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Die Bürokraft

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20.11.2001
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Die Bürokraft

Eines Tages war sie plötzlich da, bekam den kleinsten Schreibtisch, den ältesten Bürosessel und eine museumreife Rechenmaschine, schwer und aus schwarzem Guss. Helfen sollte sie. Wem? Was? – Niemand war überlastet. Sie war nur da, um da zu sein. Um nicht irgendwoanders zu sein. Um nicht allein zu sein. Um zu helfen. Um leben zu können: Frau Freidl. Mit unilateralem meidlinger L.

Sie war immer sehr ruhig, sprach nie viel und wenn sie sprach, dann waren es Antworten auf Fragen. So richtig registrierte ich sie, als sie in der Teeküche hinter der Sekretärin stand, die in aller Ruhe ihr Gemüse fein säuberlich zerschnitt. Sie hatte Zeit, das Wasser kochte noch nicht. Frau Freidl stand still hinter ihr.
Ich wechselte einen Blick mit der Kassierin und sie deutete mir, zu ihr zu kommen. »Die ist nicht ganz dicht«, klärte sie mich, vermutlich die Frage in meinem Gesicht lesend, auf. »Aha …«, war meine karge Antwort und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Das Gemüse wurde endlich fertig, die Sekretärin bemerkte nun auch, dass Frau Freidl hinter ihr stand. Zwei erschrocken-komische Blicke wechselten und Frau Freidl deutete schüchtern auf den Kühlschrank, vor dem die Sekretärin eben noch stand. Zaghaft holte sie ihre Buttermilch heraus, bedankte sich dreimal in gebückter Haltung bei der Sekretärin und kehrte zu ihrem Platz zurück. Die Beine übereinandergeschlagen, den Blick auf das Fenster gerichtet und mit beiden Händen an der Buttermilchpackung saß sie da.

Bald wurde sie zum Lückenfüller, wenn die Stimmung absank – eine kleine Anekdote über Frau Freidl und der Tag war wieder heiter.
Auch wer sie noch nicht kannte, kannte sie bereits. Ihre Geschichte sprach sich bald herum. Und jeder nahm sie reaktionslos zur Kenntnis. Niemandem fiel ein, ein Gegenpol zu sein, auch mir nicht. Wahrscheinlich hatten wir alle keine Zeit, die Arbeit rief.

Frau Freidl wurde zum Freiwild. Als Bürokraft sollte sie ursprünglich der Sekretärin helfen, doch deren Arbeit strotzte vor Wichtigkeit, für die Frau Freidl nicht geeignet war. Alle Abteilungen durften Frau Freidl benutzen. Gab man ihr Zahlenkolonnen zum Rechnen, musste sie diese richtig in ihre Maschine hineindrücken, nicht -tippen. Auch eine mechanische Schreibmaschine hat man noch gefunden, die man ihr zur Verfügung stellte. Sie galt im Allgemeinen als sehr langsam.

Bevor sie in unser Büro kam, saß sie tagelang in der Wohnung neben ihrer toten Mutter. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte zuvor noch nie gearbeitet. Sie war es gewohnt, bei, mit und von ihrer Mutter zu leben, zu tun, was die Mutter für richtig hielt. Sie selbst war eine willenlose Hülle, die immer darauf wartete, gesagt zu bekommen, was als nächstes zu tun sei. So gesehen ersetzte die Arbeit die Mutter doch ganz gut …

Ihren Urlaub nahm sie sich immer, wenn gerade Schlussverkauf war. Trotzdem sah sie immer aus, als hätte sie das Gewand ihrer Mutter oder sogar Großmutter an. Nichts an ihr schien jung, nichts hatte Schwung, selbst, wenn es bunt war, schien es grau.

Tagtäglich irritierten mich diese steif übereinandergeschlagenen Beine, der Schuh hing an den Zehen und meistens wippte sie verkrampft damit. Auch ihr Gesicht war meistens angespannt und wenn man mit ihr sprach, fuhren die Pupillen nervös hin und her; die Stirn lag ohnehin meistens in Falten.

Ich wollte ihr so gerne helfen und konnte es nicht. Angst überkam mich, wenn ich daran dachte, in ihr Privatleben zu schauen, wissend, sie war nur ein Extrem. Ich setzte ihre Rechenmaschine während einer einsamen Überstunde außer Betrieb, damit sie eine neue bekam. Ich kochte Tee für sie mit und versuchte, ihr möglichst interessante Arbeit zu geben.

Bis zu jenem Schlussverkauf, nach dem kein Fuß mehr wippte.
Man suchte und fand sie in ihrer Wohnung. Einige leere Tablettenschachteln lagen seit zwei Wochen neben ihr.
- Wir waren alle zu schwach.

 

Eine Story, die nachdenklich zurücklässt, Susi!
Ihr denkt ihr war zu schwach?
Ja, das mag wohl angehen, fragt sich noch in welchem Sinne zu schwach!
Eine Bemerkung von mir könnte jetzt sein:
Unsere ganze Gesellschaft ist zu schwach. Hast Du Dich wie ihre Mutter verhalten?
Wie dem auch sei.
Inhaltlich gibt es nichts zu beanstanden, glasklar geschrieben.

Naja, bei uns heisst es museumsreife.... also das "s" fehlt, aber das ist wohl egal!

Frau Freidl ist wohl eher schwach gemacht worden, so wird es sein! Und den meisten Menschen fehlt dann eben das nötige Werkzeug zur Reparatur!

Einen Aufruf sehe ich nicht, eher sehe ich "Zur Kenntnisnahme"

Liebe grüsse stefan

(hab mir wieder keine zeit genommen!)

 

Liebe Susi,

dein letzter Satz ist wie ein Schlag in die Magengrube.
Und jetzt hab ich einen fürchterlichen Kloß im Hals.
Um ehrlich zu sein, deine Geschichte geht mir heftiger unter die Haut, als ich jetzt eingestehen mag,was übersetzt meint, dass du wieder mal eine sehr eindringliche gefühlvolle Geschichte über die Einsamkeit im Herzen geschrieben hast.

Und du weist auf etwas sehr Wichtiges hin, nämlich, dass jeder auf seine Weise verantwortungsvoll zu handeln hat. Hätte jeder der von dir beschriebenen Personen mehr Achtung vor dem Mitmenschen gelebt, dann wäre es vielleicht nicht passiert, dass sich jemand von diesen Mitmenschen verabschiedet.
Hätte... und vielleicht...,keineswegs gewiß.
Aber haben wir das Recht die Möglichkeit, dass deine Protagonistin so oder so aus dem Leben geschieden wäre, für uns als Alibi in Anspruch zu nehmen? Welch perfide Art sich von Schuld freizusprechen wäre das.

Hab Dank liebe Susi für so eine nachdenklich machende in die Verantwortung nehmende Geschichte!

Eine Kleinigkeit würde ich eventuell etwas anders formulieren:"Und jeder nahm sie reaktionslos zur Kenntnis." Eigentlich ist es doch so, dass sie ja grad nicht reaktionslos zur Kenntnis genommen wird, denn man lacht ja über sie und auf der anderen Seite wird sie totgeschwiegen, ignoriert, also eine Mischung.

Also jeder sah durch sie hindurch, wenn sie nicht grad Grund für Lächerlichkeiten bot.

Liebe Grüße
elvira

 

Hallo Susi!

Eine nachdenklich stimmende Geschichte. Solche Situationen bzw. Menschen kennen wohl die meisten von uns, und es fällt sicherlich vielen schwer, mit "Außenseitern" vernünftig umzugehen bzw. sie irgendwie zu integrieren. Manche wollen das auch gar nicht – sprich, manche wollen nicht integrieren, und manche vielleicht auch nicht integriert werden. Die Motive hierfür können sehr unterschiedlich sein. Bequemlichkeit, Ignoranz oder Arroganz sind wohl oft dabei. Auch Unmenschlichkeit. Wobei man bei dem Begriff "Integration" generell aufpassen muss, das kann man positiv und negativ sehen (von freundlich begegnen/aufnehmen bis zwingend gleichmachen gibt’s da wohl viele Nuancen).

Den Schluss verstehe ich so, dass Frau Freidl plötzlich nicht mehr da war – genauso plötzlich, wie sie einst aufgetaucht ist. Warum sie nicht mehr gekommen ist, weiß ich zwar nicht genau, aber auch da gibt es wohl Spielraum. Und mir fallen hauptsächlich Gründe ein, die weniger schön sind. Da geht es mir wie Iakita.

Ein paar Sachen sind mir im Text noch aufgefallen:

museumreif
>> museumsreif (steht, glaub ich, oben schon irgendwo!?)

Ich wechselte einen Blick mit der Kassiererin und sie deutete mir, zu ihr zu kommen.
>> "bedeutete mir" oder "deutete an" würde mir besser gefallen

Niemandem fiel ein, ein Gegenpol zu sein
>> Alternativvorschlag: "Niemandem fiel ein, einen Gegenpol zu bilden"
"bilden" heißt hier für mich, dass man aktiv werden muss; Passiv ( quasi von ganz alleine) ist man in der Regel kein Gegenpol.

Mit unilateralem meidlinger L.
hab ich leider nicht verstanden. Vielleicht kannst du für Aufklärung sorgen.

Ansonsten fand ich, dass die Geschichte gut gelungen ist.

Viele Grüße

Christian

 

Hi Häferl,

eine gut geschriebene Geschichte, in welcher du gut die Vereinsamung der Bürokraft und den unsensiblen Umgang der Mitarbeiter schilderst. In diesem Punkte spricht sie mich an, wie sie Archetyp und Lakita angesprochen hat.
Allerdings empfinde ich einen Bruch, eine Unlogik an der Stelle, an der du deiner Protagonistin sehr intimes Wissen über die Bürokraft in den Mund legst. So etwas erfährt man nur wenn man einen sehr positiven Kontakt zu jemandem hat. Durch die fehlende Logik erscheinen die Ausführungen künstlich dramatisierend, aufgesetzt und nehmen mir einen großen Teil der Wirkung.

@Archetyp, lakita und criss
kenne übrigens Frau Freidl. Sie hat in diesem Jahr während ihres Urlaubes einen wundervollen neuen Arbeitgeber gefunden, besser bezahlt, qualifiziertere Arbeit und angenehmes Betriebsklima. Da kann ich schon verstehen, dass sie keine Lust hatte bei den alten, unsympathischen Mitarbeitern Bescheid zu geben. :D :D (warum immer negativ denken?)

gruß vom querkopp

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Lakita, Archetyp und querkopp!

Danke Euch erstmal fürs Lesen!

Ich hatte ursprünglich noch einen Schlußsatz, den ich aber dann strich: "Das letzte Gehalt von Frau Freidl wurde einer wohltätigen Organisation gespendet - mangels Erben."

Ob ich ihn doch wieder dazugeben soll?

Wie am Beginn der Geschichte steht, wurde Frau Freidl aus rein sozialen Gründen aufgenommen - vielleicht auch nur, um die Quote der behinderten Beschäftigten zu erfüllen...
Daß die Kolleginnen öfter Scherze über sie machten, zeigt ihre eigene Unfähigkeit, sich näher mit ihr zu befassen. Was man nicht versteht, worüber man nicht wirklich sprechen mag, das zieht man doch ganz gern ins Lächerliche, dann fällt es leichter. - So sind wir Menschen...

Ach ja, das Meidlinger L: Das nennt man hier so. Dabei liegt die Zunge (faul, wie es Wiener nunmal sind) auf einer Seite, wird also schlampig gesprochen, was nicht unbedingt die Hochachtung vor einer Person ausdrückt...

Alles liebe
Susi

 

Liebe Susi!

Wieder einmal ist es dir gelungen, deinen gesalzenen Finger in eine offene Wunde der Gesellschaft zu legen. Mit deiner KG sprichst du mir aus dem Herzen.
Leider ist es wirklich so, dass Anteilnahme am Leben der Mitmenschen völlig aus der Mode gekommen ist.

In dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, wohnte ein Schulkamerad meiner Schwester sechs Wochen lang mit der Leiche seiner Mutter zusammen, aus Angst vor dem Kinderheim. Tatsache. Er hatte alles, was er an Wäsche finden konnte, über sie gehäuft.

Den Satz: "Das letzte Gehalt..." würde ich weglassen.
Er nimmt sonst etwas von der Härte.


Viele liebe Grüße
Antonia

 

Susi!!

Die Geschichte ist wunderschön und zugleich wie ein Schlag. Egoismus, mangelnde Courage, Härte, Verzweiflung, tiefer Seelenschmerz. All das fühle ich hier ganz sensibel verpackt. Ein großer Eindruck bleibt für mich. Ganz toll. Bitte mach öfter sowas!

Liebe Grüße - Aqua

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Häferl,

eine genaue Beobachtung einer scheinbar unscheinbaren Person. Gut gemacht! Deine Geschichte ließ sich sehr gut und angenehm lesen. Ich denke, so eine Frau Freidl kennt jeder.

Doch warum sie am Schluss nicht mehr da ist (ich denke, sie hat sich umgebracht) hat mich nicht überzeugt. Der Selbstmord war für mich aus deinen vorhergehenden Sätzen keine Notwendigkeit. Ich hätte gern noch zwingendere Gründe oder einen Anflug von Verzweiflung erkannt.

Was ist eigentlich eine Kassierin (vielleicht Kassiererin)? Das habe ich nicht verstanden.

Trotzdem, sehr gut geschrieben. Hut ab!:D

LG

PeterPan

 

Hi Antonia, Aqualung und PeterPan!

Ich danke Euch für die Aufmerksamkeit, die Ihr meiner Geschichte gewidmet habt!

Ja, es ist, wie wenn jemand neben der vollen Schüssel verhungert: Menschen sind da, aber keine Menschlichkeit - oder zu wenig. Ich hab jetzt noch einen Satz am Schluß eingefügt, um den Selbstmord zu verdeutlichen.
Frau Freidl sprach nie über ihre Probleme, fiel niemandem zur Last, indem sie einen eigenen Willen gehabt hätte. Und selbst, als sie die Tabletten nahm, machte sie es so, daß möglichst lange niemand etwas mitbekam, zu Beginn des Urlaubs.

Wie die Erzählerin, hatten vermutlich auch die anderen Angst, dort hinzusehen, wo nichts war. Angst davor, die leeren Stellen in sich selbst dabei zu sehen, ansehen zu müssen.

Alles liebe
Susi

 

Hi Häferl, wie die anderen schon gesagt haben, eine sehr eindringliche und gute Geschichte die unsere größte Schwäche offen legt: Unsicherheit.
Unsicherheit, die uns dazu treibt ander zu verurteilen , die uns dazubringt Mitmenschen auszuschließen , weil sie anderst sind.
Angst vor dem Fremden und letztlich vor uns selbst, vor unseren eigenen Fehlern, Angst die uns verbietet zu helfen.
Oh man, jetzt siehst du was du angerichtet hast , ich grüble wieder.
Grüble weil deine Geschichte mich berührt hat.

Der Witz ist das ich das ganze anfänglich auch noch anderst wargenommen habe.
Ich habe mich beim letzten Satz verlesen :
In meiner Wahrnehmung stand da: "Sie waren alle zu schwach", was ich auf die Tabletten bezog und damit bedeutete , dass selbst der Selbstmord nicht funktioniert hat. Das hat mich richtig kaputt gemacht. Eine Person die nichts hat, von allen verspottet wird und auch noch geistig behindert ist, ist nun nicht mal in der Lage ihr leiden zu beenden , weil das Schicksal sie schreien hören will.

Nungut, aber die tatsächliche version ist ebenfalls sehr bedrückend, offenbart sie doch das Scheitern der Menschlichkeit.

Gruß
Marot.

 

guten abend susi, also ich kann mich bezüglich inhalt deiner geschichte allen anderen gerne anschließen. hast du toll gemacht und voll ins schwarze getroffen.

Vielleicht habe ich etwas überlesen: ich habe erst in einem deiner kommentare von der "behinderung" gelesen. in der erinnerung war frau freidl nur schwach - sonst nichts.

nun aber zu deinem stil - darüber hat noch keiner etwas konkretes gesagt:

den ältesten Sessel
- endlich wieder den schönen wiener sessel, statt des garstigen deutschen bürostuhls! (lach).
Sie war immer sehr ruhig, sprach nie viel
- hier sagst du 2x das gleiche. oder war sie in ihrer art ruhig? dann müsstest du das ausdrücken.

Die Beine übereinandergeschlagen, den Blick auf das Fenster gerichtet und mit beiden Händen an der Buttermilchpackung saß sie da.
- tolle beschreibung für die einsamkeit.
Bald wurde sie zum Lückenfüller
- exakt getroffen!
Frau Freidl wurde zum Freiwild
- hier dachte ich zuerst an sexuelles freiwild - aber das meintest du natürlich nicht. wäre besser: sie wurde zum allgemeingut"?
Auch eine mechanische Schreibmaschine hat man noch gefunden, die man ihr zur Verfügung stellte. Sie galt im Allgemeinen als sehr langsam.
- schön, weil man nicht genau weiss, ob sich langsam auf frau freidl, oder auf die alte maschine bezieht.
So gesehen ersetzte die Arbeit die Mutter doch ganz gut...
- klare schlussfolgerung!
Tagtäglich irritierten mich diese steif übereinandergeschlagenen Beine, der Schuh hing an den Zehen und meistens wippte sie verkrampft damit. Auch ihr Gesicht war meistens verkrampft und wenn man mit ihr sprach, fuhren die Pupillen nervös hin und her, die Stirn lag ohnehin meistens in Falten.
- was hälst du davon, diesen absatz ganz zu streichen? ich meine, er trägt nicht viel zum erfolg der geschichte bei - nur zur länge.

ich freue mich auf deine nächste story, susi!
alles liebe. ernst

 

Liebe Häferl,

ja, eine für dich recht typische Erzählung, in der du soziale Ausgrenzung behandelst und dabei eine stille Anklage gegenüber einer angeblich un- bzw. entmenschlich(t)en Gesellschaft mitschwingen lässt. Bei dieser Geschichte fragte ich mich allerdings schon, ob diese vordergründig so einfache Rechnung denn aufgehen kann: Dass nämlich jemand in gewisser Hinsicht um so schwächer ist, je unsozialer er sich gibt. Das ist nun mal auch eine Frage des Charakters sowie der Umstände. Und der menschliche Charakter besteht unleugbar auch noch aus weit mehr Facetten als nur dem der Mitmenschlichkeit oder etwa der Angst. Weitverbreitete Unaufgeklärtheit und eine daraus resultierende Unmündigkeit der Menschen ist ebenso eine Quelle sozialer Missstände. Diese Eigenschaft als allgemeine "Schwäche" auszulegen greift zu kurz. Zumindestens verstand ich die abschließende Erkenntnis der Erzählerin, in die sie sich bemerkenswerter Weise auch selbst miteinbezieht, in dem Sinne, dass ihre Mitmenschen ihre mehr oder weniger subtil angelegte Angst vor dem Fremden nicht zu überwinden vermochten. Und das deutet sie ja schließlich auch an.

Was mir noch auffiel:

Einige leere Tablettenschachteln lagen seit zwei Wochen neben ihr.
Wer kann wissen, dass diese Schachteln nicht auch erst seit gestern, seit ein paar Tagen oder auch genau eine Woche neben ihr liegen? Hat die Erzählerin vielleicht vor ein paar Tagen mal kurz bei Frau Freidl vorbeigeschaut und gesehen, dass die Schachteln auch dann schon neben ihr lagen? ;) Hier kommen sich Logik und dramaturgische Stilmittel unverträglich ins Gehege. Ich würde die "zwei Wochen" einfach weglassen. Es kommt auch so schon schockierend genug rüber!

Ansonsten find ich deine Erzählung gut und eingängig geschrieben. Nirgendwo wirkt sie etwa langatmig oder umständlich ausgedrückt. Im Gegenteil treffen viele Formulierungen und Bilder genau den von der Erzählerin mutmaßlich beabsichtigten Eindruckes des beschriebenen Hergangs des plötzlichen Auftauchens und ebenso plötzlichen Verschwindens der Frau Freidl.

Deshalb: :thumbsup:


Gruß
Philo-Ratte

 

Marot, Ernst & Philo-Ratte - Danke fürs Lesen!

Die vorgeschlagenen Verbesserungen werde ich zum Teil bis Sonntag umsetzen, den Absatz (Ernst) nehm ich aber nicht raus. Er ist der prägendste Eindruck, den die Erzählerin von Frau Freidl behalten hat, bei dem die innere Verkrampftheit so deutlich auch nach Außen getragen wird.

Was die Tablettenschachteln betrifft (Ratte) - gut, ich nehm die 14 Tage raus. Obwohl es natürlich klar war, daß sie solange dort gelegen sind, weil ja auch der Todestag festgestellt wurde. Und irgendetwas sagt mir, daß die Schachteln genausolang dagelegen sind...

Diese Eigenschaft als allgemeine "Schwäche" auszulegen greift zu kurz. Zumindestens verstand ich die abschließende Erkenntnis der Erzählerin, in die sie sich bemerkenswerter Weise auch selbst miteinbezieht
Der gesellschaftspolitische Aspekt sollte natürlich da sein - aber im Grunde genommen ist es ein Schuldgeständnis der Erzählerin, die ganz einfach versagt hat...

Alles liebe
Susi

 

Hallo Susi,

habe gerade diese ziemlich erschütternde Geschichte von dir ausgegraben und bin sehr beeindruckt. So etwas passiert jeden Tag, die Geschichten hinter den knappen Todesanzeigen dürften voll davon sein. Sehr gut hat mir die Formulierung gefallen: "Auch wer sie noch nicht kannte, kannte sie bereits." Knapp und präzise. Sagt eigentlich schon alles.

Viele Grüße
Hajku

 

Hallo Hajku!

Danke fürs Lesen und Kommentieren der Geschichte! :)
Ganz besonders freu ich mich natürlich darüber, daß sie Dir gefallen hat und daß Du sie aus den Tiefen wieder hervorgeholt hast.
Eigentlich sollte ich das ja als Ansporn nehmen, sie zu überarbeiten, da sie ja schon älter ist und ich heute ein paar Dinge besser machen würde, allerdings muß ich sagen, daß sie sich da schon hinter ein paar anderen anstellen muß... :shy:
Ich glaube, ich werd mir meine Geschichten mitnehmen, wenn ich im Juli auf Urlaub fahre, und sie am Strand liegend überarbeiten. :D

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Häferl


Ich hab gleich mal mit der ersten Geschichte begonnen :) Und ich muss sagen sie gefällt mir, obwohl ich normaler Weise nicht in Alltag lese. Mit sehr leisen, aber realistischen Tönen zeichnest du das sogeannte Gemobbtwerden und die fortschreitende Vereinsamung Frau Freidls nach - aus der Sicht eines der Mobber. Gleich der erste Satz führt den Leser gut in Geschichte und Atmosphäre ein. Und die ist kühl, mitleids- und hoffnungslos (da din ich mir jetzt nicht so sicher ob ich die richtigen Wort getroffen habe :))

Stilistisches:
Obwohl der Text ausgewogen ist und sich wunderbar flüssig liest (das soll ein Lob sein ;) ) sind mir noch ein paar Dinge aufgefallen. Vielleicht schaust du sie dir mal an:

daß Frau Freidl hinter ihr stand. Zwei erschrocken-komische Blicke wechselten und Frau Freidl deutete schüchtern auf den Kühlschrank, vor dem die Sekretärin eben noch stand.
Ist zwar keine echte Wortwdh, aber ich bin drüber gestolpert. Wie wäre ein "den die Sekretärin bis eben noch versperrt hatte" ?

Auch eine mechanische Schreibmaschine hat(te) man noch gefunden, die man ihr zur Verfügung stellte.
Bin ich mir nicht ganz sicher ;)

Bevor sie in unser Büro kam, saß sie tagelang...
In diesem Abschnitt springt die Erzählerperspektive! Der bisherige Ich- Erzähler kann das unmöglich wissen. Füge ein "Ich hatte gehört, dass..." vorne ran und alles ist gut.

Ich wollte ihr so gerne helfen und konnte es nicht
Aha! Jetzt auf einmal :dozey:

Bis zu jenem Schlußverkauf, nach dem kein Fuß mehr wippte.
Wunderschönes Bild! Wäre aber noch stärker wenn du dieses Fußwippen über den ganzen Text verteilen würdest (Anfangszene, Buttermilchszene, etc.)

Genug rumgemäkelt. Sehr gute Geschichte!

gruß
Hagen

 

Lieber Hagen!

Erst einmal danke fürs Lesen und Ausgraben! :)

Ja, stilistisch ist die Geschichte, äh, 2002 eben. ;) Die vielen Wortwiederholungen, die mir gerade aufgefallen sind, werde ich in den nächsten Tagen rausbügeln, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich sie generell überarbeite (:hmm: ich lese gerade, daß ich das vor hatte...). Aber irgendwie sind so alte Geschichten auch Entwicklungsdokumente, und ich will ja auch nicht leugnen, daß ich hier auf kg.de viel gelernt hab. Wie viel, das fällt mir dann immer beim Lesen dieser alten Geschichten auf. :)

Inhaltlich sollte es eigentlich nicht so ganz Mobbing darstellen. Vielmehr die Hilflosigkeit, das Nicht-Wissen, wie man mit Menschen wie Frau Freidl umgehen soll, wie man an sie herankommt. Wenn man lieber nichts sagt, bevor man etwas Falsches sagt. Das Lachen über sie ist Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit.

In diesem Abschnitt springt die Erzählerperspektive! Der bisherige Ich- Erzähler kann das unmöglich wissen. Füge ein "Ich hatte gehört, dass..." vorne ran und alles ist gut.
Es kommt wohl nicht gut genug raus, daß sie ja nur aufgrund ihrer Vorgeschichte aufgenommen wurde, und deshalb auch alle davon erfuhren. Die Kassierin, die der Erzählerin sagt, die sei nicht ganz dicht, macht das eigentlich, um ihr seltsames Verhalten zu erklären, quasi ein "Schau nicht so, die ist behindert".

Wunderschönes Bild! Wäre aber noch stärker wenn du dieses Fußwippen über den ganzen Text verteilen würdest (Anfangszene, Buttermilchszene, etc.)
Freut mich sehr, daß Dir dieses Bild gefällt, das hat mir nämlich beim Schreiben auch gefallen. Es über den ganzen Text zu verteilen, ist aber eine so gute Idee, daß ich mir jetzt doch überlege, die Geschichte rundumzuerneuern. :)
Ich glaub, ich brauch mal kg-Urlaub, damit ich zum Umsetzen all meiner Vorhaben komme...:lol:

Danke nochmal fürs Lesen und Deine Gedanken dazu,

alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo Häferl,

deine Geschichte hat mich sehr traurig gemacht, denn leider schildert sie nur dass, was tagtäglich überall vorkommt. Geschehnisse, bei denen sich wohl jeder ein wenig ertappt fühlt, weil man oft genug einfach nicht wissen und sehen möchte. Zum Glück geht das meistens nicht so schlimm aus, wie in deiner Geschichte - trotzdem sollte sich beim Lesen deiner Geschichte wohl jeder an die eigene Nase fassen und darüber nachdenken, wann er selbst zuletzt so oder ähnlich gehandelt hat.

Mir ist aufgefallen, dass diese Geschichte stilstisch keinesfalls mehr deinem heutigem Niveau entspricht. Du bist wirklich sehr viel besser geworden. Es ist richtig interessant, wenn man sieht, wenn sich die alteingesessenen KG.ler entwickelt haben.

LG
Bella

 

aus gegebenem anlaß
Eine Kritik als Rachakt also? Nur übersiehst Du dabei, daß diese Geschichte ziemlich alt ist, Deine aber neu war. Und Rache-Kritiken brauch ich sowieso nicht, ich verteile nämlich auch keine.

 

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