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Die Beerdigung
»Morgen ist es so weit. Endgültig. Ich halte es nicht länger aus.«
Der letzte Eintrag, den ich gestern Nacht in meinem Tagebuch verfasst habe. Es waren viel zu viele, die Bücher stapeln sich schon um den Schreibtisch. Sie ekeln mich an. Ein Haufen Müll, vollgestopft mit sinnlosen Worten über sie. Wie viele Stunden habe ich dort gesessen, im schwachen Licht der Schreibtischlampe, schreibend und fluchend, leidend?
Jetzt ist sie ausgeschaltet und es ist dunkel. Den ganzen Tag saß ich im Wohnzimmersessel, habe eins der Bücher in den Händen gehalten und nicht einen Satz gelesen. Stattdessen wanderte mein Blick immer wieder durchs Fenster auf die paar alten, trostlosen Häuser, über die Felder unterm grauen Himmel und fixierte schließlich die Kirche und den Friedhof. Ich vergaß zu essen, war gelähmt von einer ungewohnten Schwere.
Beim Gedanken an mein Vorhaben produzieren meine Hände Schweiß, den ich an meiner Jeans abreibe.
Behutsam nehme ich das ungelesene Buch von der Fensterbank und gehe über den Teppich in den Flur. Nirgendwo brennt Licht, ich kenne das kleine Haus wie ein Blinder. Drei Schritte über den hohlklingenden, knarzenden Dielenboden, dann berühren meine Stiefel den großen Sack. Ich nehme meine Jacke von der Garderobe, wo auch die Jacken meiner Eltern immer noch hängen, der Hut meines Vaters, alles umhüllt von einem muffeligen Geruch. Da fällt mir ein: Etwas fehlt, beinahe hätte ich es vergessen. Ich hole das Shirt aus dem Schlafzimmer, es leuchtet im Dunkeln, krallt sich das wenige Licht, um es danach abzuweisen, so wie sie mich. Mittlerweile ist ihr Geruch, das Parfum, nicht mehr wahrzunehmen. Mein Gehirn ersetzt ihn mit der Erinnerung. Zurück im Flur öffne ich den Sack und stopfe das Stück Stoff rein. Mit Mühe hieve ich den Sack über meine Schulter, nehme den Schlüssel vom Brett und verlasse das Haus.
Die Kälte peitscht mir ins Gesicht, sie hat sich mit der Dunkelheit verbündet. Ich schnappe mir den Spaten, hoffe, dass der Boden nicht gefroren ist und mache mich schweren Schrittes auf den Weg. Im Nachbarhaus hebt sich ein gelbes Quadrat von der schwarzen Umgebung ab. Als ich mich nähere, fallen die Rollladen mit einem brutalen Klappern nach unten und löschen das Licht. Wie eine Guillotine. Ein Zittern fährt durch meinen Körper, meine Beine tragen mich weiter Richtung Friedhof. Beim nächsten Haus bellt mich der Schäferhund aus seinem Zwinger an.
Während ich mir vorstelle, wie ihn der Spaten eines Besseren belehren könnte, stoppe ich abrupt und halte inne, als müsste ich einem Verfolger lauschen. Mir wird klar, dass auf dem Weg ihr Elternhaus steht. Fast muss ich schmunzeln. Obwohl es dunkel ist, blendet mich die Flut der Erinnerungen an sie wie das pulsierende Licht in der Disco, in die wir früher zusammen gingen. Anfangs stand ich einfach nur am Rand der Tanzfläche und sah ihr zu, wie sie in der Musik versunken war, Bierflasche in der Hand. Bis sie die Augen öffnete und mich zu ihr holte. Nur mit ihr konnte ich so ausgelassen sein, ohne sie ging es nicht, ohne sie war ich nur ein weiterer Typ unter dem Discolicht. Jetzt will ich es zertrümmern.
Unzählige Male ging ich in den vergangenen Jahren am Haus ihrer Eltern vorbei. Sah, wie ich sie als Jugendlicher von dort abholte, an dem Tag, als sie mal wieder nicht rausdurfte. Vom Sprung aus dem Fenster ihres Zimmers konnte ich sie nicht abhalten. Im Krankenhaus bekam sie dann einen Gips und küsste mich zum ersten Mal.
Ist es wirklich zwei Jahre her, dass ich sie erwischt habe? So lange ist mein Leben also schon vorbei. Natürlich weiß ich es auf den Tag genau, ich habe schließlich jeden einzelnen dokumentiert, jeden noch so schlimmen. In mir hat die frühere Leidenschaft weiter vor sich hingebrodelt, wollte nicht abkühlen, kochte stattdessen immer wieder auf. Ich drehte mich im Kreis, wie ein Kochlöffel im Topf. Es ist an der Zeit, die Suppe in den Abguss zu schütten.
Im Schein der wenigen Straßenlaternen sehe ich die Skelette der Bäume, die sich im Wind krümmen und nach mir greifen. Ich bin zu leicht angezogen, was gut ist, so bleibe ich wach. Niemand außer mir scheint draußen zu sein. Moment. Aus der Gasse auf der Rechten höre ich das Geräusch von Schritten auf Asphalt. Die nächste Laterne löst meine Anspannung: Es ist Johann, der so wie ich sein ganzes Leben in diesem Dorf verbracht hat, mit dem ich dennoch nie ein Wort gewechselt habe, außer Moin.
»Moin.«
»Moin.«
Wärme steigt in mein Gesicht, begleitet von der Hoffnung, dass es auch diesmal bei dem Wort bleibt. Ein Typ mit großem Sack und Spaten nachts in der Kälte, muss schon seltsam aussehen. Zum Glück geht er in die andere Richtung.
Da ist das Haus. Es zeichnet sich im Schein des Mondes ab, der in diesem Moment von den Wolken enthüllt wird. Keine gelben Quadrate, kein Zeichen von Leben. Doch als ich näherkomme, erschrecke ich. Jede noch so schwache Spur ihres Parfums kann ich wahrnehmen – es gibt keinen Zweifel, es liegt in der Luft. Plötzlich ein Geräusch, Licht dringt durch die sich öffnende Haustür auf die Steinplatten davor. Ich stehe mitten auf der Straße vor dem Haus, zucke zusammen und ducke mich reflexartig. Verschwinde so schnell ich kann ins Gebüsch und hoffe, sie haben mich nicht gesehen. Das Gewicht des Sacks hat sich verdreifacht, vorsichtig lasse ich ihn auf den Boden sinken und sehe zum Haus. Sie ist es tatsächlich. Mit ihren Eltern und einem Mann. Kurz spüre ich einen stechenden Schmerz in der Brust, der schnell von Kälte verdrängt wird.
Minuten nachdem sie im Auto davongerollt sind und das Haus wieder leblos ist, erwache ich aus einer Starre. Sie hat sich verändert, die Haare kürzer, andere Kleider. Aber sie lacht wie früher, trägt das gleiche Parfum. Früher schenkte ich ihr beides, jetzt macht das wohl der Neue, wer auch immer er ist. Ihm gegenüber spüre ich nichts, er ist mir egal. Sie hingegen hat mich berührt, trotz der Distanz. Die Stimme, der ich den ganzen Tag zuhören wollte. Das Lachen, welches mich in jeder noch so aussichtslosen Situation den Frust vergessen ließ. Heute löst es ein seltsames Gefühl in mir aus. Als wäre sie nicht die Gleiche, ihre Stimme und ihr Lachen anders, wenn sie nicht mir gelten. Egal, ich muss hier weg, muss damit abschließen.
Wieder drückt mich das Gewicht vom Sack ein Stück zur Erde, bald werde ich es los sein. Das Gehen ist gut gegen die Kälte, der Spaten in meiner Hand gibt mir Halt. Am Ende der Straße gehe ich links auf einen Kiesweg. Das Knirschen unter meinen Füßen muss im ganzen Dorf zu hören sein. Hinter der Obstwiese steht die alte Kirche, deren Silhouette mir Unbehagen bereitet. Außer früher an Weihnachten ging ich nie hin. Mit ihr wäre ich noch einmal hingegangen, als ich merkte, dass sie sich von mir entfernt. Verzweiflung bringt einen auf seltsame Ideen. Klar waren wir lange zusammen und hatten Probleme. Im Gegensatz zu ihr wollte ich diese klären. Sie hat stattdessen den einfachen Weg gewählt, versucht, sich aus meinem Innern rauszureißen wie eine Chirurgin. Nach fast fünfzehn Jahren. Wusste sie nicht, dass sie ihre Arbeit schlampig gemacht, einen Teil von sich in mir zurückgelassen hat? Wir waren mal Seelenverwandte, bis sie sich einfach eine neue Seele suchte.
Nach der Kirche wird aus Kies Erde und ich sehe ein Netzwerk aus rotem Flackern: Grablichter. Das Kreischen des Eisentors lässt mich erschaudern, ich war noch nie nachts hier. Überall um mich herum die rot scheinenden Grabsteine. Nach jedem Schritt drehe ich mich ruckartig um und sehe nichts, kann nur die Felder erahnen und ein paar Lichter aus dem Dorf sehen. Ich hole eine Stirnlampe aus meiner Jackentasche und setze sie mir auf. Über mir rascheln die Bäume im Wind. Ein Stück vom Weg auf der linken Seite liegen meine Eltern begraben.
Am Ende des Friedhofs schlüpfe ich durch das Loch im Zaun und finde gleich dahinter die große Kastanie. Ich lege den Sack auf die mit Blättern bedeckte Erde und beginne sofort zu graben. Der Boden ist hart, nach wenigen Spatenstichen kleben die Klamotten an meiner Haut. Ich arbeite hastig und aggressiv, jeder Hieb ist ein Schlag in die Vergangenheit. Bin verwirrt und verärgert, dass ich so lange damit gewartet habe. Denke an den Moment, in dem ich sie in unserer Wohnung in der Ortsmitte erwischt habe. Ich kam an ihrem freien Tag unerwartet früher von der Arbeit. Wollte sie mit einem selbstgepflückten Blumenstrauß überraschen an diesem warmen Sommertag. Mit ihr spontan irgendwohin fahren. Rüber nach Holland ins Erlebnisbad, das sie so liebte. Ein Softeis mit bunten Streuseln essen. Zur Nordsee fahren und beim Schwimmen von der viel schöneren Ostsee schwärmen. Beide waren erschrocken, als ich vor ihnen stand. Was ich spürte, kannte ich nicht, es fühlte sich brutal und endgültig an, trauriger als der Tod meiner Eltern. Es war wie mein eigener Tod, nur schlimmer – ich musste weiterleben.
Erschöpfung überkommt mich, das Loch ist halb fertig. Ich setze mich daneben, starre auf die dunkle Erde. Nehme mir das Tagebuch, das ich den ganzen Tag gehalten, in dem ich jedoch nicht einen Satz gelesen habe. Es ist das erste, wütend geschrieben kurz nachdem es vorbei war. Ich beginne zu lesen.
Plötzlich kreischt das Friedhofstor. Ein unruhiger Lichtkegel kommt in meine Richtung. Er stoppt, erlischt. Ich glaube zu fantasieren. Da ist das Licht wieder, es bewegt sich. Auf mich zu. Panik krallt sich in meine Glieder, ich stehe auf, mache zwei Schritte zurück. Auf einmal ist kein Boden unter meinen Füßen und ich falle. Mein Licht brennt noch.
»Hallo?«, fragt die näherkommende Stimme.
»Scheiße!«
Das Licht scheint mir genau in die Augen.
»Thomas? Was zum Teufel machst du hier?«, fragt die Stimme jetzt. Es ist Johann.
»Naja … Und was machst du hier?«
»Ich … Ich hab hier gestern Margret beerdigt … Konnt nich schlafen, also bin ich her. Wusste nich, was ich sonst machen soll.«
Ich habe länger keine Zeitung in der Hand gehalten, mit niemandem geredet. Ich wusste davon nichts.
»Tut mir leid, mit deiner Frau.«
»Jo. Und warum bist du hier?«
Die Antwort ist einfach.
»Ich bin gerade dabei, meine zu beerdigen.«
Johanns Gesicht verformt sich sonderbar, er leuchtet mit seiner Lampe um mich herum, auf das Loch, das Buch neben mir, auf den Spaten und die Tasche. Johann versteht nicht, also erkläre ich es ihm.
Er reicht mir seine Hand und zieht mich hoch.
»Ich helf dir«, sagt er, nimmt den Spaten und gräbt.
Kurze Zeit später ist das Loch fertig. Erwartungsvoll sieht er mich an, atmet kleine Wolken zu mir rüber. Ich leuchte auf den Sack. Zusammen leeren wir ihn über dem Loch. Wir sehen zu, wie all die Tagebücher und Briefe hineinflattern, die ich an sie geschrieben, aber nie versendet habe, dazwischen ihr ungewaschenes Shirt. Zuletzt schmeiße ich das erste Buch auf den Haufen und gemeinsam begraben wir alles, ebnen es aus, sodass es aussieht wie vorher.
Eine Weile stehen wir vor dem Grab, bevor wir zu dem seiner Frau gehen.
»Danke, Johann«, sage ich.
Er sieht mich an und antwortet: »Dafür nich.«
Zusammen verlassen wir den Friedhof durch das Eisentor. Es fällt zu mit einer Wucht, dass ich kurz erschrecke.
Auf dem Weg Richtung Dorf merke ich, etwas ist anders. Ich bin anders, fühle mich leichter. Klar, denke ich, der Sack ist leer.