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Die Augen des Tigers

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16.11.2006
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Die Augen des Tigers

Die Augen des Tigers
oder die Geschichte eines Erfolgsmenschen

Ich weiß nicht, warum ich in den Zoo ging. Tiere hatten mich nie sonderlich interressiert, schon gar nicht in Gefangenschaft. Ich kam gerade vom Einkaufen und wollte nach Hause, als ich bemerkte, daß die Zooeinfahrt sperrangelweit offenstand. Normalerweise wurden die Besucher durch ein kleines Nebentor eingelassen, die große Einfahrt dagegen blieb für gewöhnlich geschlossen. Und als ob das Tor etwas Magisches an sich hätte, lief ich darauf zu und schritt hindurch. Niemand hinderte mich. Ich schlenderte die Wege entlang und betrachtete die Menschen. Es waren meist Touristenfamilien, deren Kinder ihre Väter grundsätzlich zum Affenkäfig zogen. Einige alte Leute waren da, die auf den Bänken saßen oder langsam die Parkwege entlangliefen. Schließlich kam ich nicht am Tigerkäfig vorbei, sondern blieb davor stehen. Hinter den Gitterstäben lag ER. Ein mächtiges, ausgenommen schönes Tier. Das gelbbraun gestreifte Fell hing zottelig und schmutzig an ihm herunter. Offensichtlich fehlte ihm Pflege. Jedoch alle Stellen die ER selbst mir seiner Zunge erreichen konnte, die Tatzen, das Hinterteil, der Schwanz, glänzten in der Sonne. ER schien zu schlafen. Unbeweglich lag ER, und ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Da schlug ER die Augen auf. Dieser Moment veränderte mein Leben gründlich. Aus diesen braunen, am Rande geröteten Augen ruhte ein Blick auf mir, der sagen wollte: „Da bist du ja endlich, ich habe schon Ewigkeiten auf dich gewartet.“ So verharrten wir, zwischen uns das Gitter, und sahen uns an. Wir bewegten uns nicht. Und als ER schließlich, nach ich weiß nicht wie langer Zeit, die Augen wieder schloß, wußte ich, jetzt kannst du gehen. Nichts war mehr wie vorher.

Bis dahin war ich ein eher unauffälliger Mensch gewesen. Das Lieblingsspiel meiner Kollegen hieß Mobbing, und ihr Lieblingsopfer war ich. Auch Frauen hatte ich mir schon lange abgeschminkt, ich war es leid, ständig veralbert zu werden. Aber nun war ER da. Als ich am nächsten Tag zum hundertdreiundfünfzigsten Mal eine tote Maus in meiner Schreibtischschublade fand, warf ich sie nicht wie sonst in den Papierkorb. Nein, ich nahm die Maus, ging zu dem Kollegen, den ich schon lange deswegen in Verdacht hatte, quetschte ihm mit der rechten Hand den Mund auf und stopfte ihm mit der anderen die Maus hinein. Der Kollege rannte aufs Klo, kotzte eine halbe Stunde lang und kündigte anschließend. Na gut, dachte ich, ein Arschloch weniger. Die anderen Kollegen waren zunächst entsetzt, beruhigten sich aber bald. Nun denn, sie würden noch lernen, mich zu fürchten. Ein paar Tage später war es soweit. Eine Kollegin, die mich schon des öfteren schamlos angemacht hatte, nur um sich hinterher über mein Ungeschick öffentlich zu amüsieren, wartete in der Mittagspause auf mich und blickte mich wiedereinmal verheißungsvoll an. Ich ging auf sie zu, presste meine Hand zwischen ihre Schenkel und grub meine Fingernägel in ihr Fleisch. Sie schrie auf, packte ihre Sachen, nahm Urlaub und kam nie wieder.

Abends entdeckte ich vor meinem täglichen Zoobesuch in einer Buchhandlung ein Bändchen über chinesische Astrologie. Als ich darin las und feststellte, daß meinem Jahrgang das Tierkreiszeichen Tiger zugeordnet sei, überraschte mich das schon weniger. Dennoch kaufte ich das Buch und es wurde meine Bibel. Den Tiger traf ich in großer Mißstimmung an. ER lief im Käfig auf und ab und als ich endlich kam, sah ER mich nur kurz an, lief zu seinem Fressnapf voll grauem Fleisch und schleuderte ihn mit einem kräftigen Prankenhieb gegen das Gitter. Ich lief los, kaufte fünf Kilo frisches Rindfleisch, stieg nach Toresschluß über den Zaun des Zoos und brachte ihm das Fleisch. Der Tiger riß es auseinander, fraß schmatzend, legte sich nach der Mahlzeit hin und schloß nach einem kurzen, aber intensiven Blick die Augen. Ich ging nach Hause und träumte von den Weiten Chinas.

Nach zwei Monaten und etlichen Neueinstellungen war ich stellvertretender Abteilungsleiter und meine Abteilung bestand aus lauter Kollegen, die vor mir kuschten wie das Kaninchen vorm Tiger. Der jedoch war kein guter Gesprächspartner mehr. Wenn ich ihm nach seiner nunmehr täglichen Zusatzmahlzeit von meinen Erfolgen berichtete, lief ER unruhig im Käfig umher, brüllte mich an und sprang immer öfter gegen die Gitter. Ich verstand. Trotzdem, soviel ich auch überlegte, es fiel mir nicht ein wie ich ihn befreien konnte. Nicht die Tat an sich war mir unklar, nein, das Danach beunruhigte mich. Ich würde ein Haus kaufen müssen, vor der Stadt, mit großem Garten. Allein die Anschaffungskosten überstiegen mein Gehalt beträchtlich. Schließlich die Unterhaltung, das Fleisch für IHN, hohe Zäune um den Garten, usw. usf.. Es blieb mir also nur, meinen Freund und Lehrer zu vertrösten, bis ich soweit sein würde. Was ER mit ungnädigem Knurren quittierte. Ich mußte mich beeilen. Während ich meinen Jahresurlaub in China verbrachte, sinnend auf der großen Mauer stehend, in Richtung Sibirien blickend, verstarben kurz nacheinander, plötzlich und unerwartet, mein Abteilungsleiter, der Bereichsleiter und schließlich der Betriebsdirektor. Vier Wochen später saß ich in dessen ehemaligem Büro und studierte die Immobilienannoncen der Tageszeitungen. Das Haus, das ich fand, war eine schöne klassizistische Villa mit einem parkähnlichen Garten, der an den Wald grenzte. Es würde nur wenig Aufwand kosten, sie für uns herzurichten. Am Abend nach der Unterzeichnung des Mietvertrages sprang ich, beladen mit zehn Kilo bestem Rinderfilet und einer Flasche Champagner für mich über den Zaun des Zoos. „Noch zwei Wochen.“, flüsterte ich. Der Tiger bemerkte natürlich, daß etwas besonderes passiert sein mußte. Ich glaubte sogar ein wenig Vorfreude in seinen Augen zu erkennen, dennoch sprang ER beim Abschied wieder gegen das Gitter, wie um mir zuzurufen: „Beeil dich, ich halte es nicht mehr lange aus.“

Die zwei Wochen verbrachte ich mehr im Haus als im Büro. Die Bauarbeiter wunderten sich zwar, wozu ich eine vier Meter hohe Mauer um das Gelände ziehen ließ und warum ich die beiden größten Räume im Erdgeschoß mit Betonboden, Abfluß und Einrichtungen zum Ausspritzen versah, aber bei dem in Aussicht gestellten Lohn brauchte ich keine neugierigen Fragen zu befürchten. Endlich war es soweit. Ich hatte Fleischvorräte für zwei Monate im Haus, der Betonboden war mit frischem Stroh ausgelegt und in mein neues Auto hatte ich über der Rückbank ein stabiles Gitter einziehen lassen. Auch die Frage, wie ich den Tiger aus dem Zoo bekommen würde, war gelöst. Bei meinem Herumstreifen im Tierpark hatte ich ein Loch im Zaun entdeckt. Vor dem stand nun der Wagen und ich vor der Tür zum Tigerkäfig. Ich war es zwar nicht gewohnt mit einem Bolzenschneider umzugehen, aber schließlich sprang das Schloß auf. Ich öffnete die Tür und schaute meinem Tiger in die Augen. ER hatte die ganze Aktion über dagelegen und zugesehen. Jetzt erhob er sich, majestätisch, machte einen Schritt auf die Tür zu, duckte sich und sprang. Genau auf mich zu. ER erlebte endlich den langersehnten Moment. Den Geschmack der ersten, selbsterlegten Beute.

 

Als neues Mitglied (wenn auch kein Neuling) will ich wenigstens Guten Abend sagen. :)

Schönen Gruß aus Köln

 

Hi!

Dann mal willkommen und guten Morgen. ;)

Eine interessant und schön erzählte Geschichte, deren Ende ein wenig vorhersehbar war.

Die Entwicklung des Charakters ist gut beschrieben. Sein Aufstieg vollzieht sich geradezu abstrus schnell, und das mit einigen humoristischen Zügen (freilich tief schwarzer Humor).

Das Ende ist zwar vorhersehbar, aber die Geschichte musste zwangsläufig so enden. Von daher stellt auch das im Grunde kein Problem da.

Wirklich gute Geschichte, amüsant zu lesen. :thumbsup:

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo Nothlia,

sorry, ich war ein paar Tage unterwegs, daher erst jetzt eine Reaktion. Danke fürs Lob. Das macht Mut mal wieder was reinzustellen.

Schönen Gruß

 

Inhaltlich wirklich interessant und auch angenehm geschrieben. Das Ende fand ich gar nicht mal so vorhersehbar, obwohl es selbstverständlich ziemlich passend ist. Eine interessante Variant wäre es hier sicher auch gewesen, die Anschaffung des neuen zu Hauses durch den Protagonisten auszusparen, so wäre hinterher der Schluss möglich gewesen, dass er dieses Ende als erste Beute erwartet habe.


Gruß,
Abdul

 

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