Was ist neu

Die Augenweide

Seniors
Beitritt
01.09.2005
Beiträge
1.167
Zuletzt bearbeitet:

Die Augenweide

Frodo hatte gerade einen seiner Anfälle von Selbstzweifel. Alexander konnte das Hörbuch mittlerweile auswendig mitsprechen. In Gedanken. Natürlich hätte er Sara das niemals angetan. Sie liebte den Herrn der Ringe. Die Abenteuer der Gefährten erinnerten sie an ihre Kindheit. Sie hatte Alexander einmal erzählt, dass es das erste Buch gewesen war, das sie jemals von sich aus gelesen hatte. Kein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk, mit dem man sich nur beschäftigt, um Eltern, Onkel und Tanten nicht zu kränken. Seitdem hatte sie es ungefähr alle zwei Jahre einmal gelesen. Ein Hinweis auf seine eigene Übersättigung von Tolkiens Epos wäre Alexander schlicht herzlos erschienen. Er drückte Sara fester an sich.
„Au“, sagte sie leise. „Du brichst mir die Rippen.“
Alexander entschuldigte sich, meinte es aber genau so ernst wie Sara den Hinweis darauf, dass er ihr wehtat.
„Ich muss aufs Klo“, sagte sie.
Alexander stand vom Sofa auf, ging rüber zum Laptop auf dem Schreibtisch und klickte auf den Pause-Button des abspielenden Programms. Gimli der Zwerg verstummte urplötzlich. Als Alexander sich wieder umdrehte, war auch Sara aufgestanden.
„Warte!“, rief er erschrocken. „Ich helfe dir!“
Sara erstarrte in ihrer Bewegung. Alexander sah, dass seine Fürsorglichkeit sie einmal mehr wütend gemacht hatte.
„Ich bin blind“, zischte sie. „Nicht gehbehindert oder so. Und auf dem Klo komme ich auch ganz gut allein zurecht.“
Die folgenden Sekunden der Stille schienen grauenvolle Stunden anzudauern. Alexander war sicher, er könnte gleich sein Herz brechen hören, wenn sie weiter so unendlich zerbrechlich in ihrem Mickey-Maus-Schlafanzug dastehen würde, den Kopf in seine Richtung gewandt, ohne ihn wirklich anzusehen. Ihre Augäpfel huschten in einem mal mehr, mal weniger regelmäßigen Rhythmus von links nach rechts, Scheibenwischern gleich. Sie waren ständig in Bewegung und taten doch schon seit Monaten nicht mehr das, wofür sie eigentlich da waren.
„Sorry“, sagte Alexander.
„Ist okay“, erwiderte Sara. Sie machte sich mit vorsichtigen, kurzen Kleinkinderschritten auf den Weg und hielt dabei eine Hand schützend vor sich gestreckt, während sie mit der anderen die einst so vertraute Wohnung abtastete. An der Stehlampe neben dem Sofa stieß sie ihren Kopf und drehte sich lachend zu Alexander um, so als würde es irgendeinen Unterschied für sie machen, als könnte sie seine Reaktion auf ihr Missgeschick wahrnehmen. Alexander lachte auf, um Sara zu zeigen, dass auch er den Humor nicht verloren hatte. Er begegnete der bisher größten Grausamkeit seines Lebens mit Witz, genau wie sie, genau wie dieser irische Autor, den sie so mochte. Der seine von Kindstoden, Hunger und sozialer Ungerechtigkeit geprägte Vergangenheit in einem Buch niedergeschrieben hatte, das Kritiker trotz all dieser entsetzlichen Themen für seinen warmherzigen Humor gelobt hatten.
Warmherzig am Arsch, dachte Alexander wütend, als er Sara im Badezimmer weinen hörte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Wuttränen stiegen ihm in die Augen, weil niemand da war, dem er das Gesicht einschlagen konnte.

Niemals würde eine Faust dem etwas anhaben können, der für Saras Blindheit verantwortlich war. Dafür war er nämlich zu klein. Zu klein tatsächlich, als dass ihn das menschliche Auge überhaupt hätte wahrnehmen können.
Es war ein Bakterium, von dem die Leute im Krankenhaus und die Schlauköpfe des Tropeninstitutes ihnen unterm Strich nicht mehr sagen konnten, als dass Sara es sich wohl in Afrika eingefangen habe. Sie hatten zusammen mit den Ärzten fast ihren gesamten Urlaub rekapituliert, und waren dann immer wieder auf das Bad in einem See zurückgekehrt, der in Alexanders Augen eher ein schlammiger Tümpel gewesen war. Er war Sara nicht ins Wasser gefolgt, weil er als erstmaliger Tourist auf dem schwarzen Kontinent hinter jedem Baum einen Löwen, unter jedem Stein eine Schlange und in jedem Wasserloch Krokodile vermutet hatte.
Sara hatte ihn dafür ausgelacht. Sie hatte in der ersten Hälfte ihrer Zwanziger quasi aus dem Rucksack gelebt und mit Freundinnen so ziemlich jede Ecke dieses Planeten erkundet. Alexander war sich immer schrecklich unerfahren vorgekommen, wenn sie von ihren Reisen erzählt hatte. Jetzt hatte seine provinzielle Angst vor der Welt außerhalb seiner Heimatstadt ihn vermutlich gerettet, während Saras Weltoffenheit den lieben Gott zu einem perversen Kalauer verführt hatte. Schließlich hatte mit ihr ausgerechnet eine ehemalige Literaturwissenschaftsstudentin und angehende Journalistin, der Inbegriff eines Bücherwurms, das Augenlicht verloren. Eine Leseratte geht ins Wasser und wird zum Blindfisch, haha.
Die kleinste Verletzung mochte schon gereicht haben, hatten die Ärzte gesagt. Und Sara hatte mehr als nur ein paar „kleinste Verletzungen“ an ihrem Körper gehabt. Blasen an den Füßen, kaputte Hände und Waden vom Wandern und Klettern – der Angreifer, der ihren Sehnerv verätzt hatte, hatte unzählige offene Türen und Tore an ihr vorgefunden.

Saras Augen trugen die Spuren des Weinens, als sie aus dem Badezimmer zurück ins Wohnzimmer kam.
„Alles okay?“, fragte Alexander.
„Mh?“, fragte Sara zurück. „Oh, ja klar, wieso?“
Ich habe dich weinen gehört, dachte Alexander, sagte es aber nicht.
„Naja, ehrlich gesagt …“, fuhr Sara fort. „Zuviel Eistee. Es war allerhöchste Zeit. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte mir in die Hose gemacht.“
„Du Schwein“, sagte Alexander. So hatte er sie oft genannt, als sie sich gerade kennen gelernt hatten, und sie hatte sich darüber jedes Mal fast besinnungslos gelacht. Auch jetzt lachte sie, allerdings nicht ohne den Mangel an Ausgelassenheit, den eine rasch voranschreitende Verringerung der Sehkraft bis zur völligen Erblindung wohl so mit sich brachte.
„Hast du Lust noch rauszugehen, auf einen Spaziergang?“, fragte Alexander. „Ich würde gern noch eine rauchen.“ Sara hasste Zigaretten. Natürlich hatte sie bei ihrem Lebenswandel Erfahrungen mit Drogen gemacht. Aber ein Joint war dabei nie eine Option gewesen. Stattdessen hatte sie sich die kleinen grünbraunen Blocks in Keksteig oder in den Kakao getan.
„Ne, keine Lust“, sagte sie. „Machst du bitte das Buch wieder an?“
Gimli der Zwerg nahm seinen angefangen Satz wieder auf. Alexander zog sich eine Jacke über, vergewisserte sich, dass seine Schachtel und sein Feuerzeug in der Seitentasche waren und ging dann rüber zu Sara, um sie auf die Stirn zu küssen.
„Bis gleich“, flüsterte er in ihr Ohr. Anstatt zu antworten, streichelte sie seine Wange.

Als Alexander das Treppenhaus hinter sich gebracht hatte und gerade durch den Haupteingang raus wollte, öffnete sich die Wohnungstür der Vermieterin. Alice Freudenreich war alt und einsam, manchmal gut gelaunt, manchmal schlecht. Kein Hausdrachen, aber mit Sicherheit auch nicht die gute Seele ihrer vier Wände. Wirklich unerträglich fand Alexander lediglich ihre Tratschsucht, auf die Sara sich stets mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen eingelassen hatte. Alexander war es immer zuwider gewesen, mit einem Menschen, den er kaum kannte, über den Privatkram anderer Menschen zu reden, die er überhaupt nicht kannte. „So sind wir Mädchen nun mal“, hatte Sara immer grinsend zu ihm gesagt. Damals, als sie noch ab und an grinste.
„Hallo“, sagte die alte Freudenreich vorsichtig und leise. So leise, dass Alexander einfach weiterging, in der Hoffnung, sie würde vielleicht denken, er hätte sie nicht gehört.
„Hallo!“, wiederholte Freudenreich lauter. Alexander blieb stehen und drehte sich nach einigem Zögern zu ihr um.
„Hallo“, erwiderte er mit einem müden Lächeln.
Freudenreich hielt ein Kissen in der Hand. Das aufgestickte Muster ergab ein Katzenbaby mit riesigen Augen. Die alte Frau knetete das Kissen nervös mit beiden Händen.
„Wie geht es denn der Sara?“, erkundigte Freudenreich sich.
„Den Umständen entsprechend“, sagte Alexander.
Freudenreich nickte verständnisvoll. „So eine Schande“, sagte sie. „So ein hübsches Mädchen.“
Alexander entfuhr ein zynisches Lachen. „Hübsch ist sie immer noch“, sagte er. „Blind allerdings auch.“
Seine Bemerkung bewirkte nicht, dass Freudenreich beschämt zu Boden sah, wie er sich das erhofft hatte. Stattdessen hielt sie seinem Blick stand und sagte: „Komm bitte rein zu mir, Junge. Ich möchte etwas mit dir besprechen.“
Alexander spürte, dass das ertragene Leid der vergangenen Monate sein Verständnis für die Macken seiner Mitmenschen derart reduziert hatte, dass ein falsches Wort ihn unendlich wütend machen konnte. “Glauben Sie allen Ernstes, dass ich im Moment Lust auf einen Kaffeeklatsch habe?“, fragte er Freudenreich.
Seine Vermieterin lächelte ihn verständnisvoll an. „Rede mit mir, Junge“, sagte sie. „Glaub mir, es wird dir gut tun. Euch beiden.“
Alexander stand da und bereute den scharfen Ton, den er angeschlagen hatte. Schließlich war Freudenreich nur eine alleinstehende, langsam vergreisende Frau. Er ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. „Ich habe aber nicht viel Zeit“, sagte er.
„Ich bin alt“, sagte Freudenreich. „Ich habe noch viel weniger.“ Sie lachte ein ehrliches Lachen und streichelte Alexanders Arm.

Die Wohnung sah aus wie die Wohnungen vieler alter Frauen. Genau wie all die Wohnungen, die Alexander während seines Zivildienstes betreten hatte. Er sah echte und falsche Blumen in grellen Farben und Porzellanfiguren von vermenschlichten Tieren, mit Hüten auf dem Kopf und grinsenden Gesichtern. Der etwa zwanzig Jahre alte Fernseher war umrahmt von silbernen Tannenzapfen. Unter dem Geruch von Muff, Suppe und billigem Waschmittel lag ein feiner Hauch von Urin. Etwas in Alexander rebellierte, als er sich auf die löchrige gelbe Couch im Wohnzimmer setzte.
„Möchtest du etwas trinken, Junge?“, fragte Freudenreich.
„Nein“, erwiderte Alexander barsch. „Können Sie aufhören, mich Junge zu nennen?“
Freundreich grinste. „Aber Junge …“ Alexander warf ihr einen bösen Blick zu.
„Möchtest du etwa, dass ich dich auch sieze?“, fragte Freudenreich verwundert. „Ich verlange nicht, dass du das tust. Du tust es von ganz alleine.“
„Alexander wäre nett“, sagte er. „Ich heiße Alexander. Ich bin seit mehr als zehn Jahren schon kein Junge mehr.“
Freudenreich setzte sich müde stöhnend auf einen Sessel. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem ein leerer Kerzenständer und ein sehr alt aussehendes Buch lagen. Wahrscheinlich Urgroßmutters Hackfleischrezepte, dachte Alexander. Hätten unsere Jungs in Stalingrad sich alle zehn Finger nach abgeleckt.
„Alexander also“, sagte Freudenreich. „Alexander, ich bin sehr alt und sehr einsam.“
Alexander nickte. „Ihr Mann ist tot?“, fragte er.
„Ich habe nie einen gehabt“, antwortete Freudenreich. „Das ist mein Los.“
Alexander rieb sich die müden Augen. „Hören Sie“, sagte er. „Es tut mir Leid, dass Sie sich allein fühlen, okay? Ich bin sicher, wir können sie öfter mal zu uns einladen, oder hier auf einen Kaffee vorbeikommen. Aber mein eigenes Leben ist im Moment nicht gerade ein Ponypark, und ich würde gern– “
„Hör auf mit mir zu reden, als wäre ich eine senile alte Schachtel“, unterbrach Freudenreich ihn scharf. Alexander sah sie verdutzt an. Er öffnete den Mund, aber sie bedeutete ihm mit einer Geste, ruhig zu sein. In diesem Moment hätte Alexander schwören können, dass er tatsächlich nichts sagen konnte. Sein Kiefer fühlte sich verkrampft und unbeweglich an.
Freudenreich beugte sich vor und streichelte das Buch, das auf dem Tisch lag.
„Ich habe schon sehr viel gesehen, Alexander. Und ich habe sehr viele Dinge getan. Schreckliche Dinge. Ich habe geglaubt, dass ich mit meinen angeborenen Fähigkeiten einem höheren Zweck diene. So hoch, dass ich mich um richtig oder falsch nicht zu sorgen brauche. Aber nun wird mein Licht bald erlischen. Und ich habe Angst vor dem, was danach auf mich wartet. Deshalb möchte ich in der mir verbleibenden Zeit Gutes tun. Nenn es Buße.“
Freudenreich nahm das Buch vom Tisch und legte es auf ihren Schoß. Sie ließ ihre Finger darüber gleiten und schien hie und da etwas zu verstellen, anzuziehen, einzudrücken, so als wäre das Buch verschlossen. Und tatsächlich klickte etwas metallisch, bevor sie den Einband schließlich öffnete.
„Was ist das?“, fragte Alexander.
„Ein Schlüsselbund“, sagte Freudenreich. „Die Schlüssel darin habe ich über viele Jahrzehnte gesammelt. Einige führen in herrliche Wunderwelten. Andere öffnen die Tore zu Dimensionen, in denen unsere Alpträume leben.“
„Haben Sie getrunken?“, fragte Alexander.
Freudenreich lächelte nachsichtig. „Möchtest du, dass Sara wieder sehen kann?"
Alexander spürte wieder den Zorn, den er bereits an der Haustür empfunden hatte.
„Ich gehe jetzt“, sagte er.
„Warte!“
„Worauf?“
„Denkst du nicht, dass sie wenigstens einen Versuch verdient hat?“
Alexander starrte Freudenreich an. Er fragte sich, wie lange er noch durchhalten würde, ohne sie über den Tisch hinweg anzuspringen und ihr ein paar saftige Ohrfeigen zu verpassen. Die alte Frau ging zu einem Regal über dem Fernseher und nahm einen Flakon daraus. In dem kleinen Gefäß befand sich eine bräunliche Flüssigkeit.
„Ich habe ihn schon gebraut, als sie noch im Krankenhaus gelegen hat“, sagte Freudenreich. „Tu was ich dir sage und Sara wird wieder sehen können.“
Sie reichte Alexander den Flakon. Er betrachtete die Flüssigkeit darin spöttisch und sagte: „Wissen Sie, Sie mögen es ja nett meinen, aber ich bezweifele ernsthaft, dass diese Sache sich mit einem Kurzen aus der Welt schaffen lässt.“
Freudenreich reagierte nicht auf die Witzelei. Stattdessen holte sie jetzt noch eine Pipette aus einer Kommodenschublade unterhalb des Regals hervor. „Zwei Tropfen“, sagte sie. „Weniger wird nicht zum gewünschten Resultat führen. Viel wichtiger ist aber, dass du ihr auf keinen Fall mehr gibst. Zwei Tropfen. Verstehst du?“
„Ja, sicher“, sagte Alexander. „Zwei Tropfen. Vermutlich muss sie die bei Vollmond nehmen, oder? Und brauche ich nicht noch eine Krötenzunge oder so was?“
„Zwei Tropfen“, wiederholte Freudenreich. „Auf keinen Fall mehr.“ Dann lächelte sie wieder. „Vertrau mir.“
„Ja“, sagte Alexander und machte sich auf den Weg zur Wohnungstür. „Danke für die, äh, Hilfe.“
Freudenreich nickte und winkte ihm zum Abschied.
„Blöde Kuh“, zischte Alexander flüsternd vor sich hin, während er rauchend durch die Nebenstraßen der Nachbarschaft spazierte. Er nahm den Flakon aus der Tasche, öffnete ihn und roch dran. Der angenehm lakritzartige Geruch von Anis stieg ihm in die Nase. „Ouzo“, urteilte Alexander. „Die neue Geheimwaffe im Kampf gegen Krebs, Aids, und was es sonst noch so gibt.“ Er leerte den Flakon in einem Zug und warf ihn wütend gegen eine Mülltonne. Dem Krach folgte das Gebell von Hunden. Ein Schlüsselbund, dachte Alexander. Nicht zu fassen.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war er allein. Sara war bei ihrem Kurs für Blindenschrift, zu dem er sie anfangs noch gefahren hatte. Dann hatte sie es ihm praktisch verboten. Ihre private Krankenversicherung übernahm die Taxifahrt zur „Initiative Leben“ fast komplett. „Es gibt keinen Grund für dich, dir noch diesen zusätzlichen Stress anzutun“, hatte sie zu ihm gesagt. „Du brauchst deinen Schlaf.“ Damit hatte sie absolut Recht gehabt, aber Alexander hätte sich eher einen Finger abgeschnitten, als das zuzugeben. Noch heute protestierte er manchmal, es wäre „überhaupt kein Problem“ für ihn, sie zu fahren, um dann innerlich erleichtert aufzuatmen, wenn Sara das Angebot ablehnte.
Alexander kratzte sich die Brust und zuckte zusammen. Unterhalb seines Schlüsselbeins hatte sich ein schmerzhafter kleiner Pickel gebildet. Er stand auf und ging ins Badezimmer, um sich die verstopfte Pore im Spiegel zu betrachten.
Der Pickel war etwa fingerkuppengroß. Obwohl er sich bereits deutlich ausgebeult hatte, war nur eine Rötung zu erkennen, keine gelbliche Spitze. Das bedeutete natürlich, dass der Pickel nicht reif zum Ausdrücken war und der Eiter darin noch zu tief unter der Haut lag. Da Alexander das Gefühl unausgedrückter Pickel hasste, die sich an der Kleidung rieben, beschloss er, trotzdem sein Glück zu versuchen. Mit den Daumen setzte er an und drückte erst langsam und vorsichtig, dann abrupt und stark.
Alexander schrie auf. „Großer Gott!“, stöhnte er, als das Gefühl eines mit Widerhaken bewehrten, in seiner Brust steckenden Angelhakens nachließ. Er lachte vor Entspannung.
„Du kleiner Scheißkerl“, sagte er und fuhr vorsichtig mit dem Zeigefinger über den Pickel. „Heute Abend bist du fällig, das garantiere ich dir.“

In der Uni saß er im Computerraum seiner Fakultät und konnte sich nicht auf die endlosen Zeilen PHP-Codes konzentrieren, die auf dem Bildschirm vor ihm flimmerten. Sein Diplom-Projekt war mit Saras Unfall ins Stocken geraten, aber Professor Gramley war ein netter Typ, der Alexander väterlich auf die Schulter geklopft und gemeint hatte, es würde „so lange dauern, wie es nun einmal dauert, gerade auch in Anbetracht der Umstände“.
Trotzdem war die Arbeit an dem Programm, das einmal die Buchungsvorgänge einer mittelständischen Privatbank überwachen sollte, gemessen an den „Umständen“ schon recht weit vorangeschritten. Arbeit, hatte Alexander festgestellt, ließ ihn fast noch besser vergessen als ein von Alkohol getränkter, komaartiger Schlaf. Denn selbst der war manchmal nicht frei von Träumen. Und es war Monate her, dass Alexander nichts Schlechtes geträumt hatte.
Heute aber hielt ihn der Pickel davon ab, Schleifen und Wenn-Dann-Befehle zu einem harmonischen virtuellen Getriebe zusammenzufügen. Auf den Druck der Return-Taste folgte Fehlermeldung nach Fehlermeldung, und irgendwann wurde Alexanders Fluchen so laut, dass die ersten Gesichter sich böse blickend zu ihm umdrehten.
Der Pickel brannte. So fühlte es sich an. Als würde jemand im Fünfzehn-Sekunden-Takt eine glühende Zigarette auf seiner Brust ausdrücken. Alexander steckte seine Hand unters T-Shirt und ertastete den kleinen Plagegeist, der, wie er schockiert feststellte, gar nicht mehr so klein war, sondern in etwa die Größe einer halben Walnussschale angenommen hatte. Der Pickel pulsierte, als hätte er einen eigenen Herzschlag. Außerdem fühlte Alexander eine ölige Schmiere, die sich wie Körperlotion anfühlte. An einem der Computer saßen drei recht junge Mädchen, höchstwahrscheinlich Erstsemesterinnen. Eine davon flüsterte: „Oh Gott, wenn er jetzt noch die andere Hand in die Hose steckt, gehe ich.“ Die anderen beiden brachte das zum Kichern.
Alexander zog seine Hand wieder hervor. Etwas Braunes klebte an seinen Fingern, das genau wie Kacke aussah, aber nach einer Mischung aus Minzöl und Achselschweiß roch. Er griff nach seinem Rucksack unter dem Tisch und verließ den Raum, ohne den Rechner herunterzufahren. Er hörte das Mädchen, das ihm Selbstbefriedigungsabsichten unterstellt hatte, flüstern: „Na, Gott sei Dank.“
„Blöde Fotze“, zischte Alexander beim Hinausgehen, war aber zu sehr in Eile, um sich an den entsetzten Blicken erfreuen zu können, die ihn aus dem Raum begleiteten.
Er ging zur Toilette ganz unten in der Fakultät für Geschichte und Philosophie, die an einem der zahlreichen Nebeneingänge lag und auf der er in sechs Jahren Studium noch nicht einmal einen anderen Menschen getroffen hatte. Er riss sich sein T-Shirt über den Kopf, als würde es in Flammen stehen.
Der Pickel war zu einer entzündlich dunkelrot leuchtenden Beule herangewachsen. Aber statt eines eitrigen Kopfes zog sich in der Mitte eine feine, horizontale Vertiefung darüber wie ein Graben. Alexander tastete mit dem Zeigefinger daran entlang und stellte fest, dass er die Ränder des Grabens unter gemeinen Schmerzen ein bisschen auseinander ziehen konnte. Darunter war eine bräunliche Membran zu erkennen, und die nach schweißigem Minzöl stinkende Flüssigkacke, die er zuvor am Finger gehabt hatte, floss ihm jetzt tropfenweise über Brust und Bauch bis zum Bund seiner Unterhose.
Alexander benutzte Daumen und Zeigefinger wie eine Klemme, um den kleinen, grabenartigen Schnitt noch mehr zu weiten. Auch wenn die Bewegung genau die entgegen gesetzte war, fühlte er sich doch an das Pickelausdrücken erinnert. Natürlich tat es immer mehr weh, aber hielt man durch, wurde man mit einem erleichternden kleinen Platzen belohnt, nach dem der Schmerz dann wohltuendend nachlässt.
Alexanders Bewegung entsprechend platzte die Beule nicht. Stattdessen zerriss der Graben mit einem nassen, schmatzenden Geräusch. Alexander hatte keine Luft zum Schreien. Er atmete wie ein Kettenraucher, der gerade den Berlin-Marathon hinter sich gebracht hatte. Sonst hätte er seinem Entsetzen vermutlich genau so Ausdruck verliehen. Mit einem Schrei.
Eine wässrige, transparente Murmel war unter der Beule zum Vorschein gekommen. Als der Graben aufriss, war sie etwas tiefer in Alexanders Brust geflutscht, so dass die Schwellung jetzt kleiner geworden war. Die Murmel kugelte panisch von links nach rechts, von oben nach unten.
Es war ein Auge. Ein farbloses, blindes Auge. Es war noch nicht reif, dämmerte es Alexander. Es war eine Frühgeburt, die er per Kaiserschnitt in die Welt geholt hatte. Das flüssige Braune tropfte aus dem Auge. Es sah aus, als würde es Scheiße weinen. Alexander zog sein T-Shirt an und hastete zum Ausgang.

Er klopfte an Freudenreichs Tür als wollte er sie einschlagen. Auf der anderen Seite hörte er die alte Frau näher kommen. Als sie die Tür öffnete, stieß Alexander sie in die Wohnung. Er packte Freudenreich am Hals und würgte sie.
„Junge!“, wimmerte Freudenreich. Ihre alten, kraftlosen Finger gruben sich in Alexanders Unterarm. „Junge, was soll denn das?“
„Was haben Sie mir gegeben?“, schrie Alexander sie an.
„Was?“, fragte Freudenreich. Sie schien ehrlich bestürzt und hatte offenbar keine Ahnung, was Alexander von ihr wollte. Er schubste sie vor sich her ins Wohnzimmer.
„Das Fläschchen“, sagte Alexander. „Was war da drin?“
„Etwas, das deiner Freundin helfen sollte“, antwortete Freudenreich. „Was ist denn passiert?“
Alexander lachte. „Was passiert ist, du blöde Schlampe?“ Er zog sein T-Shirt aus.
„DAS IST PASSIERT, VERDAMMT!“
Für einen Moment genoss Alexander mit Genugtuung das Entsetzen in Freudenreichs Gesicht.
„Aber … aber“, stammelte Freudenreich. „Hast du etwa die Tropfen genommen?“
„Wie kommst du denn darauf, du alte Schlampe?“, fragte Alexander. „Hast du ihr so helfen wollen? Mit einem Scheiß Auge auf der Brust?“
Freudenreich atmete tief durch und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war der Ausdruck des Entsetzens aus ihrem Gesicht verschwunden. Jetzt sah sie sehr ernst, gefasst, fast schon analytisch drein. „Ach, Junge“, sagte sie. „Wie viele hast du genommen? Drei? Vier?“
Alexander fühlte sich plötzlich, als wäre er wieder fünfzehn und müsste seinen Eltern gestehen, dass er Alkohol getrunken hatte.
„Ich hätte doch nicht gedacht …“, begann er seinen Satz. „Wie hätte ich denn wissen sollen–“
"Wie viele?“, unterbrach Freudenreich.
„Ich habe das scheiß Fläschchen ausgetrunken!“, schrie Alexander sie an. „Ich habe gedacht, das wäre verdammt noch mal ein Flachmann.“ Etwas Weinerliches hatte sich in seine Stimme geschlichen.
Freudenreich legte ihre Hände aneinander wie zum Gebet, bedeckte damit Nase und Mund und schloss die Augen.
„Was?“, wollte Alexander wissen. „Was denn?“
Alexander sah an sich herunter. Zu dem wild in seiner Höhle kugelnden Auge auf der Brust hatten sich etwa zwei Dutzend weiterer kleiner Pickel gesellt, die sich über seinen gesamten Oberkörper bis runter zum Schritt verteilten. Er wollte schreien, doch was ihm stattdessen entfuhr, war ein lang anhaltendes, hohes Jaulen. Hasserfüllt sah Alexander Freudenreich an.
Auf dem Wohnzimmertisch lag ein aufgeschlagenes Schundmagazin. Eine Seite erzählte von der selbstverständlich „schmutzigen“ Scheidung irgendwelcher Vons und Zus, auf der anderen prangte ein fast fertig ausgefülltes Kreuzworträtsel. Darauf lag auch der spitze Bleistift, den Alexander nahm und in Freudenreichs Hals bohrte. Sie taumelte zurück, stieß sich den Kopf am Wohnzimmerschrank und fiel auf den Hintern. Mit beiden Händen ertastete sie das Radiergummi-Ende des Bleistifts, das aus ihrem Hals hervorlugte. Sie fixierte Alexander mit ungläubig schmerzverzerrten Augen, als sie den Stift langsam herauszog. Blut spritzte im Rhythmus ihres Herzschlages aus der Wunde, die sie verzweifelt zuzuhalten versuchte. Voller Genugtuung beobachtete Alexander, wie mit jedem neuen Blutstoß ein bisschen mehr Leben aus der alten Hexe entwich, die ihm so übel mitgespielt hatte.
Freudenreich setzte viermal an, etwas zu sagen. Beim fünften Mal schließlich gurgelte sie: „Ich wollte doch bloß helfen, Junge.“
Viele der Pickel auf Alexanders Körper waren in der kurzen Zeit bereits zur bekannten Walnussgröße geschwollen. Eines der Augen neben seinem Bauchnabel öffnete sich. Für einen Moment war ihm schwindelig. Er dachte, er würde ohnmächtig werden. Dann begriff er, warum seine Welt plötzlich so anders aussah. Im Gegensatz zu dem Auge unter seinem Schlüsselbein war dieses nicht blind.
Alexander deutete auf das Auge. „Helfen? Was ist denn das für eine Hilfe, bitte?“
„Zwei Tropfen habe ich gesagt“, röchelte Freudenreich. „Sie sollte zwei Tropfen nehmen. Und wer soll jetzt den Gegentrank brauen, du Dummkopf?“ Freudereich sank in sich zusammen. Das Blut aus ihrem Hals schoss nicht mehr in Fontänen hervor, sondern floss kraftlos aus ihr heraus. Der Teppichboden saugte sich damit voll.
„Gegentrank?“, fragte Alexander. „Ich kenne den Gegentrank, du verdammte Hexe.“

In seiner und Saras Wohnung riss Alexander sich die Kleidung vom Leib, bis er völlig nackt war. Überall auf seinem Körper fanden sich nun die Pickel, alle in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung. Jedes Mal, wenn sich eines der Augen öffnete, spürte Alexander das kleine bisschen mehr Belastung, das dieser neue Sinneseindruck für sein Gehirn bedeutete. Er stolperte in die Küche.
„AAAAAAAAUUUU, VERDAMMT!“ Er war in eine Heftzwecke getreten, die unter einem Poster von Good Fellas auf dem Boden gelegen hatte. Sie steckte nun in dem Auge unter seinem Fuß. Alexander bohrte die Finger seiner rechten Hand in die Augenhöhle in seinem Fußballen und riss das Sehorgan heraus, wobei er einen weiteren gellenden Schrei ausstieß. Er hielt den Augapfel in der Hand. Der Sehnerv hing noch daran und verband ihn weiterhin mit Alexanders Körper. Alexander machte eine reißende ruckartige Bewegung. Er spürte, wie etwas in seinem Körper gezogen wurde, das über sein Bein, durch seine Hüfte bis hoch zu seinem Kopf zu verlaufen schien. Der Nerv riss kurz hinter dem Augapfel ab.
„Ha!“, rief Alexander in einer Mischung aus Schmerz- und Triumphgeheul. „Und jetzt?“, fragte er das Auge in seiner Hand. „Wie geht’s jetzt weiter, hä? Ich zeig dir, wie’s weitergeht, du Dreckstück!“ Er drückte zu, und das Auge zerplatzte wie eine Wasserbombe, die die flüssige Minzkacke verspritzte.
In der Küche riss er eine Schublade heraus, so dass sie auf den Boden krachte und ihren Inhalt darüber verteilte. Zunächst wollte er sich das größte Messer nehmen. Er sah es zigfach und griff einige Male daneben. Als er es endlich geschafft hatte, entschied er, dass er mit dem viel kleineren Schälmesser besser arbeiten können würde.
Er bohrte die Klinge in das Auge, das ihm zuerst gewachsen war. Blind oder nicht, er wollte keine dieser kleinen Missgeburten bei sich behalten. Er hatte heute noch einige Abtreibungen vor sich. Das verriet ihm ein Blick auf seine Arme und Beine, seine Hände und Füße, seine Brust und seinen Bauch. Die ihn allesamt zurück anblickten.

„Hallo?“ Saras Stimme. „Oh Gott, was stinkt denn hier so? Alexander, bist du da?“
Er musste ohnmächtig geworden sein. Alexander war gebadet in Blut und dem stinkigen braunen Fruchtwasser seiner ungeliebten Kinder. Er stöhnte, als er sich aufrichtete. In einigen der Wunden, mit denen sein Körper übersät war, pulsierte bereits die bevorstehende Entzündung.
„Alexander?“
„Ich bin hier.“
Sara tastete sich vorwärts. Sie rutschte einige Male fast auf der rotbraunen Flüssigkeit aus. Schließlich fand sie ihn.
„Oh Gott, Alexander!“ Sie umarmte ihn fest und schreckte sogleich mit angewidertem Gesichtsausdruck zurück. „Alexander, was … ist das für ein Zeug?“
„Halt mich“, flehte Alexander, denn das war alles, was er jetzt wollte. „Bitte halt mich.“
Sara tat, was er gesagt hatte. Alexander genoss die Schwärze der Blindheit. Das Sehen hatte sein Hirn zu zerreißen gedroht, deshalb hatte er Freund und Feind schließlich nicht mehr voneinander unterschieden und das gesamte Feld abgebrannt, um dem Schädlingsbefall Herr zu werden.
Es hätte dir passieren sollen, dachte Alexander, als der Schmerz unerträglich zu werden drohte. Er schämte sich, aber es tat so unglaublich weh, dass er diesen Gedanken einfach nicht aus dem Kopf bekam. Es hätte dir passieren sollen. Immer wieder. Es hätte dir passieren sollen.
Ein Auge öffnete sich und Alexander konnte Saras Hände auf seinem Rücken liegen sehen. Er brach in schallendes Gelächter aus.

 

Hey Proof,

Frodo hatte gerade einen seiner Anfälle von Selbstzweifel. Alexander konnte das Hörbuch mittlerweile auswendig mitsprechen. In Gedanken. Natürlich hätte er Sara das niemals angetan. Sie liebte den Herrn der Ringe. Die Abenteuer der Gefährten erinnerten sie an ihre Kindheit. Sie hatte Alexander einmal erzählt, dass es das erste Buch gewesen war, das sie jemals von sich aus gelesen hatte. Kein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk, mit dem man sich nur beschäftigt, um Eltern, Onkel und Tanten nicht zu kränken. Seitdem hatte sie es ungefähr alle zwei Jahre einmal gelesen. Ein Hinweis auf seine eigene Übersättigung von Tolkiens Epos wäre Alexander schlicht herzlos erschienen. Er drückte Sara fester an sich.
Der ganze Absatz wirkt so abgehackt erzählt. Der einzige Satz, der ein bisschen rausbricht ist das: „Kein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenkt“, sonst wirken die Sätze irgendwie gleichförmig, die gleiche Länge, das gleiche Muster oder so.
Hat mich bisschen gestört.

Die folgenden Sekunden der Stille schienen grauenvolle Stunden anzudauern.
Find ich auch nicht optimal. Zu viele „s“-wörter, das Plural schienen da, das „folgende“, das „grauenvolle“. Das ist auch eine Situation, die wahrscheinlich schon dreißigmillionen Mal in irgendwelchen Texten vorkam.
Die Zeit schien sich endlos auszudehen; der Moment wollte nicht vorübergehen.
Da bräuchte der Text mal eine griffige Formulierung. Entweder ein kleines Kabinettstückchen oder möglichst schlicht und einfach; die Lösung hier find ich nicht gut.

Der seine von Kindstoden, Hunger und sozialer Ungerechtigkeit geprägte Vergangenheit in einem Buch niedergeschrieben hatte, das Kritiker trotz all dieser entsetzlichen Themen für seinen warmherzigen Humor gelobt hatten.
Hu? Literaturquiz? Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt?
.Ehm: „sozialer Ungerechtigkeit geprägte Vergangenheit“ … das klingt wie aus dem Feuilleton einer Lokalzeitung.

Schließlich hatte mit ihr ausgerechnet eine ehemalige Literaturwissenschaftsstudentin und angehende Journalistin, der Inbegriff eines Bücherwurms, das Augenlicht verloren.
Der Inbegriff eines Bücherwurms bereist die Welt nicht.

Schließlich war Freudenreich nur eine alleinstehende, langsam vergreisende Frau.
Ist ungewohnt Frauen nur beim Nachnamen anzuführen, oder? Kenn ich sonst nur bei Sportreportagen. Komisch, da hab ich auch noch nie drüber nachgedacht.

„Zwei Tropfen“, wiederholte Freudenreich. „Auf keinen Fall mehr.“ Dann lächelte sie wieder. „Vertrau mir.“
Das ist so die typische Horror-Logik. Gib ihm ein Flakon, aber sag ihm: Nimm nur 2 Tropfen. Statt dass sie ihm gleich nur 2Tropfen mitgibt. ;)

Ich find schon, der Einstieg ist … „seltsam“, er wirkt wie eine Pflichtveranstaltung, bis der Text endlich die Idee mit den Augen loswerden kann. Und es wirkt auch ein wenig auf „Nun sei doch mal sentimental“ getrimmt. ;)
Da sind auch einige hölzerne Sätze drin, die nicht zu den Dialogen passen wollen. Der Text geht richtig los, wenn er da vorm Uni-Spiegel steht und dann ist aber auch Sprint bis zum Ende. Das ist wirklich eine abgefahrene, eklige Idee, die dann auch wirklich trägt.

Warum Leute in Horror-Geschichten dann sofort einen abmurksen … also der Mord an der Nachbarin kommt da bisschen seltsam rüber. Und auch dieses „Ich reiß mir alle Augen aus“ – naja. ;) Es ist halt effektvoll.

So ließe sich die Geschichte zusammenfassen: Effektvoll. Ist eine gute Kern-Idee, dann halt mit ein bisschen klassischem Kram gemischt (Die Hexe als Nachbarin, das törichte Umgehen mit solchen Elixieren) und auch mit Dingen, die nicht so gut gelungen sind, (das Sentimentale mit der Freundin beißt sich schon stark mit dersarkastischen Erzählstimme und … ich kenn das von mir, es gibt halt so Sachen innerhalb einer Geschichte, die abgehandelt werden müssen und die wirken dann oft ein wenig lustlos, also das Hadern mit dem Paranormalen schreibt man als Horrorautor wahrscheinlich im Jahr dreiundvierzig Mal … da hat man auch nicht mehr so die Lust drauf; ich hatte hier schon den Eindruck, dass sich Autor und Geschichte drauf gefreut haben, in diesen Amok-Sprint-Modus bis zum Schluß zu fallen).

Es bleibt eine ordentliche, gute auch frische Horror-Story über. Hab ich gern gelesen.
Quinn

 
Zuletzt bearbeitet:

Morgen,

Diemond:

WATT? ICHWERDBEKLOPPTHIERDOO! :bonk:

Quinn:

Hu? Literaturquiz? Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt

Nein, ich meine natürlich Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson.

.Ehm: „sozialer Ungerechtigkeit geprägte Vergangenheit“ … das klingt wie aus dem Feuilleton einer Lokalzeitung.

Naja, das kann man wohl über so ziemlich jeden nicht umgangssprachlich formulierten Satz sagen. Und Lokalzeitungen vermeiden für ihren Kulturteil den Begriff "Feuilleton", weil sie anders als überregionale Zeitungen davon ausgehen, dass die Mehrheit ihrer Leser keinen Uni-Abschluss hat. Also, die BILD jetzt mal außen vor ... Ob ein FAZ-Feuilletonist das nun aber wirklich so anders formulieren würde/könnte/wollte, sei mal dahingestellt.

Der Inbegriff eines Bücherwurms bereist die Welt nicht.

Das ist mir schon bei Hannibals Kritik aufgefallen, aber da hatte ich es bei meiner Antwort wohl schon wieder vergessen. Die Leute in meinem Bekanntenkreis, die gern und viel lesen, inklusive mir selbst, die reisen auch gern. Ich sehe den Widerspruch da nicht.

Ist ungewohnt Frauen nur beim Nachnamen anzuführen, oder?

Das stimmt tatsächlich. Ich werte das mal als meinen Beitrag zum Kanon feministischer Literatur.

Das ist so die typische Horror-Logik.

Ja, da müssen wir alle mal durch. :D

Der Anfang sollte sympathische Figuren einführen, vom Schicksal hart gebeutelt, damit man mitfühlen kann. Ich habe schon viele Geschichten geschrieben, die in Sachen Horror/Grusel/Schock nicht so recht sitzen wollen, obwohl ansich alle verwendeten Ingredienzen stimmen. Meistens lag es dann daran, dass es wenig liebenswerten Figuren an den Kragen geht, denen man die finale Katastrophe schon eher gönnt. Das hier ist ein Versuch, davon abzukommen.

also der Mord an der Nachbarin kommt da bisschen seltsam rüber.

Ja, der Teil stört mich wie schon gesagt mittlerweile auch. Ich denke, wenn ich die Geschichte noch mal irgendwo weiterverwerte, wird Frau Freudenreich wohl mit einem blauen Auge davonkommen.

Dass die Erzählstimme sarkastisch ist, ist mir nicht aufgefallen. War jedenfalls keine Absicht, sofern das nicht nur dein persönlicher Eindruck ist.

Es bleibt eine ordentliche, gute auch frische Horror-Story über.

Na denn, danke für die Blumen und die lange Kritik!


Grüße
JC

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Proof,
ich finde deine Geschichte insgesamt gut. Sie hat eine typisch altmodischen Gruselgeschichten-Aufbau, - der Mensch geht verantwortungslos mit einer Macht um, für die er nicht reif genug ist und bezahlt den Preis. Das schöne ist, dass die Menschen bzw. die zwischenmenschlichen Szenen recht menschlich und warmherzig rüberkommen, auch in Stellen unfreundlicher Konflikte.
Auch gibt es viele drollige Szenen oder Formulierungen, was das ganze noch sympathischer macht. Die saftigen, zum Teil slapstickartigen Splatterszenen erinnern mich an Filmklassiker wie Evil Dead oder Guinea Pig.

Was ich finde, was du noch trainieren solltest, bzw. was bei dir sicher mit der Zeit sich verbessern wird, ist dein Schreibstil, der noch nicht die volle Reife erreicht hat. Teilweise sind einige Stellen nicht elegant genug bzw. zu simpel formuliert, wie wenn ein etwas jüngerer Mensch sie geschrieben hätte (egal wie alt du jetzt wirklich bist). Ich bringe ein paar Beispiele, damit du besser verstehst, was ich meine:

Er musste ohnmächtig geworden sein. Alexander war gebadet in Blut und dem stinkigen braunen Fruchtwasser seiner ungeliebten Kinder. Er stöhnte, als er sich aufrichtete. In einigen der Wunden, mit denen sein Körper übersät war, pulsierte bereits die bevorstehende Entzündung.
Vorschlag, wieso, schreibst du nicht: Er musste wohl eine Weile ohnmächtig gewesen sein, jedenfalls fand er sich in einem regelrechten Blutbad wieder, und mit dem stinkigen Geruch von braunem Fruchtwasser in der Nase brach die Erkenntnis über ihn herein, dass er inmitten seiner ungeliebten Kinder aufgewacht worden war.
Sein Körper war mit Wunden übersät, in ihnen pulsierten heranwachsende Entzündungsherde.

Alexander benutzte Daumen und Zeigefinger wie eine Klemme, um den kleinen, grabenartigen Schnitt noch mehr zu weiten. Auch wenn die Bewegung genau die entgegen gesetzte war, fühlte er sich doch an das Pickelausdrücken erinnert. Natürlich tat es immer mehr weh, aber hielt man durch, wurde man mit einem erleichternden kleinen Platzen belohnt, nach dem der Schmerz dann wohltuendend nachlässt.
Oder hier: Daumen und Zeigefinger zu einer Klemme geformt, versuchte Alexander den länglichen Schnitt weiter aufzuklaffen. Er kam nicht umhin, sich bei dieser doch entgegengesetzten Bewegung ans Pickelausdrücken erinnert zu fühlen. Zupacken, den Schmerz aushalten, und man wurde mit einem erleichternden Aufplatzen belohnt, bei dem der Schmerz wohltuend nachlässt.

Als Alexander das Treppenhaus hinter sich gebracht hatte und gerade durch den Haupteingang raus wollte, öffnete sich die Wohnungstür der Vermieterin.
Gerade wollte Alexander, nachdem er das Treppenhaus hinter sich gelassen hatte, durch den Haupteingang nach draußen, da öffnete sich die Wohnungstür der Vermieterin.

Alexander bohrte die Finger seiner rechten Hand in die Augenhöhle in seinem Fußballen und riss das Sehorgan heraus, wobei er einen weiteren gellenden Schrei ausstieß. Er hielt den Augapfel in der Hand. Der Sehnerv hing noch daran und verband ihn weiterhin mit Alexanders Körper. Alexander machte eine reißende ruckartige Bewegung. Er spürte, wie etwas in seinem Körper gezogen wurde, das über sein Bein, durch seine Hüfte bis hoch zu seinem Kopf zu verlaufen schien. Der Nerv riss kurz hinter dem Augapfel ab.
Alexander bohrte die Finger seiner Rechten in eine Augenhöhle, die sich erdreiste, aus seinem Fußballen zu wachsen. "Argh!!", riss er das Sehorgan heraus. Grimmig starrte er auf den Augapfel, den er in seiner Hand hielt. Mit einem heftigen Ruck zog er daran und spürte, wie die Sehnervwurzel von seinem Zwischenhirn abriss und über die Hüfte bis zum Ausgang in der Fußsohle sich einen schmerzerfüllten Weg durch den ganzen Körper bahnte, nicht unähnlich dem wurmartigen Parasiten auf Discovery-Channel, der sich durch das Fleisch seines Wirtes nagt.

So, das waren meine Vorschläge, es sind keine perfekten Lösungen, du musst sie keineswegs wörtlich übernehmen, ich wollte dir nur den Unterschied zu wirklich lebhaften Bildern aufzeigen, und wie du einbisschen Abwechslungsreichtum in die Sätze einbringst, besonders die, die Abläufe beschreiben. Das ist wichtig, um ein gewisses Tempo in den Text einzubringen und die Leser zu fesseln. Gerade bei ekligen Metzelszenen liefert ein wenig Verspieltheit in den Formulierungen die richtigen Würze. ;)

Gruß
Thrombin

 

Moin Thrombin,

seinen Stil kann man immer weiter verbessern, sobald man aufhört, daran zu arbeiten, entwickelt man sich zurück. Allerdings sehe ich in deinen Vorschlägen eher Maßnahmen, die Dinge zu ... verschnörkeln. Genre-Literatur spricht meist eine andere Sprache als Günter, Siegfried, Martin & Co.

Besonders deutlich wird das hier:

Er musste ohnmächtig geworden sein. Alexander war gebadet in Blut und dem stinkigen braunen Fruchtwasser seiner ungeliebten Kinder. Er stöhnte, als er sich aufrichtete. In einigen der Wunden, mit denen sein Körper übersät war, pulsierte bereits die bevorstehende Entzündung.

Vorschlag, wieso, schreibst du nicht: Er musste wohl eine Weile ohnmächtig gewesen sein, jedenfalls fand er sich in einem regelrechten Blutbad wieder, und mit dem stinkigen Geruch von braunem Fruchtwasser in der Nase brach die Erkenntnis über ihn herein, dass er inmitten seiner ungeliebten Kinder aufgewacht worden war.
Sein Körper war mit Wunden übersät, in ihnen pulsierten heranwachsende Entzündungsherde.


Ich finde deine Version gut, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass du einfach aus vier Sätzen zwei gemacht hast.

"Argh!!", riss er das Sehorgan heraus.

Sowas geht gar nicht, finde ich.

Dafür ist Evil Dead aber super :). Guinea Pig, Asche auf mein Haupt, habe ich noch nie gesehen, kenne ich aber natürlich vom Hörensagen.

Danke für deine Kritik und deine Vorschläge!

Grüße
JC

 

Nachdem die Story ohnehin schon wieder oben steht, sag ichs nochmal, weil Dus nicht glauben magst: der Titel ist Erste Sahne. Ehrlich jetzt.

Ansonsten noch ein wenig Senf: ich meine auch, dass es andersrum ein abgeklopftes Klischee ist, dass ein typischer Bücherwurm nicht herumreist. Ich habe schon mal Leute bei einer langen Zugfahrt lesen gesehen. Jetzt ohne Scheiß. Ich lese ja auch sehr viel und war schon zweimal in Niederschnapping...

:D

 

Also ich fand die Geschichte ziemlich gut und ich kann auch viele Kommentare nicht so nachvollziehen, denn ich mag den Stil, in dem du sie geschrieben hast echt gerne. Ich habe mich bis zum Schluß mitreißen lassen und frage mich, was passiert wäre, wenn tatsächlich Sara die zwei Tropfen genommen hätte. WO wären ihr denn dann zwei Augen gewachsen? :hmm: Also ich habe nichts auszusetzen und werd jetze mal in deinen anderen Geschichten ein wenig schmöckern...

 

Schön und knitterfest sind alle Frauen aus Budapest,

nictita:

Niederschnapping ... südlich von Hannover fängt für mich Bayern an. Vielleicht ist der Bücherwurm einfach anders besetzt (als Begriff bedeutungsmäßig, nicht bezogen auf Personen) und man eckt an, wenn man ihn aus dieser festgefahrenen Bedeutung herausnimmt. Keine Ahnung, aber schön, dass ich nicht der einzigste bin, wo ihn so verstehen kann.

Seramona:

Ab einem bestimmten Level wird Stil mehr und mehr Geschmackssache (wenn ich mir diese kleine Großkotzigkeit mal erlauben darf) und lässt sich nicht so einfach in gut oder schlecht unterteilen. Freut mich, dass dir meiner gefällt.

Grüße
JC

 

Hi proof,
Jup! Klasse Ding! Lässt sich nicht anders sagen! Hab mich königlich unterhalten gefühlt. Man könnte vielleicht sagen, dass es ein wenig an Horror fehlt und das der "Grusel" nur durch den Ekel hervorgerufen wird, aber dafür hat die Geschichte einfach Humor. Wunderbar!
Stil gut, Text gut, Titel gut, alles GUT!

Viele Grüße...
morti

 

Vielen Dank, morti. Mehr kann ich da wohl nicht zu sagen.

 

Naja,

der Grund, warum mir deine Geschichte jetzt nicht sonderlich gefällt, und tatsächlich finde ich sie nach den Maßstäben einer Geschichte, die mir so saugut gefallen würde, dass ich sofort mit dem Schreiben aufhörte -- weil: wozu? -- wirklich nur sehr sehr mäßig. Hat was von Hänsel ohne Gretel. Die rotzige Haltung, mit der der Prot die Freudenreich bedacht hat, wirkt wie ein Mittel, die Situation doch noch irgendwie interessant zu gestalten.
Der ganze Augenkram, naja. Gehöre ja selbst auch eher zu den Ekelresistenten, auch wenn meine Ekelresistenz für eine Ausbildung zum Sanitäter vielleicht noch nicht ausreicht, qualitativ-quantitativ.
Jedenfalls war das eine zu früh geöffnete Auge für mich die einzige Stelle, an der die Geschichte für mich kurz interessant war, so ein bisschen mitleiderregend. :D

Vor längerer Zeit hatte ich mir in Schlaflosigkeit auch eine Horrorgeschichte ersonnen. Hab sie noch in derselben Nacht begraben auf dem Friedhof der mentalen Missgeburten.

Aber ich hab sie mit ner Prise Amusement gelesen, deine Story, handwerklich durchaus solide. Ab der Stelle jedoch, an der ihm der erste "Pickel" wuchs, war für mich alles klar. Begrub die Hoffnung auf eine echte Pointe und las die Geschichte runter.

Noch zwei Fehler gefunden:

Gimli der Zwerg nahm seinen angefangen Satz wieder auf.
  • Zu schnell geschrieben? >> angefangenen

Freundreich grinste. „Aber Junge …“
  • Dito >> Freudenreich

-- floritiv.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Florian,

die mir so saugut gefallen würde, dass ich sofort mit dem Schreiben aufhörte

Komische Einstellung. Sollte das nicht eher eine Motivation sein?

Vor längerer Zeit hatte ich mir in Schlaflosigkeit auch eine Horrorgeschichte ersonnen. Hab sie noch in derselben Nacht begraben auf dem Friedhof der mentalen Missgeburten.

Den Subtext - "wärst du mal so schlau wie ich gewesen und hättest es auch so getan" - kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen. Meine Geschichte hätte das Schreiben auch dann gelohnt, wenn sie (von den Kritiken ausgehend) nur einer Minderheit der Leser Spaß gemacht hätte. Du weißt schon, das Mädchen am Strand mit den ganzen angeschwemmten Seesternen, "für den einen hier macht es einen Riesenunterschied" und so weiter.

Vielleicht hast du dich um eine tolle Geschichte gebracht. Außerdem hatte ich nur ein Bild vor Augen (Gott, es bietet sich aber auch immer wieder sowas von an bei dieser Story :D), die Geschichte habe ich während des Schreibens drum herum gestrickt.

Ab der Stelle jedoch, an der ihm der erste "Pickel" wuchs, war für mich alles klar.

Echt? Dass dem Prot Augen aus allen Poren wachsen würden? Dass er sich selbst verstümmeln und letzten Endes erkennen (um nicht zu sagen SEHEN) würde, dass all die Selbstquälerei umsonst war? Du verarscht mich doch.

Danke für die Fehlerhinweise!

Grüße
JC

Oh, und, äh, RFM36 ...

HUBBALABBUBALLABUBBALABAB!

Danke fürs Lesen!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom