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Die Bürokraft
Eines Tages war sie plötzlich da, bekam den kleinsten Schreibtisch, den ältesten Bürosessel und eine museumreife Rechenmaschine, schwer und aus schwarzem Guss. Helfen sollte sie. Wem? Was? – Niemand war überlastet. Sie war nur da, um da zu sein. Um nicht irgendwoanders zu sein. Um nicht allein zu sein. Um zu helfen. Um leben zu können: Frau Freidl. Mit unilateralem meidlinger L.
Sie war immer sehr ruhig, sprach nie viel und wenn sie sprach, dann waren es Antworten auf Fragen. So richtig registrierte ich sie, als sie in der Teeküche hinter der Sekretärin stand, die in aller Ruhe ihr Gemüse fein säuberlich zerschnitt. Sie hatte Zeit, das Wasser kochte noch nicht. Frau Freidl stand still hinter ihr.
Ich wechselte einen Blick mit der Kassierin und sie deutete mir, zu ihr zu kommen. »Die ist nicht ganz dicht«, klärte sie mich, vermutlich die Frage in meinem Gesicht lesend, auf. »Aha …«, war meine karge Antwort und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Das Gemüse wurde endlich fertig, die Sekretärin bemerkte nun auch, dass Frau Freidl hinter ihr stand. Zwei erschrocken-komische Blicke wechselten und Frau Freidl deutete schüchtern auf den Kühlschrank, vor dem die Sekretärin eben noch stand. Zaghaft holte sie ihre Buttermilch heraus, bedankte sich dreimal in gebückter Haltung bei der Sekretärin und kehrte zu ihrem Platz zurück. Die Beine übereinandergeschlagen, den Blick auf das Fenster gerichtet und mit beiden Händen an der Buttermilchpackung saß sie da.
Bald wurde sie zum Lückenfüller, wenn die Stimmung absank – eine kleine Anekdote über Frau Freidl und der Tag war wieder heiter.
Auch wer sie noch nicht kannte, kannte sie bereits. Ihre Geschichte sprach sich bald herum. Und jeder nahm sie reaktionslos zur Kenntnis. Niemandem fiel ein, ein Gegenpol zu sein, auch mir nicht. Wahrscheinlich hatten wir alle keine Zeit, die Arbeit rief.
Frau Freidl wurde zum Freiwild. Als Bürokraft sollte sie ursprünglich der Sekretärin helfen, doch deren Arbeit strotzte vor Wichtigkeit, für die Frau Freidl nicht geeignet war. Alle Abteilungen durften Frau Freidl benutzen. Gab man ihr Zahlenkolonnen zum Rechnen, musste sie diese richtig in ihre Maschine hineindrücken, nicht -tippen. Auch eine mechanische Schreibmaschine hat man noch gefunden, die man ihr zur Verfügung stellte. Sie galt im Allgemeinen als sehr langsam.
Bevor sie in unser Büro kam, saß sie tagelang in der Wohnung neben ihrer toten Mutter. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte zuvor noch nie gearbeitet. Sie war es gewohnt, bei, mit und von ihrer Mutter zu leben, zu tun, was die Mutter für richtig hielt. Sie selbst war eine willenlose Hülle, die immer darauf wartete, gesagt zu bekommen, was als nächstes zu tun sei. So gesehen ersetzte die Arbeit die Mutter doch ganz gut …
Ihren Urlaub nahm sie sich immer, wenn gerade Schlussverkauf war. Trotzdem sah sie immer aus, als hätte sie das Gewand ihrer Mutter oder sogar Großmutter an. Nichts an ihr schien jung, nichts hatte Schwung, selbst, wenn es bunt war, schien es grau.
Tagtäglich irritierten mich diese steif übereinandergeschlagenen Beine, der Schuh hing an den Zehen und meistens wippte sie verkrampft damit. Auch ihr Gesicht war meistens angespannt und wenn man mit ihr sprach, fuhren die Pupillen nervös hin und her; die Stirn lag ohnehin meistens in Falten.
Ich wollte ihr so gerne helfen und konnte es nicht. Angst überkam mich, wenn ich daran dachte, in ihr Privatleben zu schauen, wissend, sie war nur ein Extrem. Ich setzte ihre Rechenmaschine während einer einsamen Überstunde außer Betrieb, damit sie eine neue bekam. Ich kochte Tee für sie mit und versuchte, ihr möglichst interessante Arbeit zu geben.
Bis zu jenem Schlussverkauf, nach dem kein Fuß mehr wippte.
Man suchte und fand sie in ihrer Wohnung. Einige leere Tablettenschachteln lagen seit zwei Wochen neben ihr.
- Wir waren alle zu schwach.