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Die Begegnung
"Vati, erzähl uns eine Geschichte!“ riefen sie fröhlich. Ich war alleine und stand in der Tür. Vater erzählte die Geschichte und ich hörte zu. Meine Geschwister klatschten und ich neigte den Kopf und stellte mich schlafend. Dann klappte Vater das Buch zu, stand auf und strich mir übers Haar. Er ging hinaus und die Kinder folgten ihm. Ich blieb und hörte die Vögel zwitschern. Der Engel auf der Fensterbank leistete mir Gesellschaft. Er war weiß und hatte die Augen eines Königs.
Ich schaute mich um, doch Leo war nirgends zu entdecken. Der Schweiß floss über meine Stirn und brannte in meinen Augen. Meine Füße schmerzten und meine Hände hingen schlapp Richtung Boden. "Leopold!" rief ich wieder. "Leo, wo steckst Du?" Mein Bruder war ein Halunke, ein dreister Bursche, ein lästiger Schalk. Ich mochte ihn nicht, doch ich hatte Verantwortung. Sollte ich ihn nicht wieder sicher zum Lager zurückbringen, würde Mutter ihn suchen und keine Ruhe finden. Sie war kraftlos und müde und ihre Schuhe trugen sie nicht mehr, wenn sie versuchte zu laufen. Als ich weiterging, kam mir einer entgegen. Er fragte mich nicht, was ich wollte, aber er legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich hatte keine Angst, aber ich hasste ihn. Er hatte mein Haus zerstört und mein Geld geraubt. Ich wollte nur meinen Bruder und er ließ mich nicht weiter. Hielt mich nicht stärker zurück, als mit dieser Hand auf meiner Schulter, die bei meinem Widerstand zu Eisen wurde. "Lassen sie mich weiter!" rief ich und sah ihn wütend an. Ich konnte nicht wütend sein, aber ich versuchte, so auszusehen. "Lassen sie mich weiter!" rief ich noch einmal. Aber er sagte nichts. Als er zur Seite trat, immer noch die Hand auf meiner Schulter, konnte ich sehen, was sein großer Körper verborgen hatte. Leo war tot und er lag auf dem Boden und blutete aus allen Seiten. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen und ich schaute, ob er Schuhe anhatte. Er hatte keine mehr an. Er interessierte mich nicht, denn ich hatte schon zwei meiner Brüder tot gesehen. Aber meine Mutter würde hier herkommen wollen. Ich würde nichts sagen. Ich ging zurück ins Lager. Mein Mutter sah mir mit aufgerissenen Augen entgegen. Ich setzte mich auf die grüne Decke und öffnete die Schachtel, die ich zurückgelassen hatte. Sie war leer und das Brot war fort. Ich warf sie ins Feuer und sie verbrannte sogleich. Meine Mutter fragte den einen, wo Leo sei. Doch der eine schüttelte nur den Kopf. Ich sagte: "Leo ist tot" und beobachtete die Funken, die das Feuer umherschoss.
Ich hatte den Jungen noch nie zuvor gesehen. Er stand einfach da und sah mich an. Er war weder schön noch hässlich. Seine Haut glänzte wie Kupfer und er sah mich an, als kannte er mich ewig. Ich wollte mich umdrehen und gehen. Aber sein Blick zog mich zurück. Er hatte grüne Augen, ein Grün, wie das Meer, dass ich nie gesehen hatte. Ich kannte es aus Vaters Geschichten. Der Junge musste gehen. Ich ging auf ihn zu, um ihn zu vertreiben. Aber sein Blick hielt mich an meinem Platz. "Wer bist Du?" rief ich ihm zu. Aber er antwortete nicht. Der Junge lebte. Und keiner in diesem Lager lebte, denn alle starben, wenn heute nicht, dann morgen. Das war der Lauf der Welt und daran hatte ich mich gewöhnt. Er war kein wirklicher Mensch. Er war ein Engel und er hatte die Augen eines Königs.