Die Alten sterben leise
Transkript eines Zeitzeugenberichts der Krise 2020/21 - angefertigt von Claudia Möller im SoSe 2080
Interviewpartner: Sven Möller, Jahrgang 2002
Als zum Jahresanfang 2020 - ich war damals gerade 18 geworden - die ersten Meldungen von einem neuen Virus aus China die Runde machten, nahm das niemand ernst, vor allem nicht wir jungen Leute, wir hatten ja ganz andere Dinge im Kopf.
Ich war damals frisch mit Anna zusammengekommen und wir planten für das Frühjahr einen Tripp in die Türkei. Erst als klar wurde, dass der Virus unsere Reiseplanung durchkreuzen würde, hockte ich mich eines Abends an meinen Rechner und klickte mich durchs Internet.
In einem Podcast erfuhr ich, dass Kinder und alle jenseits der 20 selten Symptome zeigen würden, allerdings andere infizieren konnten. Schwere Verläufe gab es hauptsächlich bei Jugendlichen, ungefähr in meinem Alter.
Die Politik nannte das bald P+5 - was soviel wie Pubertät + 5 Jahre bedeuten sollte. Da wurde dann schnell "die P5er" draus. Die Lage verschärfte sich bald, erst hatten wir 10, dann bald 100 Tote P5er in Deutschland. Erste Maßnahmen wurden ergriffen, Lockdown, Tests, Kontaktnachverfolgung usw.
Das berührte uns alles erst nicht so stark, wir hatten ja WhatsApp - sowas wie Snip heute - da konnten wir Video-Calls machen und daneben zockte ich viel mit meinen Kumpels. Unser Urlaub fiel leider ins Wasser. Ich wollte eigentlich an die Uni, aber es war total unklar, wie es weitergehen sollte.
Wir dachten im Sommer, das Schlimmste wäre vorbei.
Aber dann kam der Herbst.
Jetzt maß man die Todeszahlen nicht mehr in Hundert sondern in Tausend. Der Impfstoff war nicht in Sicht und alle Maßnahmen der Politik schienen nicht zu helfen - war ja auch kein Wunder: Schulen und Betriebe blieben offen, der Rubel musste schließlich rollen. Es wurden immer abstrusere Maßnahmen beschlossen, aber die Hauptinfektionsketten ignorierte man fleißig.
Es entwickelte sich immer mehr eine Spaltung, die P5er forderten von der Gesellschaft mehr Solidarität, aber alle anderen wollten sich nicht weiter einschränken.
Ich stritt mich fast täglich mit meinem Vater. Er war der Ansicht die P5er sollten sich mit der Situation arrangieren. Außerdem kamen die Infektionen ja sowieso nur bei Leuten vor, die sich nicht an die Beschränkungen hielten.
Dann erwischte es Anna. Sie starb nach drei Wochen auf intensiv.
Kein Mensch weiß, wie, wo oder wann sie sich angesteckt hatte. Aus Angst vor dem Virus hatte sie fast jeglichen Kontakt mit der Außenwelt gemieden - nur das Nötigste und immer mit Maske und Abstand.
Ich schloss mich einer Gruppe von Leuten an - alles P5er - und wir versuchten die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Hin zu besseren Maßnahmen. Wir wurden belächelt - wir sollten das mal schön der Politik überlassen. Man nahm uns nicht ernst.
An dem Tag als die 10000er Marke an Todesopfern überschritten wurde, eskalierte die Lage. Eine Gruppe von P5er demonstrierte hartnäckig vor dem Bundestag. Am folgenden Abend kam es zu spotanen Demos im ganzen Land. P5er zogen durch die Straßen und machten ihrer Wut Luft. Ich war in Stuttgart mit dabei. Wir zogen vor den Landtag und skandierten. Als die Polizei anrückte, verpissten sich die meisten - ich eingeschlossen.
Der Virus war für die Politik jetzt zweitrangig. Wichtiger waren Ruhe und Ordnung. Die Infektions- und Todeszahlen interessierten sich aber nicht dafür.
P5er starben weiter. Wir waren alle sauer und wütend. Die Stimmung zu Hause kippte - ich packte meinen Kram und zog aus - naja, ich verpisste mich einfach und wusste nicht wohin.
Ein Kumpel hatte mir die Nummer von einem Aktivisten gegeben, bei dem meldete ich mich und er besorgte mir einen Schlafplatz in einer Studenten-WG. So wie mir ging es noch anderen und wir kamen in WGs unter oder bei P5ern, die schon eine eigene Wohnung hatten.
Wir machten fast jeden Tag Aktionen. Die Maßnahmen der Politik richteten sich hauptsächlich gegen uns und nicht gegen den Virus.
Kurz nach Weihnachten gab es den traurigen Rekord mit beinahe 1000 Todesfällen an einem Tag. Die breite Öffentlichkeit registrierte diese Zahl kaum.
Die Impfbereitschaft sank, die Leute trugen ihre Masken nicht richtig und viele Firmen hatten Home Office wieder gestrichen. Niemand scherte sich um uns. Ich war so wütend und wollte irgendwas tun.
Durch den Schlafplatz in der WG war ich immer näher an die Aktivisten-Szene gekommen. Wir debattieren viele Nächte durch. Einige sprachen davon, dass wir uns mit Gewalt wehren sollten, aber die meisten von uns lehnten das ab. Die zündente Idee kam dann schließlich von Sören. Ich bin heute noch stolz darauf, dass ich diese Anfänge habe miterleben dürfen.
Unter dem Motto "Wir machen Lockdown" taten wir das, was die Politik sich nicht traute. Wir blockierten Werkseingänge und Lehrerparkplätze. Wir sperrten den Hauptbahnhof in Stuttgart und auch bei den S-Bahnen sorgten wir dafür, dass niemand einstieg. Wir sperrten die Hauptverkehrsadern, sorgten aber immer für Rettungsgassen. Alles friedlich. Du hättest dabei sein müssten, diese Dynamik, diese Kreativität. Immer mehr P5er schlossen sich uns an und irgendwann sprang das Ganze auf andere Städte über. Wir waren der Polizei immer einen Schritt voraus. Es war wie einstudiert. Ein Tanz, den wir am Ende immer gewonnen.
Viele Leute gaben irgendwann auf zur Arbeit kommen zu wollen. Man kam ja sowieso nicht hin oder rein. Die Parkkrallen an Lehrerautos war meine Idee. Damit legten wir den Schulbetrieb für ganze drei Tage lahm. Es war wunderbar.
Die Politik schäumte, aber was wollten sie machen, wir waren einfach zu viele. Je mehr Städte auf diese Art bestreikt wurden, desto weniger konnten sie auch Polizeikräfte zusammenziehen - es war ein organisatorisches Fiasko für die Sicherheitspolitik. Es hagelte Rücktritte. Manche sprachen davon, die Bundeswehr einzusetzen.
Es gab mehrere Versuche zu vermitteln, aber wir hatten keine Organisation, keine Hierarchie. Zwar war Sören zu einer Art Leitfigur geworden, aber die Sache hatte sich verselbstständigt. Er sprach viel mit den Medien, machte unsere Sache publik - jetzt mussten sie uns zuhören.
Trotzdem war die Situation verfahren. Dann kam der Impfstoff und nach einem halben Jahr waren alle P5er durchgeimpft. Neun Millionen.
Ich weiß bis heute nicht, ob unsere improvisierter Lockdown geholfen hätte, aber ich bin froh drum, dass ich mitgemacht habe. Auch trotz der Strafen, die mir aufgebrummt wurden.
Mich hat in den vergangenen Jahren immer wieder der gleiche Albtraum heimgesucht: Eine Pandemie rollt an und niemanden interessiert was mit mir passiert. Man lässt mich einfach allein und hilflos sterben.