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Thema des Monats Die Argonauten der Zeit

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01.06.2005
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Die Argonauten der Zeit

London war wirklich eine Reise wert.
Diese Stadt ist ein verdammter Schmelztiegel, dachte Udo. Die Temperatur stimmt zumindest.
Er war dieses Jahr schon in Singapur und in San Francisco gewesen, aber in jenen Städten hatten die Leute auch schon von einem Gerät namens Klimaanlage gehört. Hier in London bedeutete Klimatisierung, dass jemand ein Fenster öffnete, um noch mehr klebrige, asphaltartige Sommerluft in den Raum zu lassen. Udo hatte den Eindruck, seine ganze Körpermasse allmählich in das Polster des Drehstuhls zu schwitzen.
Sein Gegenüber - sein Geschäftspartner - redete bereits eine Stunde über den Aufbau eines Computernetzwerkes. Anscheinend stammten seine Vorfahren aus Indien, daher schien ihm die Hitze nichts auszumachen.
Udo lockerte seine Krawatte und lehnte sich zurück. Wieder schweiften seine Gedanken ab.
Ich könnte jetzt zuhause in Dortmund sitzen und an einem Roman weiterschreiben, dachte er. Oder an einer neuen Kurzgeschichte. Eine neue Idee. Eine völlig neue Idee, die vor mir noch niemand hatte, das wäre es doch.
Vorerst lag aber eine weitere Stunde "Consulting" vor ihm. Der Inder redete. Udo schwitze.

Noch drei Stunden Zeit, bis der Flieger ging. Udo schlenderte durch Londons Innenstadt.
Auf den größeren Straßen wälzte sich der Verkehr zäh voran, nur unwesentlich flüssiger als der von der Hitze erweichte Asphalt darunter. Ein Gemisch der unterschiedlichsten Menschen drängte sich auf den Bürgersteigen.
Biodiversität, dachte Udo. So müssen sich die Leute in den Dreißigern die Venus vorgestellt haben.
Die Hauptstraßen waren gesäumt von Modegeschäften, hier gab es, was die Touristen erwarteten: Turnschuhe, Lederstiefel im Kolonialstil, Jacken mit dem Union-Jack, gebatikte Kopftücher. Dazwischen Krimskrams: Messingbuddahs, Wasserpfeifen, T-Shirts mit Logos amerikanischer Rockbands, vermutlich Raubdrucke aus Asien.
Udo bog in eine Seitenstraße ein. Sein Blick fiel im Vorbeigehen auf das Straßenschild, es war völlig verrostet und herabgebogen, als hätte jemand Klimmzüge daran versucht.
Na, das sieht doch schon interessanter aus, dachte er.
"Cameron's Pulp Emporium", kündigte ein Schild an. Er betrat den kleinen Laden, dessen Auslage mit bunten Comics und Taschenbüchern vollgestopft war.
Langsam schritt er durch den kühlen Verkaufsraum. Es roch nach Mottenkugeln und altem Papier. Udo war enttäuscht. Hier gab es nur den üblichen Mist, Warhammer, Battle Tech. All die trivialen Endlosserien, langweilige Space-Operas, kein Anspruch, keine Literatur. Star Trek: Nach einer Staffel eingestellt, weil niemand ein Raumschiff einfach nur im All herumfliegen sehen wollte. Angeödet wühlte er in einem Stapel "Charmed"-Comics, ließ es dann bleiben und beschloss, statt dessen irgendwo noch einen Cappuccino zu trinken.
"Suchst du etwas Bestimmtes?" Udo fuhr zusammen. Der Mann stand plötzlich vor ihm, als er sich umwandte.
"Gott, hast du mich erschreckt!" Er betrachtete den Typen genauer. Etwa sechzig Jahre alt, lange, splissige Haare, die auf die Schultern hingen. Mager, eine große, runde Brille.
Der sieht aus wie Arthur C. Clarke, der sich als Ozzy Osborne verkleiden will, schoss es Udo durch den Kopf.
Laut sagte er: "Etwas Anspruchsvolleres, nicht diesen Trash." Er nickte in Richtung der Comics.
Der Alte kicherte. "Ich versteh schon. Aber der Kram verkauft sich besser. Die guten Sachen sind im Keller."
Er wandte sich ab und ging durch einen Plastikperlenvorhang hinter dem Kassentresen.
"Komm mit!", hörte Udo ihn rufen. Nach kurzem Zögern folgte er dem Mann.

Sie gingen eine Treppe hinunter. Holzkisten mit Taschenbüchern standen hier vor unverputzten Ziegelwänden, an der Decke blühte schwarzer Schimmel. Udo trat vor einen Kasten und überflog die Titel.
"Nicht das Zeug, das sind die Erotik-Schinken!", lachte der Ladeninhaber. "Hier!"
Er schob einen lebensgroßen Pappaufsteller von Lucy Lawless zur Seite. Dahinter schien ein weiterer Raum zu sein. Der Alte ging durch den Durchgang und betätigte einen Schalter. Udo folgte ihm und blinzelte als mit zögerndem Zucken eine Leuchtstoffröhre ihren Betrieb aufnahm.
Der Raum war klein, und Udo konnte nicht aufrecht darin stehen. Er kam sich vor wie in einem Bunker, als wären sie hier hunderte von Metern unter der Oberfläche, nicht nur wenige Schritte vom Straßenlärm Londons entfernt. Hier standen keine offenen Kästen, sondern Glasvitrinen mit wenigen Büchern, so aufgestellt, dass man die Titel betrachten konnte.
Strugatzki, las Udo, Laswitz, Brown, Moore, Edison, Lovecraft, Shelley, Doyle, und ein paar andere Namen, die er nie gehört hatte: Golotz, Heuer, Brandman, Rayleigh.
Es schienen alles Originale - oder zumindest sehr alte Ausgaben - zu sein. Er sah ledergebundene Bücher mit Goldprägungen, bräunliche Hefte deren Titel vom Hochdruck tief ins Papier gegraben worden waren und völlig in wässriges Blau verblichene Farbbilder. Udo betrachtete eine Erstausgabe von Brunners "The Jagged Orbit". Der Protagonist stellte sich am Schluss als von Aliens ferngelenkt heraus - eines von Brunners schlechtesten Werken.
"Was kostet der Laswitz?", wandte er sich an den Verkäufer und wies auf eine Ausgabe von "Homchen".
Der Alte grinste, tippte an seine Brille und nannte den Preis.
Udo schüttelte den Kopf. "Soviel habe ich nicht mehr dabei."
"Wieviel hast du denn?"
Udo sagte ihm einen Betrag, nicht sein ganzes übriges Geld, er würde noch etwas für das Taxi brauchen.
Der Verkäufer hob den Zeigefinger und drehte sich in eine Ecke. "Warte! Da hab ich etwas ... wo ist es denn ..." Er öffnete einen Schubkasten unter einer Vitrine und entnahm ihr ein dünnes Heft, das er Udo reichte. "Hier! Genau deine Preislage."
Etwas misstrauisch betrachtete Udo das Heft. Es hatte etwa die Größe eines kleinen Taschenbuches und war mit verrosteten Klammern geheftet. Das Papier wirkte spröde und war gelblich verblichen mit stockigen Flecken am unteren Rand. Von dem Autor hatte er noch nie gehört.
"Herbert G. Wells: The Chronic Argonauts", las er vor. Er runzelte die Stirn.
Der Verkäufer lachte trocken. "Ein großes Talent, das Buch ist von 1888! Leider ist der Autor schon mit 27 Jahren an einer Lungenembolie gestorben. Ein großer Verlust." Der Alte räuspert sich. "Ich hab mal ein Drehbuch danach geschrieben, über einen Killerroboter, der aus der Zukunft zurückkommt, um den zukünftigen Rebellenführer zu töten."
"Und? Was ist daraus geworden?", fragte Udo.
Der Verkäufer zuckt mit den Schultern. "Gar nichts. Wollte keiner lesen. Danach bin ich aus Hollywood hierher gekommen und hab den Laden aufgemacht. War wohl besser so. Willst du das Buch?"
"Ich weiß nicht. Ich habe nie von dem Autor gehört."
Der Alte verdrehte die Augen. "Natürlich nicht. Außer dieser Geschichte ist nie etwas von ihm veröffentlicht worden. Also gut, der alte James gibt es dir zum halben Preis. Zufrieden?"
Mit dem Buch in der Aktentasche und einem unbestimmten Gefühl betrogen worden zu sein fuhr Udo zum Flughafen.

Als die Stewardess das Tablett abräumte - "Zu Ihrer Zufriedenheit?" - "Sehr!" (gesalzene Butter und Orangenmarmelade, Udo schüttelte sich bei der Erinnerung) - fiel ihm das Heft wieder ein. Er begann zu lesen.
Zwanzig Minuten später ließ er das Buch sinken und starrte aus dem Fenster. Vor seinem inneren Auge begann sich eine Handlung abzuzeichnen. Er steckte das Heft ein und klappte hastig sein Notebook auf. Rasch begann er zu tippen, es floss alles ganz von selbst:
"Der Zeitreisende, so will ich ihn der Bequemlichkeit halber nennen, hatte eine Überraschung für uns angekündigt. Seine grauen Augen von lebhaften Fältchen umrahmt und sein sonst eher blasses Gesicht rosig, lief er vor uns auf und ab. Wir saßen, unsere Drinks vor uns, in bequemen Patentstühlen nach seinem Entwurf ..."
Eine neue Idee! Udo konnte es kaum fassen.

Ein Jahr später erschien das Buch.
Zwei Jahre später war Udo reich, sehr reich.
Der Titel des Buches war: "Die Zeitmaschine".

 

krilliam Bolderson schrieb:
Habe ich das richtig verstanden, oder wäre uns der Geschichte nach nicht nur Terminator und Star Treck, sondern auch Titanic erspart geblieben?
Sehr schön Krilliam! Das ist ein Aspekt, der mir noch gar nicht aufgefallen war: Wie schön wäre eine Welt ohne diesen unerträglichen Schmalzfilm?

Danke fürs Lesen,
Naut

 

Hallo Naut,

deine Geschichte ist ein schönes Beispiel für Fokussierung, die alltägliche Situation nähert sich immer mehr dem erzählerischen Schwerpunkt. Viel passiert nicht gerade, vor allem am Anfang, aber solche punktgenauen Beschreibungen, wie die Folgende, entschädigen den Leser:

„Hier in London bedeutete Klimatisierung, dass jemand ein Fenster öffnete, um noch mehr klebrige, asphaltartige Sommerluft in den Raum zu lassen. Udo hatte den Eindruck, seine ganze Körpermasse allmählich in das Polster des Drehstuhls zu schwitzen“

In den Buchladen gehe ich dann gerne mit hinein, für einen Bücherfreund ist stöberndes Entdecken Action genug und der Schluss ist doch eine nette Idee. Sicher, du hast schon `Größeres´ geschrieben, aber der Text war eine schöne SF-Abwechslung.

Hier bin ich, wegen der Absatzgestaltung, hängen geblieben:

„Noch drei Stunden Zeit, bis der Flieger ging. Udo schlenderte durch Londons Innenstadt.
Auf den größeren Straßen wälzte sich der Verkehr zäh voran, nur unwesentlich flüssiger als der von der Hitze erweichte Asphalt darunter. Ein Gemisch der unterschiedlichsten Menschen drängte sich auf den Bürgersteigen.
Biodiversität, dachte Udo. So müssen sich die Leute in den Dreißigern die Venus vorgestellt haben.
Die Hauptstraßen waren gesäumt von Modegeschäften, hier gab es, was die Touristen erwarteten“

- Die „Biodiversität“ müsste vielleicht hinter „den Bürgersteigen“ kommen, dann der Absatz.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hi Woltochinon,

schön, dass Dich auch dieser alte Text hinter dem Ventilator hervorlockt. :) Ich mag die Geschichte auch, selbst wenn sie nicht mehr als eine kleine Idee ist.

Zum Absatz: Ich setze oft einen Zeilenumbruch, bevor ein wörtlicher Gedanke kommt, quasi als "Alarm". Ich habe keine Ahnung, ob das dem formalen Gebrauch entspricht, es fühlt sich einfach richtig an. Vielleicht sollte ich mir mal einen Duden kaufen, kannst Du einen Band empfehlen, der solche Regeln enthält?

Danke & Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,

bei wörtlicher Rede soll man auf alle Fälle eine neue Zeile beginnen.
Im genannten Fall kam es mir so vor, als ob jetzt ein neuer Abschnitt über Bioversität anfängt, hatte die Aussage nicht auf die Menschen der "Bürgersteige" bezogen. Aber offensichtlich bin nur ich da hängen geblieben.

Ein Duden mit (Druck)satzregeln hilft da sicher, ich greife da noch auf meinen alten Duden zurück, bis es ganz sicher ist, dass es nicht wieder eine Reform gibt. Bin das ständige Rechtschreibregelnkaufen leid.

Weiterhin viel Spaß beim Schreiben,

tschüß Woltochinon

 

Hallo Naut,

natürlich kann man Gedachtes auch kursiv setzen. Habe deine Geschichte noch einmal überflogen, ich glaube, die Bioversität ist die einzige Stelle, bei der das vorkommt, also würde der Text nicht von Kursivem wimmeln.
(Aber wahrscheinlich kann es einfach so bleiben ...)

L G,

tschüß Woltochinon

 

Das ist eine recht gute Idee. Als ich die Geschichte schrieb, war mein Markup-System noch nicht fertig, daher habe ich damals auf Textauszeichnungen verzichtet. Ich denk mal drüber nach.

Danke,
Naut

 

Hi Naut,
Meine Vorkritiker haben ja schon alles gesagt, aber der Hauptfehler ist (wieder mal) allen entgangen!
Denn
ist Wells beileibe NICHT der Erste, der Zeitreisen behandelt hat (siehe z.B. M.Twains “Ein Yankee aus Conetticut an König Arturs Hof”),
irgendein Bibiophiler hätte garatiert das (vergessene) wellsche Original ausgegraben und ich vermute stark, dass auch in dieser Welt Copywhriteverletzungen strafbar sein dürften.
Dein oberschlauer Proxi

 

Proproxilator schrieb:
Hi Naut,
Meine Vorkritiker haben ja schon alles gesagt, aber der Hauptfehler ist (wieder mal) allen entgangen!
Denn
ist Wells beileibe NICHT der Erste, der Zeitreisen behandelt hat (siehe z.B. M.Twains “Ein Yankee aus Conetticut an König Arturs Hof”),
Das weiß ich auch, aber vorher hat die keiner weiter beachtet, weil sie als Märchen und nicht als SF aufgefasst wurden. Vor Wells hatte keiner die Idee einer technischen Realisierung (*höhö*) der Zeitreise, man sah sie als lediglich literarische Metapher. Erst Wells baute daraus einen Stoff, der Autoren und Leser bis heute dermaßen fasziniert, dass sie einen guten Teil der SF mit albernen Zeitreiseplots verseuchen. :)
irgendein Bibiophiler hätte garatiert das (vergessene) wellsche Original ausgegraben und ich vermute stark, dass auch in dieser Welt Copywhriteverletzungen strafbar sein dürften.
Da kräht doch kein Hahn nach, weil er ja nicht wortwörtlich von den "Chronicle Argonauts" abschreibt: Beachte, dass der Autor hier tatsächlich die (in dieser Welt nicht existierende) "Zeitmaschine" verfasst. Das ist so wie Baxters "Zeitschiffe": Eine Fortsetzung oder Fortschreibung, wie sie hätte existieren können.

Aber ich will diese Story gar nicht schönreden, denn sie hat sicher andere Schwächen.

Beste Grüße,
Naut

 

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