Feigling – Großmaul!“ „Blödmann, bist du übergeschnappt?" „Hey, Penner, haste die Hosen voll?“
Eine feige Provokation: gewissenloses Wohlbefinden.
„Ihr Arschlöcher, kommt doch rauf! Dann schmeiß ich euch samt der Alten auf die Straße!“
Sie krallt sich an einen Stuhl. Für einen Moment scheint die Umgebung verzerrt um die Frau zu tanzen: von Angst gepeitschte Sinneseindrücke, verwaschene Formen und Farben. Ihr Magen krampft etwas Klebriges in ihre Speiseröhre; ein Pfeifton durchdringt ihren Schädel, das linke Ohr hämmert Schmerzen in ihr Bewusstsein. Ein Röcheln, das armselige Bruchstück eines Hilferufs, der Beginn wütender Verzweiflung.
Jetzt schlägt sie wild um sich, stößt mich an die Hauswand. Das lasse ich mir nicht bieten! Sie ringt mit mir, sie kratzt, reißt mir die Maske runter und erkennt mich. Da staunst du Oma: Ich bins – der ‚nette junge Mann von der Tankstelle‘. Ich prügle den letzten Rest Widerstand aus ihr raus, sie lehnt keuchend am Geländer. Schon wieder Zwiebelgestank. Nix wie weg, am besten erst mal auf den Nachbarbalkon, das Geschrei von den Idioten da unten wird immer unerträglicher …
„… hallo Schwächling! Versager!“ „Loser, die Bullen kommen!“
Ein dumpfer, eigentlich harmloser Ton; verlogenes Erstaunen, vereinzelte Schreie. Verlegenheit, keine Scham – eher rechtfertigender Trotz im Gemurmel.
Er blickt über das Geländer nach unten: Vor ihm uneinsehbare Tiefe – es ist sein selbst gewählter, innerer Abgrund. Es gibt keine Ausreden. –
„Ihre Verteidigung behauptet, dass sie erst aufgrund der Rufe von der Straße dazu verleitet wurden, Frau Ottmann vom Balkon zu stoßen. Man führt ihre besondere Vulnerabilität infolge Ihrer problematischen psychischen Konstitution an. Aber es ist doch so – Sie haben die Leute erst durch Ihre Äußerung, ich zitiere: ‚Verzieht euch, sonst werfe ich die Alte runter‘ auf die Idee des Stoßens gebracht. Herr Magwarth, was sagen Sie dazu? Sie haben den Tod der Rentnerin gewollt: Unabhängig von den Rufen auf der Straße!“
Der Mann steht auf, provozierend langsam, streckt sich. Er hebt die rechte Faust, dreht sich nach links zur Wand – sein Mittelfinger schnellt empor.