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Die Achterbahn

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05.02.2006
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Die Achterbahn

Es ist wie immer, dachte sich Roeland. Da befindet man sich innerhalb der hermetischen Umzäunung eines Freizeitparks, innerhalb der sterilen Begrenzung eines Märchenlandes, und schon vergisst man die Realität. Es ist vergleichbar mit dem Schauen von „Wetten dass ... ?“ am Samstag oder des „Traumschiffs“ zu Neujahr. Alles Negative wird peinlich genau aus dem Bewusstsein radiert, verbannt, weggebombt. Und übrig bleibt ein seichtes, naives Gefühl von kindlicher Glückseeligkeit, oder vielmehr unkindlicher Stumpfheit und Gedankenlosigkeit.
Roeland zog grübelnd an seiner Zigarette und dachte weiter. Es ist falsch, Kindern diese Art von Gemüts- und Gedankenzuständen zu unterstellen, denn Kinder denken über das nach, was sie bedrückt, was sie berührt; sie versuchen zu verstehen, zu verarbeiten, zu hinterfragen – sie schieben nichts bewusst von sich fort, um ein paar Stunden gedankenloser Dumpfheit zu genießen, so wie es die Erwachsenen tun. Er schnippte die Kippe auf den Gehweg und fing sich direkt den bitterbösen Blick eines Oberstudienrates ein, der mit seiner Frau (aller Wahrscheinlichkeit nach eine exzellente Dozentin für Soziologie an der elitären Hochschule von München) und seinen zwei wohlerzogen Kindern samt geliehenem Picknick-Bollerwagen mit buntem „Fun & Action Park“ - Emblem an ihm vorbeizog. Oh entschuldige, du Schleimscheißer, habe ich dir zu viel Realität in deine gemietete Traum- und Entspannzeit geworfen?

Roeland verabscheute die Erwachsenen ob ihrer bewussten Gedankenlosigkeit. Doch er brauchte sie, denn schließlich verschaffte ihre Unachtsamkeit ihm ein ganz passables Zubrot. Ein Zubrot, welches er immer dringender nötig hatte, nicht nur wegen seiner Kokainabhängigkeit.

Roeland war am Ende und er wusste es. Ein Junkie im BOSS-Anzug, ein überschuldeter Allerweltshasser mit Alpträumen, Erektionsproblemen und Amok-Ambitionen. Einer, der täglich in Goethes Faust las, obschon er ihn auswendig kannte. Ein Verächter der menschlichen Seele mit attestierter Beziehungsunfähigkeit.
Vor wenigen Tagen hatte er bereits zum dritten Mal in diesem Jahr einen Job verloren – und es war erst August.
„Herr Schirmer, Sie haben ein augenscheinliches Disziplinproblem“, hatte ihm sein Vorgesetzter verärgert entgegengeschmettert.
„Auch wenn Sie hier in der Abteilung die besten Ergebnisse einfahren und die meisten Abschlüsse erzielen, können wir Ihre Unpünktlichkeit und Ihre unentschuldigten Fehlzeiten nicht mehr länger hinnehmen. Es tut uns sehr leid.“

Roeland hatte als intelligenter und extrem introvertierter Abbrecher des Studienganges BWL zuletzt für eine Leihfirma Handyverträge in einem Call-Center an den Mann gebracht – und das mit Erfolg. Er hatte stets die Fähigkeit besessen, sich binnen Sekunden in die Psyche eines anderen Menschen hineinzuversetzen, ihn völlig zu durchleuchten und zu analysieren - und es war dabei völlig unerheblich, ob er der Person direkt gegenüberstand oder sie nur am Telefon hatte.
Diese Fähigkeit, andere Menschen wie Glasobjekte zu durchschauen und ihre innersten Gedanken, Gefühlsregungen und Ängste zu erkennen, hatte er bereits als kleiner Junge gehabt. Er hatte stets gewusst, dass seine Mutter ihn belog, wenn sie ihm mit geröteten Augen erklärte, es gehe ihr gut. Er hatte gewusst, dass sie log, wenn sie ihm versicherte, dass sie mit dem Saufen aufhören würde. Er hatte gewusst, dass sie die Unwahrheit sagte, wenn sie nach einer weiteren Prügelnacht versprach, seinen Vater noch am selben Tag zu verlassen und er hatte gewusst, dass dieser log, wenn er ihm versprach, dass er sich ändern wolle und Mama nie mehr schlagen würde.
Und er hatte lange ganz genau gewusst, dass seine Mutter irgendwann den Schritt gehen würde, den sie schließlich am Tag vor seinem 13. Geburtstag gegangen war. Und er hatte sie nicht aufhalten, nicht davon abhalten können – und diese Unfähigkeit, dieses Versäumnis, diese Schuld quälte ihn seitdem wie ein bösartiger Tumor in seinem Schädel – und er schien in den letzten Monaten besonders schnell gewachsen zu sein.

Er beobachtete die Familie nun schon seit einigen Minuten. Die Eltern waren der Traum eines jeden Diebes – überfordert, übermüdet, gereizt und genervt. Die drei Halbwüchsigen waren aber auch besonders widerwärtig. Das hatte Roeland bereits nach wenigen Momenten begriffen. Ständig zogen und zerrten sie an Mamas Pullover und wollten da rein oder dort hin. Und dann waren da natürlich die kulinarischen Verlockungen an jeder Ecke und Eis und Zuckerwatte schmecken natürlich besser als klamme Butterbrote und Paprikastreifen in der Tupperware-Dose.
Papi hielt sich aus alledem geschickt heraus. Er watschelte entgeistert mit dem typisch männlichen „Sie-wollte-unbedingt-drei-Blagen-und-jetzt-soll-sie-damit-auch-fertig-werden“- Blick fünf Meter vor seiner Sippe her, um dann und wann mit seiner neuen digitalen Spiegelreflexkamera bunte Sehenswürdigkeiten abzuschießen (vornehmlich dann, wenn sich rein zufällig gleichzeitig ein Paar schöner Beine oder Brüste ablichten ließen – oder besser noch – ein paar). Und dass er dann zielsicher auf eine freie Bierzeltgarnitur eines Hamburger-Imbisses zusteuerte, lag auch mehr an seinem eigenen Hunger als an dem kreischenden „Pommes ! Pommes !“- Gezeter seiner Bälger.
Zwanzig Sekunden später hockte er bereits schnaufend auf einer Bank, während seine Frau verzweifelt versuchte den Sportwagen für die 4-jährige durch die engen Bank- und Tischreihen zu zwängen. Als die aus den Fugen geratene Trude dann irgendwann auch mal saß und die Kleinen sich darum stritten, wer wo sitzen dürfe, fragte er dann auch direkt, während er die verschmierte Speisekarte für seine Gattin unerreichbar auf dem Tisch positionierte, ob sie denn auch das Menü Nr. 4 haben wolle. Natürlich wusste die schwitzende Trude in diesem Moment nicht, was sie auf den Teller bekam, wenn sie Menü Nr. 4 bestellte und verlangte erst einmal die Karte, die ihr dann von ihrem inzwischen wieder hypergenervt dreinschauenden Gatten ziemlich widerwillig herübergereicht wurde. Roeland zündete sich eine weitere Zigarette an. Noch drei Minuten, dachte er, dann geht`s los.

Trude nahm natürlich auch Menü Nr. 4, obschon sie auch nach einem 50-sekundigen-Kartenstudium nicht die geringste Ahnung hatte, was sich hinter diesem Mahl verbarg. Vorsorglich bestellte sie aber schon mal Remoulade dazu; schließlich aß sie alles mit Remoulade. Sogar Currywurst und Erbsensuppe. Hannes stand auf und steckte sich erst einmal wieder sein ausgewaschenes Hemd in die ausgebeulte Bundfaltenjeanshose. Dann tastete er nach dem Tragegurt seiner Kamera und schwang sie ungeschickt um seinen Kopf herum, um sie anschließend auf dem Holztisch abzulegen. Anschließend griff er sich an die abgewetzte Gesäßtasche und lieferte Roeland zu der teuren, wahrscheinlich noch nicht ganz abbezahlten Digitalkamera noch einen weiteren respektablen Grund für sein Vorhaben. Er kramte seine Geldbörse heraus, entnahm ihr einen 20 Euro Schein und legte das Portmonee neben seine Spiegelreflex.
Und dann machte er sich (natürlich alleine) mit lächerlich eingezogenem Bauch und Don-Johnson-Gedächtnis-Lächeln auf den Weg ins Innere des Hamburger-Shops. Wahrscheinlich bildete er sich allen Ernstes dabei ein, er könne unterwegs noch mit der einen oder anderen Sexbombe flirten und sie eben mal kurz, während er auf seine Familienbestellung wartete, auf der Kundentoilette vernaschen, während Trude draußen in der Sonne heimlich versuchte, ihren Deoschutz mit dem stinkenden Aldi-Roller zu erneuern und während sie ihre Brut davon abhielt, den gesamten Freizeitpark zusammenzubrüllen.

Roeland witterte seine Chance. Er zertrat die Zigarette und erhob sich gemächlich von seiner Bank. Wie ein Sicherheitsbeauftragter des amerikanischen Präsidenten ließ er seinen Blick langsam und gründlich über das Gesamtgeschehen um ihn herum wandern. Nichts entging seinen trainierten Augen. Er entdeckte Reinigungskräfte, Eisverkäufer, Parkbesucher. Er entwickelte einen Fluchtplan und einen zweiten für den Notfall. Er schätzte die Aufmerksamkeit von Trude und die des Kerls am Nachbartisch ein. Und schließlich setzte er sich ruhig in Bewegung und rechnete sich im Kopf bereits aus, wie viel Geld er für die Kamera bekommen und wie gut ihm das dafür besorgte Kokain am Abend tun würde. Am Abend, wenn es darum ging, der Dunkelheit, den Ängsten und der dauernden Erniedrigung durch sich selbst für ein paar Stunden zu entkommen.

Trude fütterte die Kleinste mit einem Plastiklöffel. Zuvor hatte sie ihre Handtasche mit einem Tempo zu säubern versucht, nachdem sich der Inhalt der Dose mit dem Zuckerpudding gleichmäßig auf Schlüsselbund, Kugelschreiber, Handy, Deoroller, Damenbinden, Eintrittskarten und Papiertaschentücher verteilt hatte. Ihre Finger klebten fürchterlich, sie musste zur Toilette und ihre Haare hingen ihr feucht und ungepflegt in die Stirn. Sie fühlte sich unwohl, dick und unattraktiv und nahm angewidert den Geruch ihrer nassen Achseln wahr. Der Anblick der Gruppe junger Frauen, die in knappen und modischen Sommeroutfits zwei Tische entfernt etwas zu laut lachten, kicherten und mit geschminkten Lippen an ihren Zigaretten zogen, ließ sie innerlich nur noch kleiner und verzweifelter werden. Die beiden Großen hampelten aufgedreht und hungrig auf ihrer Bierzeltbank, die jeden Moment zu kippen drohte. Und dann hustete die Kleine plötzlich und Trude war blind. Über und über mit Pudding bekleckert, fingerte sie nach einem weiteren Tempo und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, ihr Gesicht von der klebrigen Pampe zu befreien.
„Mama, der Mann hat einfach Papas Sachen genommen!“
Als Mama die Augen öffnete, sah sie nur einen jungen Mann in Bluejeans und Sakko davon rennen. Sie war zu erschrocken, um irgendetwas zu sagen und als sie begriffen hatte, was geschehen war, konnte sie den Dieb in der Menschenmenge bereits nicht mehr erkennen.

Roeland zwang sich dazu, langsamer zu laufen. Er beruhigte seinen Atem und als er am Ausgang war, hatte er sich wieder vollständig unter Kontrolle. Alles hatte perfekt geklappt und er lächelte siegessicher. Das Geld des Idioten, sicherlich mehr als 150 Euro, steckte in seiner Jeans. Das Portmonee hatte er in ein Gebüsch geworfen. Er wollte gerade durch das Drehkreuz, als er draußen vor dem Eingang zwei Sicherheitsleute mit Funkgeräten bemerkte. Die beiden Männer beobachteten aufmerksam jeden Gast, der den Park durch den Ausgang verließ.
„Scheiße !!“
Roeland hielt inne und bückte sich, wie um sich die Schuhe zu binden. Hockend ließ er seinen Blick unauffällig durch den Eingangsbereich streichen. Die zwei Security-Männer hatten ihn noch nicht entdeckt und hinter ihm im Park war kein weiteres Personal zu sehen. Dann registrierte er das WC-Gebäude, richtete sich auf und wollte gerade losgehen, als er die Stimme vom Drehkreuz her hörte:

„Hallo, Sie da vorne. Würden sie bitte einmal zu uns kommen?“

Und während Ingo in sein Funkgerät brüllte, hechtete Tim mit einem Satz über das Drehkreuz, um den flüchtenden Dieb zu verfolgen. Dieser war unglaublich schnell, fast schon wie ein Sprinter bei einem 100 Meter Lauf. Tim war zwar sportlich, doch er trug diese blaue, viel zu enge Uniform, mit der er sich noch nie richtig hatte bewegen können. Der Typ baute seinen Vorsprung rasch aus. Im Rennen hielt sich Tim das Funkgerät an den Mund und keuchte hinein:
„Rosenbacher hier! Verfolge den Kerl. Läuft vom Eingang Richtung Sektor B. Brauche Verstärkung. Müsste gleich beim Speed-Tower sein. Brauche Verstärkung!“

Roeland schnaufte. Er spürte wie ihn die Kräfte verließen. Sein Atem kam rasselnd, sein Hemd klebte ihm am Körper, die Kamera, die er sich wie ein gemeiner Parkbesucher um den Hals gehängt hatte, schlug bei jedem Schritt wild gegen seine rechte Seite.
Überall fragende, ausweichende Blicke, Menschen.
Er stieß einen Luftballonverkäufer zu Seite und sprang über ein Kind, welches auf der Erde saß und eine heruntergefallene Eiskugel mit einem Holzstück zurück in die Waffel zu befördern versuchte.
Vorbei am Hot-Dog-Stand und an passiv stumpfen Besucherschlangen, die darauf warteten, in irgendwelche 3-D-Kinos, Raumschiffsimulatoren, Wildwasserbahnen oder ähnliche Attraktionen eingelassen zu werden. Und dann sah er sie von vorne kommen. Drei Männer, von denen einer mit seinem muskulösen Arm auf ihn zeigte und Roeland bog scharf nach links ab.

Er bemerkte zu spät, dass er sich selbst in die Falle manövriert hatte, denn er befand sich auf einmal in einem durch Stangen und Absperrseilen begrenzten Wartebereich. Noch wusste er nicht, um was für eine Anlage es sich handelte, doch schien sie nicht sonderlich überlaufen zu sein, denn gerade passierte er das „Noch 5 Minuten Wartezeit“ – Schild, ohne auch nur einen anderen Gast gesehen zu haben.
Er rannte weiter, sprang über etliche Eisenbügel und schleuderte dabei irgendwann unbewusst die Kamera irgendwohin ins Nichts. Dann streifte er sich im Laufen das Jackett von den verschwitzten Schultern, raste um eine Ecke und befand sich plötzlich im Abfahrtsbereich einer Achterbahn. Er knüllte seine Jacke zu einem feuchten Klumpen zusammen und ließ sie unbemerkt in einen Mülleimer fallen. Obschon er auf dem Weg hierher keine Menschenseele gesehen hatte, drängten sich die Besucher in diesem Bereich nun dicht an dicht. Gerade fuhr die Bahn mit ihren 12 bis 15 Einzelwagen ein. Ein pfeifendes Bremsgeräusch ertönte und die Sicherheitsbügel wurden geöffnet. Dann strömten Mädchen, Jungen, Männer und Frauen aus den kleinen Wagen und Mädchen, Jungen, Männer und Frauen strömten wieder hinein. Roeland zitterte vor Erschöpfung und sah, dass im vordersten Wagen ein einzelner kleiner Junge mit einer riesigen blauen Sportkappe saß und dass sich scheinbar niemand zu ihm gesellen wollte. Roeland erkannte, dass der Grund dafür darin bestand, dass in der Warteschlange, die sich für den ersten Wagen angestellt hatte, ansonsten nur noch jugendliche Pärchen standen, die die Fahrt natürlich gemeinsam unternehmen wollten. Roeland witterte seine Chance und drängelte sich an den wartenden Teenagern vorbei.
„Sorry, aber da vorne sitzt mein Sohn drin. Ich müsste mal eben durch.“
Am Wagen angekommen, schwang er sich direkt hinein.
„Darf ich?“
Der Junge sah ihn scheinbar abgeklärt an und meinte:
„Wenn du willst? Aber nur, wenn du mitschreist.“
„Klar, kannst dich drauf verlassen.“
„Schreist du auch wirklich? Du bist doch schon ein Mann.“

Roeland wandte sich dem Kleinen zu, während sein Blick die Umgebung abscannte. In diesem Augenblick erschienen vier Männer im Wartebereich. Roeland erkannte in einem von ihnen den Ordner wieder, der ihn zuallererst verfolgt hatte. Er zog die Schultern ein und ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken.

„Hallo!“
Roeland erschrak.
„Was denn ?“
Der Junge sah ihn mit großen Augen an.
„Ich sagte, du bist doch schon ein Mann. Du kannst doch gar nicht schreien.“
Roeland versuchte ein Lächeln.
„Oh doch. Und wie ich schreien kann. Aber sag mal, darf ich deine Mütze aufsetzen, die sieht total cool aus?“

Tim stand mitten unter den wartenden Fahrgästen und versuchte, in jedes einzelne Gesicht zu schauen. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte den Gesuchten einfach nicht entdecken. Nirgends ein Typ mit Jackett und Fotokamera. Nirgends ein Mann mit keuchendem Atem oder nervösem Blick.
Die Sicherheitsbügel der Achterbahnwagen senkten sich langsam mit einem Zischen. Tim erinnerte sich daran, dass ihm ein Park-Techniker einmal erzählt hatte, dass dieses Geräusch lediglich ein akustischer Effekt war, um die Spannung und die Aufmerksamkeit der Menschen zu steigern. Rein technisch gesehen war das Geräusch eine reine Spielerei und folglich völlig ohne Bedeutung.
Angestellte des Freizeitparks gingen von Fahrgast zu Fahrgast und überprüften die Bügel auf Stabilität und korrekten Sicherheitsabstand zum Passagier. Während seine Kollegen noch immer scheinbar unschlüssig Löcher in die Luft starrten, entschied sich Tim dazu, den Zug, der sich gleich in Bewegung setzen würde, ebenfalls einmal abzulaufen. Er bahnte sich einen Weg durch die zumeist jugendlichen Menschen, erntete da und dort unfreundliche Blicke und gelangte schließlich zum letzten Wagen, in dem eine recht attraktive Frau mit einem jungen Mädchen saß. Dann lief er die einzelnen Wagen der Reihe nach ab und betrachtete sich alle Insassen sehr genau. Nichts. Keiner der Angeschauten ähnelte dem Dieb auch nur im Entferntesten. Er war gerade am ersten Wagen angekommen, in ihm saß ein junger Vater mit blauer Baseball-Kappe in Begleitung seines etwa 10-jährigen, vor Begeisterung strahlenden Sohnes, als sich der Achterbahn-Zug langsam in Bewegung setzte. Tim stieß geräuschvoll die Luft aus und schüttelte mit dem Kopf. Doch als er ein weiteres Mal seinen Blick auf den Mann im ersten Wagen richtete, stockte ihm der Atem. Denn jetzt erst erkannte Tim, dass das Gesicht des jungen Vaters völlig verschwitzt war und dass der Ausdruck in seinen Augen keine Vorfreude oder Spannung signalisierte, sondern wahre Angst und Panik.
Tim drehte sich blitzschnell herum und rief dem Parkbediensteten in seinem Technikhäuschen etwas zu, doch dieser zuckte nur hilflos mit den Schultern, während bereits der letzte Wagen mit der hübschen Frau die Wartehalle verlassen und sich auf seinem Weg in schwindelerregende Höhen befand.

Roeland nahm die Mütze vom Kopf und schob sie sich unter sein linkes Bein. Der Junge neben ihm strahlte übers ganze Gesicht und hielt sich mit seinen Händen am Schutzbügel fest. Sie befanden sich mitten in der Anfahrt zum höchsten Punkt der Achterbahn und Roeland zitterte wie Espenlaub. Er wusste nicht, ob es die ersten Entzugserscheinungen vom Kokain, die luftige Höhe oder die Tatsache war, dass der Sicherheitsmensch ihn eben so seltsam angesehen hatte. Er versuchte gleichmäßig ein und auszuatmen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Hatte der Typ ihn erkannt? War seine lächerliche Tarnung aufgeflogen? Nur noch wenige Augenblicke, dann würden sie den Scheitelpunkt erreicht haben. Dann würde es im Sturzflug zwei Minuten lang mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h durch geneigte Kurven, Tunnel und drei große Looping-Schleifen gehen, bis die Bahn dann in einem unterirdischen schwarzen Loch binnen zwei Sekunden auf Schrittgeschwindigkeit abgebremst würde. Und dann wäre da wieder der Wartebereich mit den Security-Männern und den Funkgeräten und den unweigerlichen Konsequenzen seines Tuns.

Tim winkte rufend seine Kollegen zu sich heran. Einer von ihnen hielt ein zerknittertes Jackett in seinen Händen
„Ich glaube, wir haben ihn“, sagte Tim. „Er sitzt im ersten Wagen und trägt eine blaue Schirmmütze. Er hat einen Jungen dabei.“
Einer der Männer, ein massiger Riese mit rötlichem Backenbart, rieb sich genüsslich die Pranken.
„Na super! Dann soll das Schwein die Fahrt mal genießen, bevor wir ihn uns krallen. Weglaufen kann er ja zum Glück nicht.“

Der Zug schien oben, am Ende der steilen Auffahrt, für einen magischen Moment lang still zu stehen. Roeland sah nach unten und bemerkte, wie klein alles unter ihm war. Der Wind wehte ihm kühl ins Gesicht und er begann zu frieren. Wie in Zeitlupe kroch der erste Wagen weiter; Zentimeter um Zentimeter und dann senkte sich die Schnauze plötzlich, um bebend und krachend in der Schienenführung in die Tiefe und zugleich in den Abgrund zu rasen.

Roeland stürzte in ein Meer aus Farben und Gefühlen. Er schloss die Augen und hörte den Jungen neben sich lustvoll schreien. Er konnte gar nicht anders, als auch mitzuschreien.
Und dann waren da die Schmerzen. Endlose Schmerzen, während er das Getöse des Zuges vernahm. Immer wieder diese Demütigungen, diese Schläge, diese dunklen Nächte, in denen er zu ihm ins Bett kam; nach Alkohol stinkend, mit groben Händen über den Körper streichend. Und anschließend diese Stille, die nur von seinem unregelmäßigen Schnarchen unterbrochen wurde. Morgen würde er der Nachbarin wieder eine Lügengeschichte erzählen müssen.
„Ich bin aber auch ungeschickt. Habe die Schranktür aufgelassen und bin dann beim Rumdrehen voll mit dem Kopf dagegen. Mein Dieter hat sich ganz rührend um mich gekümmert; hat auch bei meinem Chef angerufen und mich krank gemeldet. Ich bin aber auch ein Dummerchen.“ Und dann wäre da die Flasche im Putzschrank, hinter dem Plastikeimer. Die Flasche, deren Inhalt ihm zumindest für ein, zwei Stunden Wärme und Geborgenheit schenken würde.

Die Schienen vibrieren unter den Füßen. Der Wind umspielt die nackten Beine und er sieht sie dort auf den Gleisen stehen. Allein und weinend. Sie trägt das neue Kleid, das sie sich vor einigen Wochen extra für seinen morgigen Geburtstag gekauft hatte. Seinen 13.Geburtstag, zu dem sie auch Tante Hellen und Onkel Roman eingeladen hatte. Ob er wohl dieses tolle Fahrrad von Quelle bekäme, welches im Katalog so jugendlich und groß aussah? Vater hatte gemeint, das sei viel zu teuer, doch Mama meinte, es würde schon irgendwie gehen.

Und es ist nicht gegangen. Wie immer.
„Na und, was ist schon dabei? Hatte halt Pech. Und dabei lief es die erste Zeit richtig gut; doch dann kam der Ossi mit seiner angeberischen Sonnenbrille, der Arsch. Denkt auch wohl, er sei was Besseres. Na ja, und dann ist es halt nicht mehr so gut gelaufen. Hab´ ihm direkt gesagt, dass er bescheiße; dass er die Karten irgendwie markiert oder ausgetauscht hat, als ich auf´m Klo war, oder so. Wollte mir dann eine ballern aber die anderen sind gleich dazwischen. Ich sag´ dir, die hätten ihn ruhig loslassen können. Ich hätt´ ihm seine schwuchtelige Sonnenbrille in seinen breiten Arsch geschoben.“

Und er ruft und winkt. Wie klein und verlassen sie aussieht. Und ihr Kleid wirkt an ihrem dünnen Körper wie ein Fremdkörper; wie das Kleid einer ganz anderen Frau; so, als hätte sie es sich nur geborgt, um es für einen Tag zu tragen. Sie schaut wie gebannt in eine Richtung. Und dann endlich hört er es auch: dieses Geräusch. Diese Ahnung des herannahenden Zuges. Und sie steht mitten auf den Schienen. Er klettert, nein, springt die steinige Böschung hinunter, stolpert, schlägt sich die Knie auf und schreit.

Und er hört das Schreien des Jungen neben sich wie aus weiter Ferne. Es klingt glücklich und befreiend.

Und dann kann er ihn sehen. Zwei Lichter rasen durch die einsetzende Dämmerung direkt auf seine Mutter zu. Jetzt sind es nur noch höchstens 200 Meter.
„Mama, Mama, Mama !!!“
Er kriegt kaum noch Luft und sie schaut nicht einmal in seine Richtung. Das Bein blutet stark, es tut fürchterlich weh, doch das ist ihm egal. Ihm ist alles egal: das Fahrrad, sein Geburtstag, die Angst, die er letzte Nacht hatte, als er seinen Vater besoffen randalieren hörte. Wenn sie ihn doch nur hören, nur sehen könnte.

Sie war innerlich völlig ruhig und gefasst. Salzige Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und sie dachte an ihn. Seine erwartungsvollen Augen, sein kindliches Gemüt und sein fast schon erwachsenes Einfühlungsvermögen. Und sie schämte sich. Schämte sich, dass sie ihm nie eine gute Mutter sein konnte, nie die Kraft gehabt hatte, ihm eine schöne, sorgenfreie Kindheit zu schenken – ja, sie konnte ihm ja nicht einmal ein beschissenes Fahrrad schenken.
Ihre Beine begannen leicht zu zittern und die Bahn kam direkt auf sie zu. Jetzt war plötzlich ein lautes, durchdringendes Warnsignal zu hören und sie meinte sogar eine Gestalt hinter der Scheibe der Lok zu sehen.

Jetzt konnten es keine 100 Meter mehr sein und er hatte sie fast erreicht. Er brüllte sich die Seele aus dem Leib, doch die Sirene der Lokomotive und der Krach der Waggons waren so laut, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er sich selbst hörte oder ob er sein Rufen nur in seinem Kopf wahrnahm. Noch 50 Meter.

Sie schließt die Augen und denkt an den Brief, den sie ihm unter sein Kopfkissen gelegt hatte. Er würde sie verstehen; er musste sie verstehen. Wenn einer nachvollziehen konnte, warum sie das hier tat, dann doch wohl er. Er hatte doch alles mitbekommen. Die ganzen Jahre. Sie spürt auf einmal eine Welle der Liebe durch ihren Körper rasen und sieht sein kleines, junges Gesicht direkt vor sich. Ja, es würde ihm besser gehen, bei Tante Hellen und Onkel Roman. Und er würde ohne Schläge und ohne Schmerzen nachts ins Bett gehen können und dann wäre sie ganz nah bei ihm.
Noch eine Sekunde. Der Signalton droht ihre Trommelfelle zu zerfetzen. Die brauch´ ich jetzt auch nicht mehr, denkt sie und erkennt das Gesicht des Lokführers. Er sieht aus wie Dieter, nur dass er irgendwie ängstlich und verstört wirkt. Ihr Mann wirkte nie ängstlich und verstört. Eher wütend und gefühlskalt.
„Ach, Dieter“, murmelt sie leise.

Und dann reißt sie eine unglaubliche Kraft, eine fast überirdische Macht davon. Sie spürt weder Schmerzen noch Angst und als sie wenige Augenblicke später die Augen öffnet, liegt sie, eingehüllt von Krach und Staub, auf den Steinen und sieht den Zug keinen Meter von sich entfernt vorbeidonnern.

Und er strahlt. Und ein Looping jagt den anderen. Und er tastet nach seiner Mütze, die er sich unter das Bein geschoben hat, damit sie ihm nicht davonfliegt. Und er weiß nicht, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen ist und er denkt an seine Mutter, die jetzt, könnte sie ihn nur sehen, sicherlich mächtig stolz auf ihn gewesen wäre. Und dann geht ein Rucken durch die Wagen und die Räder quietschen und der dunkle Tunnel kommt in Sicht. Und schon fährt die Bahn ganz, ganz langsam durch die Finsternis und alle Leute schreien und grölen und der Klang der glücklichen Menschen hallt von allen Seiten wieder.

„Sie kommen!“
Tims Haltung versteifte sich, als er die Achterbahn mit den lachenden und sichtlich vergnügten Fahrgästen um die Ecke kommen sah. Denn er hatte es sofort gesehen und konnte seinen Augen kaum trauen. Der Mann, der noch vor drei Minuten neben dem Jungen gesessen hatte, war verschwunden. Und dann hielt der Wagen mit dem kleinen Knirps direkt vor ihm an. Seine Kollegen starrten ebenfalls ungläubig und verwundert, als sich die Sicherheitsbügel zischend in die Höhe bewegten und der Junge mit der blauen Sportkappe grinsend und mit einem leuchtenden Feuer in den Augen geschickt aus seinem Sitz kletterte.
„Habt ihr das gesehen?“, fragte er. „Ich bin ganz alleine Achterbahn gefahren und es war gar nicht schlimm. Das muss ich meiner Mami erzählen.“

 

Hallo Artsneurosia!

Tja, ich sage es gleich, ich habe deine Geschichte nicht verstanden. Besondere Probleme machen mir dabei die Rückblenden, die dein Protagonist während der Achterbahnfahrt erlebt. Sind es eigentlich wirklich welche? Ich konnte dem Text dort nicht folgen.
Probleme machten mir auch die vielen Perspektivenwechsel.
Und wieso ist der Dieb am Ende verschwunden? Ich denke, der Text wäre besser in "Seltsam" aufgehoben.

Oh, und das Wörtchen "Ende" hat am Ende einer Kurzgeschichte nichts zu suchen, denn das widerspricht den Kriterien einer Kurzgeschichte - meine Meinung.

Weiteres spare ich mir, da du ja die Angewohnheit zu haben scheinst, auf Kommentare meistens sowieso nicht einzugehen. (Kritiker fühlen sich nicht gerade ernst genommen, wenn die Autoren einerseits nicht antworten, andererseits Fehler nicht korrigieren.)

Grüße
Chris

 

Hallo Chris Stone

Hallo,
es tut mir Leid, dass ich den Eindruck erwecke, nicht auf Kritiken zu antworten. Habe das Wörtchen "ENDE" gestrichen. Wusste nicht, dass man am Ende einer KG dieses Wort nicht schreibt.

Habe jedoch, um Dir zu widersprechen, auf einige Anregungen reagiert, besuche diese Seite jedoch wahrscheinlich zu unregelmäßig, um wirklich aktiv, zeitnah und aktuell zu erscheinen. Nochmals "Sorry", wenn ich den Eindruck erweckt habe. Veröffentliche meine Geschichten "HIER" sehr gerne und habe schon viele Kritiken erhalten, die mich sowohl gefreut als auch in der Sache weitergebracht haben.
Grüße, Artsneurosia

 

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