- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Die Bar „Chez Jean“ am Pariser Stadtrand
Die Bar gehört zu einem dieser Hochhäuser aus den 60er Jahren, schnell hochgezogen, viele Menschen, keiner kennt sich. An einer Straße gelegen, an der man nie einen Parkplatz findet, weil immer alles voll steht. Auf dem Bürgersteig hasten die Menschen vorbei. Kein Grund, stehen zu bleiben.
Einziger möglicher Begegnungsort die Bar. Eine Theke mit zwei Bierzapfhähnen. Dahinter ein großer Wandspiegel mit einem Regal, das voll steht mit Schnaps, Ricard, Whisky, Rum, Wodka und anderen Vergiss-das-Leben-Junge-Erheiterungen. An der Kasse kann man Zigaretten, Lottoscheine, Süßigkeiten, Kreuzworträtsel und Tageszeitungen kaufen. Zum Zeit totschlagen.
Auf den kalten Kunstledergarnituren, beige, mit Zigarettenbrandlöchern, kann man den grau verregneten Tag an sich vorbeisiechen sehen. Kostenloser Blick auf parkende Autos und gestresste Passanten.
Die Bar heißt „Chez Jean“. In einer Stadt, in der ein paar hunderttausend Männer mit Vornamen Jean leben, muss man sich fragen, ob der Barbesitzer diesen Namen nicht ausdrücklich gewählt hat. Nur nicht auffallen.
Um 8 Uhr morgens sind drei Gäste da. Es riecht nach Zigarettenqualm und schalem Bier. Man fragt sich, wie es möglich ist, dass Zigarettenpapierchen und Kippen schon jetzt den Boden vor der Theke pflastern, obwohl seit Ladenöffnung um 6 Uhr höchstens ein Dutzend Gäste da waren.
Im Moment hält Josette, eine Mieterin aus dem Hochhaus, die Festung; sie rührt aufgeregt erzählend in ihrem Kaffee an der Theke. Richard, der Arbeitslose mit seinem Schäferhund, sitzt in einer dieser antiquierten Sitzecken und rubbelt an seinem dritten Rubbellos. Der große Hund hechelt unter der Bank. Ein weiterer, dem Stammpublikum unbekannter Gast, Anzug, Schlips, schlürft ebenfalls an seinem Kaffee, schiebt sich ein trockenes Croissant in den Mundwinkel.
Jean mustert ihn von seinem Arbeitsplatz hinter der Theke: „Der hat sich hier verlaufen.“ Er wischt seine Messingtheke mit dem feuchten Tuch ab. Als er die leere Kaffeetasse des Unbekannten wegräumt, nickt dieser: „Noch einen.“
Es ist Josettes Stunde. Sie ist jeden Tag um diese Uhrzeit da. Sie schiebt unentwegt ihre dicke Hornbrille zurück auf die breite Nase. Die Wurzeln der nach hinten zu einem Zopf zusammengebundenen, schwarz getönten Haaren sind weiß. Die sechzigjährige Dame ist dick und schwitzt, auf der Stirn bilden sich kleine Perlen. Das ist nicht verwunderlich, denn in dem gut geheizten Lokal hat sie ihren schweren Mantel nicht abgelegt.
Aus den Tiefen ihrer Taschen hat sie einen zerknitterten Brief gefischt, auf den sie mit Grossbuchstaben die Adresse anbringt und dann frankiert.
Jean kratzt sich seinen grau melierten Stoppelbart: „Was hat die Alte heute wieder?“
„Kennst du die Geschichte von unserem Sicherheitsmann?“, fragt sie.
„Nein.“
„Noch ein Bier“, winkt Richard von der Sitzgruppe her.
„Weißt du, Jean, wir hatten doch einen Sicherheitsmann in unserem Hochhaus.“
„Richtig“, erinnert sich Jean beim Zapfen, „aber ist der nicht…“
„Genau! Entlassen worden“, ergänzt Josette.
„Und?“, will der Barmann wissen.
„Kürzlich traf ich ihn wieder.“
„Wo?“
„In seiner Loge.“
„Aber er ist doch…“
„Genau, aber er führte sich auf, als ob er immer noch im Dienst wär. Sagte den Schuljungs, Müll aufheben, einer Nachbarin verbot er, das Fahrrad in den Haupteingang mitzunehmen.“
„Nein?“
„Doch, er führte sich auf, als ob er immer noch der Sicherheitsmann vom Dienst wär, was sag ich, als ob ihm das Hochhaus gehören würde!“
„Also wirklich!“
„Ein richtiger Bulle, dabei ist er doch arbeitslos. Ein Aufpasser-Typ, wollte mir gar verbieten…“
Ein junge Frau, oder soll man noch sagen, ein Mädchen, betritt etwas verlegen die Bar. Alle männlichen Blicke richten sich, wie von einem Magneten gedreht, zu dem hübschen Gewächs.
„Bonjour, ein Glas Wasser bitte.“, spricht sie Jean an.
Jean kennt das Gesetz, dass jeder zu jeder Zeit ein Glas Trinkwasser in einer Gastwirtschaft kostenlos erfragen kann. Reich wird Jean nicht davon, aber in diesem Fall…
Das junge Ding geht sich durch die offenen braunen Haaren und fragt: „Ich wollte fragen…“
Jean, Richard und Josette kennen die Antwort, bevor die Frage gestellt worden ist.
Doch Josette hat keine Zeit für diese Mätzchen: „Sie sind eine Metro-Station zu früh ausgestiegen; sie fahren weiter Richtung La Défense; an der Haltestelle den linken Ausgang benutzen. So kommen Sie direkt in die Uni, Mademoiselle. Auf Wiedersehen.“
Die Brünette hebt verwundert die Augenbrauen und sagt dann aber artig: „Merci.“, bevor sie das Glas abstellt und wortlos die Bar verlässt.
„Du solltest ein Schild aufstellen, Jean“, grummelt Josette und packt ihren frankierten Brief wieder ein.
„Jaja“, murmelt der und räumt kommentarlos Josettes Tasse ab.
Die alte Frau weiß, dass sie den anwesenden Herren einen Small-Talk mit der hübschen Studentin geklaut hat. Auch fühlt sie, dass keiner das Ende der Geschichte vom entlassenen Sicherheitsbeamten hören will.
„Wie man hier behandelt wird“, entfährt es der Alten.
„Zahlen bitte“, sagt jetzt der Mann im Anzug. Wahrscheinlich denkt er, dass er jetzt alles Wissenswerte über „Chez Jean“ kennt. Und wahrscheinlich hat er nicht Unrecht damit.
„4 Euro 50.“, schnoddert ihm Jean entgegen, nachdem er rasch im Kopf den Krawatten-Zuschlag berechnet hat.
„Wie man hier behandelt wird“, wiederholt die dicke Frau.
„Was willst du, Josette?“, fragt Jean rundheraus.
„Das fragst du mich? Wie behandelst du deine Kunden? Hast du ein nettes Wort für uns übrig? Fragst du mich, ob ich noch einen Kaffee möchte?“
Jean denkt: „Das wäre das erste Mal in zwanzig Jahren.“
„Aber nein“, fährt die Bemantelte fort, „husch, husch, wird man hier abserviert. Und zahlen. Bei dir muss immer die Kasse klingeln!“
Jean starrt sie an und beginnt unwillkürlich die Biergläser zu putzen: „Was will sie?“, fragt er sich.
„Wann habe ich schon mal einen Kaffee gratis bekommen?“
Richard beruhigt seinen hechelnden Hund, der seit Beginn von Josettes Rede knurrt.
„Aber eins sage ich dir, Jean, heute hast du den Bogen überspannt, 200 Meter weiter ist die nächste Bar, heute habt ihr mich das letzte Mal hier gesehen.“
„Liebe Josette…“, fängt Jean behäbig an.
„Nein, nichts liebe Josette, ihr habt mich zum letzten Mal hier gesehen“, die Schweißperlen auf ihrer Stirn werden größer, „euch würde es gar nicht auffallen, wenn ich eines Tages nicht mehr kommen würde.“
„Das darfst du nicht sagen, Josette“, entgegnet Jean.
„Ihr vergesst mich schnell!“, strömt es aus ihrem Mund. Mit einer ruckartigen Bewegung wendet sie sich von der Theke ab, schaut auf die graue Straße, auf die leeren Blechkarrossen vor dem Hochhaus.
„Josette“, er berührt sie leicht an der Schulter; sie zuckt zurück.
Er beugt sich zu ihr vor, atmet tief durch, spricht in ihren Rücken: „Josette, Josette, an dem Tag, an dem du nicht kommst, schließe ich meine Bar zu, gehe ins Hochhaus, steige das Treppenhaus hoch zu deiner Wohnung.
Dort klingele ich an deiner Tür.
Und ich klingele solange, bis du mich hörst.
Und ich warte solange, bis du mir aufmachst.
Dann öffnest du mir, und wir gehen gemeinsam hier nach unten in unsere Bar und trinken einen Kaffee.“
Die Tür schwenkt auf, ein Passant kommt herein: „Eine Packung Marlboro.“
Jean hebt den Kopf: „Einen Moment, der Herr.“