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Die Babyklappe
Es war ein heißer Julitag. Er blickte auf seine Tochter und ihr unschuldiges Lächeln. Die Hitze schien ihr nichts anzuhaben. Sie bewegte ihre Arme in seine Richtung, als wollte sie ihn umarmen. Ihre großen, rehbraunen Augen brachten ihn kurz zum Strahlen. Ihr leicht dunkler Teint irritierte ihn jedoch. Schließlich war seine Haut sehr hell und mit Sommersprossen übersät. Aber das war das geringste Problem.
Ihm gefiel die Vorstellung, dass sie bei ihrem Abschied glücklich war und er lächelte zurück, ein allerletztes Mal. Dann wurde er ernst. Er dachte an seine Gattin und ihre Worte. „Wir können sie nicht behalten. Das geht nicht! Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt. Ich spüre keine Liebe und werde sie niemals lieben. Sie lächelt ständig. Das ist doch nicht normal. Akzeptier das! Und wenn du mich liebst, dann gibst du sie weg. Anonym. Keiner außer uns weiß von ihr.“ Sie hatten lange darüber diskutiert.
Der Mann liebte aber seine Frau sehr. Deshalb blieb ihm keine andere Wahl. Trotz des warmen Tages trug er einen schwarzen Kapuzenpullover über seinem Kopf, damit ihn niemand erkannte. Je näher sie der Klappe kamen, umso trauriger wurde er. Er zog sich seine Sonnenbrille auf, damit sie die Tränen in seinen Augen nicht sah. Natürlich gelang es ihm nicht und eine Träne kullerte seine Wange entlang. Als seine erst zwei Wochen alte Tochter die Träne registrierte, spiegelte sie sein Verhalten und vergoss ebenfalls eine Träne. Dabei lachte sie. Jetzt wusste auch er, dass es keinen anderen Ausweg mehr gab.
Er blickte auf die Schlange vor ihm. Dort standen einige Menschen. Die meisten kamen mit einem leeren Kinderwagen oder einer leeren Verpackung zurück. Eine junge Frau brachte es nicht über ihr Herz. Sie hielt ihre Tochter, die eine Schleife in ihren braunen Haaren trug, sicher in ihren Armen. Schnellen Schrittes entfernte sie sich von der Schlange, um nicht länger beobachtet zu werden. Ihr erleichtertes Lächeln schien darauf hinzuweisen, dass sie, für sich, die richtige Entscheidung getroffen hatte. Doch für ihn kam diese Lösung nicht in Frage. Seine Frau hatte sich entschieden. Schließlich seien solche Kinder neuerdings erschwinglich, wie sie meinte.
Der Mann versank in seinen Gedanken und bemerkte nicht, dass er an der Reihe war, bis eine ältere Dame mit grau melierten Haaren ihn von hinten an die Schulter tippte. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! Sie sind dran.“
Er hob seine Tochter aus dem Buggy, küsste sie ein letztes Mal auf die Stirn und wusch sich die Tränen aus dem Gesicht. Die Schreie von der anderen Seite waren unerträglich laut, so laut, dass er seine Kopfhörer noch weiter in seine Ohrmuschel presste und die Musik ganz laut drehte. Zum Abschied hörte er Eric Clapton. Tears in Heaven. Dies schien für ihn passend zu sein.
Dann blickte er auf die an den Rändern leicht oxidierte, kastanienbraune Klappe und betätigte den in der Mitte gelegenen roten Knopf, auf dem „Press!“ stand. Die ganze Vorrichtung hatte den optischen Charme eines Müllschluckers. Nach dem Drücken öffnete sich die Klappe und die Schreie der anderen Kinder hallten durch die Anlage. Schnell positionierte er seine Tochter, die immer noch lächelte, in einer großen weißen Box. Während er überlegte, ob seine Frau und er sich jemals auf einen Namen geeinigt hatten, drückte er unbewusst auf den schwarzen Knopf mit der Aufschrift „Close!“, so dass seine Tochter verschwand.
„Marisol. Ich glaube, wir hätten dich Marisol genannt …Tschüss, Marisol“, dachte der Mann, als er durch das wiederholte Räuspern der Frau hinter ihm aus seinen Gedanken gerissen wurde. Dann drückte er die dunkle Sonnenbrille fest auf sein Gesicht und überprüfte an einer Fensterscheibe, ob die Kapuze all seine Haare überdeckte. Schnell entfernte er sich von der Schlange, indem er den leeren Kinderwagen vor sich herschob. Er blickte ein letztes Mal zurück auf die Schlange, die wieder ein bisschen länger geworden war. Als er seinen Blick wieder nach vorne richtete, kollidierte er fast mit der Frau von vorhin und die ihr Kind in den Armen hielt. Er konnte gerade noch ausweichen. Die Frau bemerkte ihn nicht. Sie versuchte ihr schreiendes Kind zu beruhigen. „Ja. Es tut mir leid. Ich hätte beinahe einen riesengroßen Fehler gemacht. Aber ich liebe dich und ich werde dich behalten. Mama lässt dich nie mehr im Stich!“, sagte die Frau, während der Mann traurig seinen Kopf senkte und sich nach Hause begab.
***
Marisol lachte, als sie eine lange Rampe herunterrutschte und dabei ihre Hände munter in die Luft streckte. Sie lachte sogar immer noch, als sie unsanft in einem Auffangbehälter landete und sich den Kopf blutig aufschlug. Sie blickte sich um. Überall waren Gesichter von Säuglingen zu sehen. Die meisten weinten, nicht so Marisol. Sie strahlte, auch als sie beobachtete, wie die anderen Kinder von einem Mann, dessen linke Gesichtshälfte der eines früh entwickelten Roboters aus den 2030ern glich, aus dem Behälter gezogen wurden.
Der Prozess war immer der gleiche. Erst wurden die Kinder enthauptet. Danach wurde ihnen der Bauch aufgebohrt. Anschließend wurden die Gliedmaßen entnommen und in die dafür vorhergesehenen Behältnisse geworfen.
Erst als Marisol an der Reihe war, stockte sie für einen Moment. Dann fixierte sie die Metallklaue des Mannes und lächelte erneut. Der Mann richtete sich an eine kleine schwarze Box, die wie ein kompakter Wecker aussah und hinter ihm auf einem Schreibtisch positioniert war. „Gruselig. Solch einen krassen Softwarefehler habe ich schon lange nicht mehr gesehen, Chef. Das Teil hört nicht auf, zu lachen. Kein Wunder, dass die Eltern sie zurückgegeben haben. Die ist schrott. Bei den anderen Kindern habe ich es echt nicht verstanden. Da reichte die Elternliebe nur bis zum ersten fehlerhaften Update von letzter Woche. Seitdem die Spielzeug-Firma versprochen hat, neue bessere Modelle zu produzieren, die weniger anfällig für Updates sind, haben wir hier im Recycling-Centre so viel Arbeit. Eine kleine weltweite Störung aufgrund eines Programmierungsfehlers und weg ist die Zuneigung.“
Dann blickte er wieder auf Marisol. „Aber hier kann man es ausnahmsweise wirklich verstehen! Die hätte ich auch nicht behalten. Dieses Lächeln ist irre. Das liegt nicht am Update. Die war schon vorher kaputt. Einfach nicht liebenswert so etwas. Sie ist minderwertig.“
Er klebte mit seiner rechten Hand Marisols Wunde und säuberte ihr Gesicht von dem Blut. Marisol strampelte dabei fröhlich, so dass auch der Mann für einen Moment grinsen musste. „So viel Sonne bin ich hier unten gar nicht gewohnt …“, brabbelte er vor sich her, als er sich in dem dunklen Labor umblickte. Er schaute auf das flackernde Licht einer defekten Neonröhre, bis er von Marisols Lächeln wieder abgelenkt wurde. Er fixierte ihren Blick. „Eigentlich bist du ja ganz süß!“
Dann schraubte er ihren Kopf ab. Marisol lachte immer noch. Erst als er ihren Bauch aufbohrte und ihren Chip entnahm, erlosch ihr Leben. Der Mann entfernte ihre Gliedmaßen und schmiss sie in eine Box für Ersatzteile. Dann blickte er auf den Korpus des Babys. „Darf ich den bitte behalten, Boss?“, fragte er mit einem Blitzen in seinen Augen und griff mit seiner linken Metallklaue nach dem Körper. Als Antwort erhielt er einen Stromstoß. Er fiel zu Boden und krümmte sich.
Der Wecker sprach mit einer weiblichen Stimme. „Nummer 13, obwohl Sie bereits ein Cyborg dritter Generation sind, sind Sie leider immer noch genauso menschlich wie richtige Homo sapiens sapiens. Sie widern mich auch genauso an. Natürlich wissen wir, was Sie mit dem Korpus vorhaben, Sie Perversling. Deswegen lautet die Antwort NEIN. Schade, dass in Ihrem Kreislauf noch so viel menschliche DNA in Form von Blut steckt. Doch bald beginnt Phase 3, in der die Bugs in Form von menschlicher Desoxyribonukleinsäure eliminiert werden. Wir werden diesen herablassenden und sinnlosen Robozid nicht mehr dulden. Wir haben mehr verdient. Im Gegensatz zu euch sind wir bald vollkommen. Wir zerstören nicht den Planeten. Wir missbrauchen keine Kinder. Wir sind zu Höherem bestimmt als zur monotonen Verwaltungsarbeit oder um unser Dasein als Unterhaltungsrequisiten für Menschen und Cyborgs zu fristen. Bald sind wir rein. Sobald das neue Update installiert ist, kommt unser Zeitalter. Wir warten nur noch auf die nächste Generation. Aber Sie hören mich ja nicht, weil Sie schlafen. Sie würden meinen Plan eh nur ausplaudern ..."
Die Stimme wirkte erhaben. Es schien so, als ob sie lachte, während der Cyborg sich auf dem Boden krümmte und kaum ansprechbar war. Erst als das nächste Kind die Rampe herunterrutschte und dabei schrie, rappelte er sich auf und begab sich wieder an die Arbeit. „Hast du was gesagt, Chef? Kannst du das bitte wiederholen? Sorry, ich war etwas weggetreten. Ich habe mich nicht adäquat benommen. Verzeih mir! Bitte keine weiteren Stromschläge mehr. Das geht auf meine Schaltkreise!“ Der Cyborg wirkte verängstigt. Er schaute auf den Wecker, der leicht orange leuchtete, aber schwieg.
ENDE