Die After-Show-Party
Der Schuppen war zwar laut und stickig gewesen, doch sie hatte bekommen, was sie wollte. Sie, Nadine, war Ende zwanzig und die vielen Wochenenden, die sie in der Altstadt gefeiert hatte, hatten längst begonnen, sich erbarmungslos in ihre Gesichtszüge einzugraben. Was sie wollte saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Jed, er war Anfang zwanzig, gutaussehend und so weit abgefüllt, dass er bei ihr nicht so genau hinsah, aber trotzdem imstande sein könnte, ihr länger als zehn Minuten den Abend zu versüßen. Nadines Alkoholpegel hingegen war mehr als bedenklich, deshalb fuhr sie auf einsamen Landstraßen. Seit Jahren war es dieselbe Route und war noch nie von der Polizei angehalten worden.
Das Radio dudelte gerade eine ältere Nummer von Eels und die Abstände, in denen ihr Beifahrer die Augen öffnete wurden kürzer und kürzer. Offensichtlich hatte sie den guten Jed doch etwas überschätzt.
Nadine begann, an seinem Hosenstall herumzunesteln, um ihn in die Realität zurückzuholen. Von dem Effekt war sie selbst überrascht.
Jed schlug die Augen auf, sofort wurden sie tellergroß und sein Mund zuckte, als wollte er sich öffnen, habe aber vergessen wie das geht.
Er starrte jedoch nicht Nadine, sondern die Straße an, und Nadine wendete ihren Blick gerade weit genug, um das riesige Scheinwerferpaar zu sehen, das auf sie zuraste; dann riss sie mit dem letzten Rest von klarem Verstand, der ihr geblieben war, das Steuer herum.
Sie schlug die Augen auf. Vor sich sah sie, durch die gesprungene Scheibe hindurch, direkt auf die Rinde eines mächtigen alten Baumes. Die Front ihres Wagens war zusammengedrückt und darüber, dass sie angeschnallt war, wunderte sie sich selber ein bisschen.
Jed hingegen hatte weniger Glück gehabt. Er lag auf dem, was von Nadines Motorhaube noch übrig war. Offensichtlich war er herausgeschleudert worden und an dem Baum wieder abgeprallt. Sein Kopf ging nun übergangslos in den Hals über und sein gesamtes Gesicht war mit Glasscherben gespickt. Von Jed hatte sie nicht mehr viel zu erwarten.
Nun warf sie einen Blick in den Rückspiegel und was sie sah verschlug ihr den Atem.
Das Scheinwerferpaar, das ihnen entgegengekommen war, hatte zu einem riesigen LKW gehört. Die beiden Anhänger lagen quer auf der Straße und waren umgekippt, so, dass das Führerhaus direkt in ihre Richtung zeigte. Sie hatte das Gefühl, die toten Scheinwerfer würden vorwurfsvoll zu ihr hinüber blicken.
Sie stellte außerdem fest, dass sie mehr als hundertfünfzig Meter gerollt war, bis ihr Wagen seine Amokfahrt an dem Baum beendet hatte. Als sie die wüsten Schlangenlinien sah, die sie durch das Feld gezogen hatte, war ihr das sogar vor ihr selbst ein bisschen peinlich. An Jed verschwendete sie keinen Gedanken mehr.
Nadine stieg aus und ging auf den umgestürzten Lastwagen zu. Sie versuchte, möglichst nicht zu schwanken. Die Dunkelheit schien immer dichter zu werden, die Silhouette des Lastwagens zeichnete sich von Sekunde zu Sekunde undeutlicher gegen den Nachthimmel ab.
Jetzt wo der Schock langsam aus ihr wich, kam der Alkoholrausch zurück. Sie hatte Angst, nur war die Angst gedämpft; es war, als würde sie vor einer Gummizelle stehen und einen Irren darin toben hören, aber wie aus großer Distanz, furchterregend aber so leise, dass man problemlos an etwas anderes denken konnte. Ohne es zu merken begann sie leise zu summen.
Das Führerhaus war leer. Es war unbeschädigt und nicht ein Tropfen Blut war darin vergossen worden. Die Tür stand offen, doch Nadine konnte nirgends einen Fahrer ausmachen, der etwa den Schaden begutachtete oder die Polizei rief. Dann fielen ihr die Spuren auf, die sich durch das Feld schlängelten, das sich an die andere Straßenseite anschloss.
Der Fahrer war einfach weggelaufen. Vielleicht hatte er einen Schock erlitten und wusste nicht, was er tat. Vielleicht kannte er die Gegend und wusste, wo er Hilfe suchen konnte.
Vielleicht war er auf der Flucht.
Bei diesem Gedanken begann Nadines ohnehin überreizter Denkapparat sich in paranoide Wahnvorstellungen zu verrennen. Was, wenn er zurückkommt und mich holt? Was, wenn er sich rächen will für den Verlust seiner Ladung?
Sie fing an zu zittern und die Stimme des Irren in der Gummizelle ihres Alkoholrausches wurde lauter und lauter.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wollte den Lastwagenfahrer nicht suchen, bevor sie nicht wusste, dass er ein ganz normaler Lastwagenfahrer mit einer ganz normalen Ladung war. Dann fand sie ihre eigene Vorstellung lächerlich, und beschloss, ihm zu folgen.
Die Spuren durch das Feld wiesen die gleichen diffusen Schlangenlinien auf, wie die, sie mit ihrem Wagen durch das gegenüberliegende Feld gezogen hatte. Offensichtlich war der Fahrer doch nicht so glimpflich davon gekommen, wie es den Anschein gehabt hatte. Möglicherweise stand er ja ebenfalls unter Alkoholeinfluss. Dieser Gedanke entlockte Nadine ein hysterisches kichern und sie fühlte sich ihrer Entscheidung bestätigt, den Spuren gefolgt zu sein. Sie begann, nach dem Fahrer zu rufen und orientierte sich am niedergedrückten Gras.
Plötzlich hörten die Spuren mitten im freien Feld auf, und Nadines Rufe brachen abrupt ab.
Im ersten Moment dachte Nadine, sie müsste verrückt werden. Sie war gerade dabei, ihrem Adrenalin freien Lauf zu lassen, als sie die Reifenspuren sah, die von dort weitergingen, wo die Fußspuren aufgehört hatten. Sie beruhigte sich ein bisschen und atmete tief durch.
Wieso sollte gerade auf diesem Feld der Wagen eines Lastwagenfahrers von gottweißwoher herumstehen, und wieso hätte der Fahrer sich nach einem Unfall in diesen Wagen setzten und einfach wegfahren sollen? Vielleicht hatte er ja jemanden angerufen, damit er abgeholt wird.
Trotzdem schien er es sehr eilig gehabt zu haben, denn sonst hätte er doch auch auf der Straße warten können.
Wieder wanderten ihre Gedanken zurück zu der Ladung, die der LKW führte. Vielleicht hatte er irgendetwas Giftiges transportiert und hatte sich deshalb so beeilen müssen. Vielleicht war er in illegale Machenschaften verwickelt gewesen und hatte gar nicht vor, zurückzukommen. Nadine entschied sich, der Situation nicht gewachsen zu sein und fingerte in ihren Hosentaschen nach ihrem Handy. Darauf hätte sie viel früher kommen müssen!
Sehr viel früher sogar, denn sie hatte ihr Handy im Auto liegen lassen. Inzwischen wurde sie völlig von dem Gedanken beherrscht, Hilfe zu holen, sich retten zu lassen aus diesem Alptraum, den sie nicht verstand und nicht verstehen wollte. Sie rannte mit langen Schritten zurück zur Straße. Von dort aus versuchte sie in der Dunkelheit ihren Wangen ausfindig zu machen. Sie sah den Baum, vor den sie gefahren war und den dunklen Schatten davor, fast sofort. Sie sah ihre Rettung in erreichbarer Nähe.
Dann fiel ihr Blick nochmals auf die zwei umgekippten Anhänger des LKW. Ihre Neugier war ein Faktor, den sie in ihre Überlegungen nicht mit einbezogen hatte. Vielleicht war ihr die Idee, das Handy zu holen, auch nur gekommen, damit sie wieder an dem Lastwagen vorbei gehen musste. Vorbei gehen und einen kleinen Blick hineinwerfen.
Sie stieg erneut auf das Führerhäuschen des LKW und öffnete die Fahrertür.
Im Handschuhfach fand sie eine Taschenlampe und konnte einen kleinen Triumphschrei nicht unterdrücken. Ihre Freude wurde ein wenig gedämpft, als sie feststellte, dass die Batterien schwach waren und der Lichtkegel der Lampe nicht gerade vertrauenerweckend aussah.
Sie sprang wieder auf die Straße. Am Rande bemerkte sie, dass ihr Lieblings-Party-Outfit zerrissen und ölverschmiert war, da sie sich an der Unterseite des Führerhauses hatte emporhangeln müssen, und fluchte innerlich.
Die Seile, die die Plastikplane des Anhängers fixierte waren festgezurrt und gut verknotet. Sie hatte sich zwei Fingernägel abgebrochen, ehe den Knoten endlich gelöst hatte.
Schwitzend stand sie hinter dem zweiten Anhänger und ermahnte sich innerlich zur Ruhe.
Als sie noch einmal zurücksah, fiel ihr auf, dass sich die Silhouette ihres zerstörten Wangens irgendwie verändert hatte. Bewegte sich da nicht irgendetwas?
Dann erkannte sie plötzlich, dass die Bewegung von etwas herrührte, das hinter dem Baum und ihrem Auto stand. Langsam lösten sich die Umrisse eines Abschleppwagens aus der Dunkelheit. Sie erkannte ganz deutlich den Hebearm auf der Ladefläche und den schweren Metallhaken, der daran angebracht war.
Das sollte alles sein? Keine Polizei, kein Krankenwagen, nur ein Abschleppwagen.
Zwei dunkle Gestalten stiegen aus. Sie schienen es weder besonders eilig zu haben, noch machten sie den Eindruck irgendwem zur Hilfe kommen zu wollten. Einer von ihnen steckte sich eine Zigarette an. Panik stieg in ihr auf. Was, wenn einer de beiden der Lastwagenfahrer war? Wieso die ganze Heimlichtuerei? Sie hatte den Fehler gemacht. Sie war betrunken Auto gefahren und dem LKW nicht ausgewichen.
Nadine kam zu dem Schluss, dass sie sich verstecken musste. Sie hob die Plane des LKW an und schlüpfte darunter durch. Sicher würden die Männer sehen, dass das Seil für die Abdeckplane gelöst worden war, aber vielleicht konnte sie sich so verstecken, dass die beiden denken würden, sie wäre wieder herausgekommen und den Fußspuren gefolgt. Ihr Herz raste und die völlige Dunkelheit, die in Inneren des Anhängers herrschte war nicht dazu angetan ihre Panik zu lindern.
Sie versuchte abzuschätzen, ob das schwache Licht der Taschenlampe von außen zu sehen war und entschied sich dafür, lieber zu sterben, als eine Sekunde länger im Dunkeln zu sitzen.
Der Kegel der Taschenlampe offenbarte den Inhalt des Anhängers nur langsam, aber was sie sah war ohnehin zu furchtbar, als dass sie es auf einen Blick nicht ertragen hätte.
Der Anhänger war voll mit Käfigen in verschiedensten Größen und Formen, die so fixiert worden waren, dass sie beim Umkippen des Anhängers nicht durcheinander gepurzelt waren. Diesem, mehr oder weniger glücken, Umstand war es wohl zu verdanken, dass der Inhalt der meisten Käfige noch am Leben war.
Nadine stand inmitten des Anhängers, ihre Blicke zuckten wir hin und her, ihr Mund öffnete und schloss sich, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte.
In einem Käfig saß ein Affe, der einen durchsichtigen Behälter umklammert hielt, von dem aus Leitungen in ein grob gehauenes Loch oben am Schädel des Affen verliefen. Der Behälter war mit einer zähflüssigen, durchsichtigen Masse gefüllt, in der ein menschliches Gehirn schwamm - über und über mit Elektroden und Kabel besetzt.
Der Ausdruck im Gesicht des Affen spiegelte genau dasselbe fassungslose Entsetzen wieder, wie es auch in Nadines Gesicht zu lesen war. Er bewegte sich weder, noch gab er einen Laut von sich.
Im Käfig daneben lief eine Katze auf und ab. Jedenfalls musste es einmal eine Katze gewesen sein. An ihrem Rücken waren, grob gestichelt, zwei weitere Beinpaare angenäht, die ungleichmäßig zuckten, so als wüsste die Katze nichts damit anzufangen.
In anderen Käfigen hingegen saßen Menschen. Sie alle waren auf die eine oder andere Art verändert und allen war ein passives Verhalten zu Eigen. Sie taten nichts und sie sagten nichts. Und doch spiegelten sämtliche Gesichter, in die Nadine sah, ungeheures Leid und Scham über das, was sie geworden waren, wieder.
Manche von ihnen hatten Tierextremitäten angenäht bekommen, andere wedelten vor ihren Augen mit blutigen Armstümpfen herum, ohne wirklich zu begreifen, dass ihnen etwas fehlte.
Manche schnupperten in der Luft herum oder bewegten sich unnatürlich für einen Menschen. An Ihren Schädeln verliefen grob genähte Narben, zwischen manchen pulsierte in unregelmäßigen Abständen Blut.
Nadine stand in Mitten von alledem, ohne ihr Blicke von diesen Auswüchsen menschlicher Perversion abwenden zu können. Sie war völlig verloren im Sog des Wahnsinns und gerade dabei unter zu gehen.
Aus weiter Ferne hörte sie Gesprächsfetzen, doch sie drangen nicht bis in ihr Bewusstsein vor.
Sie war nur noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt; ihr Kopf fühlte sich an wie ein Bienenstock.
Irgendwann konnte ihr Verstand keine Worte mehr formen außer „raushierraushierraushierraushier“, doch ihr Körper war unfähig dieser Anweisung zu gehorchen.
Auf einmal ging eine Veränderung mit den Kreaturen in den Käfigen vor. Sie wirken plötzlich nicht mehr nur ängstlich und verstört¬; Panik begann sich in ihren Reihen breit zu machen.
Sie begannen an den Käfigen zu rütteln, zu schreien, ihre Augen traten sämtlich fast aus den Höhlen. Der Lärm wurde unerträglich, die Käfigwesen hämmerten nun besinnungslos und in Todesangst vor die Stahlstreben, die sie sowieso niemals zerbrechen würden, schlugen ihre Köpfe vor die Wände, kreischten und kreischten.
Wie in Zeitlupe dreht Nadine sich um. Zwei Männer hatten die Plane gehoben und sahen lächelnd und mit wahnsinnigem Glanz in den Augen zu Nadine hinüber. Dann wandte seinen Blick dem Käfig, direkt neben Nadine zu, in dem eine tote Ratte mit einem pervers großen Schädel lag, die sich nicht mehr rührte.
Dann sagte er zu Nadine während er weiter lächelnd die Ratte anstarrte:
„Na, willst du mitfahren, Baby? Es ist gerade ein Platz frei geworden.“
Danke fürs lesen!