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Die Besessene
Die Besessene
Marga blickte den Polizisten finster an, der ihr gegenüber saß und ein paar Tasten auf seinem Computer drückte. Er war schon der zweite heute, der sie ausfragte.
„Wir fangen am besten noch mal von vorne an, seufzte er. „Seit wann wohnen Sie in dem Haus?“
„Weiß nicht“, murmelte Marga. „Die Kinder waren noch ganz klein.“
Warum fragten sie das? Sie sollten es endlich lassen; es rief nur die alten Stimmen wach, die von diesen Erinnerungen geflüstert hatten, aus jeder Spalte, jeder Ecke im Haus.
„Vor fünf Jahren zog Ihr Mann aus, und Sie wurden geschieden?“ Der Beamte schrieb, während er fragte.
„Sie wissen doch schon alles“, sagte Marga.
„Sie sollen es bestätigen. Sie leben allein in dem Haus, seit Ihr jüngster Sohn ausgezogen ist?“
Nicht an die kalte Zeit denken. Als es überall still geworden war, sich in den Zimmern schwarze Löcher auftaten, um alles zu schlucken, was das Heute ausmachte. Sich Marga nicht mehr in die Kellerräume wagte, die noch schwärzer gähnten, am schlimmsten der fensterlose Heizungskeller. Als die Hölle drohte, sie festzuhalten.
Marga zwang sich zu lächeln, tröstend und wissend. Heute berührte sie mit den Fingerspitzen das Paradies. - „Ja, seit vier Jahren“, nickte sie.
„Und wann ist Herr Janus ins Nachbarhaus gezogen?“
„Warten Sie ... vor fast drei Monaten.“
Als müsste sie das wirklich überlegen.
An diesem Tag im Frühsommer war zuerst alles wie immer gewesen. Marga hatte auf der Terrasse Wein getrunken und Patiencen gelegt. Dass nebenan im bislang leeren Haus ein recht junger Mann ein- und auslief, dann anfing, den Schuppen einzuräumen, nahm sie nur am Rande wahr. Er grüßte, stellte sich als Thomas Janus vor, machte eine Bemerkung über ihren romantischen, verwilderten Garten.
`Verwahrlost meinst du wohl´, dachte sie da ärgerlich. Ach, wie töricht war sie gewesen. Was konnte schließlich Thomas dafür, dass sie den Garten jahrelang vernachlässigt hatte?
Doch selbst in diesem Ärger war ihr die schelmische Art aufgefallen, mit der Thomas’ Zähne beim Lächeln aufblitzten und die netten Grübchen, die sich dabei in seinen Wangen bildeten.
Bald kam mehr hinzu. Der samtige Klang seiner Stimme schmeichelte ihren Ohren, und beobachtete gern die kleinen, festen Muskeln, die unter seiner glatten Haut spielten, wenn er in Badehose oder ärmellosem T-Shirt die Liege aufstellte, den Rasen mähte, Unkraut ausriss.
Marga begann, auch im Garten zu arbeiten. Thomas sollte nicht so schlecht von ihr denken. Außerdem sprach sie dadurch öfter mit ihm. Sie riet ihm, die Rotbuche in der Ostecke seines Gartens zu fällen, sie nahm zu viel Licht. Er gab ihr Tipps für ihre kränklichen Petunien. Sie tauschten Blumenzwiebeln aus. Marga plante, ihn bald zum Kaffee einzuladen.
„Und Sie wussten, dass Frau Reutter seine Freundin war?“
Marga schob leicht die Unterlippe vor: „Es war kaum zu übersehen.“
Sie war diesem Weib auf Thomas’ Einweihungsparty begegnet, mit der er Margas Einladung zuvor gekommen war. Sandra hieß sie, eine schwarzhaarige Nutte mit Knubbelnase und fliehender Stirn. Sie stöckelte mit hohen Absätzen durch das zarte Gras, das Thomas frisch nachgesät hatte. Marga sah ihr zu, sah Thomas, wie er die Schimpansin anstarrte wie ein Hund einen Kalbsknochen.
Schön, nach dieser Grillparty hatte Marga geheult, sich sogar ein Büschel Haare ausgerissen aus Wut über ihre Dummheit, ihre törichten Hoffnungen. Doch nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie die Dinge klarer. Sicher hatte Thomas diese Freundin schon länger, und man durfte nicht übersehen, dass sie jung war, äußerlich besser zu Thomas passte, der nicht älter als fünfunddreißig sein konnte. Marga dagegen hatte die Fünfzig knapp
überschritten. So würde Thomas wohl nur etwas mehr Zeit brauchen, um zu erkennen, dass er mit Marga viel besser harmonieren würde als mit dieser groben Äffin.
„Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Frau Reutter?“ Der Polizist sah nicht Marga an, sondern auf seine Tasten.
Marga zuckte die Achseln: „Dazu hatten wir wenig Gelegenheit.“
Glücklicherweise. Die Schimpansin kam nicht sehr oft, das war ein gutes Zeichen. Sah sie Marga im Garten, zwitscherte sie ein gezwungenes „Hallo“, und wandte ihr bald darauf wieder ihren prallen Hintern zu. Ahnte sie, dass Marga eine Konkurrenz war und ignorierte sie deshalb nach Kräften? Jedenfalls half ihr das nichts; es kam dennoch jener selig-süße Augenblick, als Marga Thomas bat, sich ihre verlausten Zimmerpflanzen anzusehen, und er tatsächlich in ihr Wohnzimmer kam, Stängel umbog, suchend auf Blattunterseiten spähte, und sie dicht neben ihn trat, so dicht, dass sie seine Wärme spürte, das herbe Aftershave roch; so dicht, dass sie meinte, seine Stimme nicht nur in seinem, sondern auch in ihrem Körper vibrieren zu fühlen.
Sie lud ihn mit zitternder Stimme zu einen Kaffee ein, hatte Apfelkuchen gebacken, sich auf diesen Moment vorbereitet. In ihr pulsierte ein kleiner Ball, gefüllt mit flüssigem Gold. Leider musste Thomas gleich wieder gehen. Sie zwang sich, ihre Enttäuschung hinunter zu schlucken und verständnisvoll zu lächeln. Nur nicht zu hastig vorgehen, ihn nicht abschrecken.
„Hat Ihnen Herr Janus jemals Sachen geschenkt?“ Die Stimme des Beamten klang streng.
Marga nickte: „Oh ja, zum Beispiel für den Garten.“
Was Thomas ihr schenkte, konnte dieser Polizist sicher nicht begreifen. Eines Tages kam sie auf die Idee, Photos von Thomas zu machen, meistens vom Balkon im ersten Stock aus, zweimal auch aus dem Küchenfenster. Die besten ließ sie vergrößern und steckte sie in Rahmen. Das, auf dem er mit blitzenden Augen einem Nachbarn zulachte, stellte sie auf ihren Nachttisch. Die Photos ließen ihre Räume strahlen, verscheuchten die schwarzen Löcher, brachten die alten Erinnerungen zum Schweigen. Überall im Haus erzählte nun Thomas’ schönes, eingerahmtes Gesicht, sein fester, sehniger Körper, vom Heute, und noch mehr vom Morgen. Er lächelte ihr zu, tröstete sie, während es draußen wochenlang regnete und sie den echten Thomas kaum noch sah.
Um in Übung zu bleiben, fing sie an, sich mit den Photos zu unterhalten. Sie erzählte Thomas, was sie gerade tat und dachte. Sie erzählte, was sie sich erträumte. Bevor sie das Licht ausmachte, küsste sie das Bild neben ihrem Bett und wünschte Gute Nacht.
„Sie leugnen also, Herrn Janus und Frau Reutter diverse Gegenstände gestohlen zu haben?“ fragte der Polizist, stand auf und öffnete ein Fenster.
Marga sah ihn ärgerlich an: „Was heißt `gestohlen´?“
Was wusste dieser Mensch schon von Seelenverwandtschaft, zarten Gedankenverbindungen? Sicher fühlte Thomas auf einer unbewussten Ebene, dass Marga an ihn dachte, mit ihm sprach. Sie merkte es an der Art, wie er sie in den nächsten Wochen ansah, nachdenklich, prüfend – langsam begreifend. Noch hielt er sich zurück, und das Wetter war so schlecht, es half ihnen kaum in dieser Zeit.
Einmal, als Marga nach ihren Rosen sah, leuchtete in dem Regengrau etwas auf: Nebenan auf Thomas’ Terrasse, dicht an der hölzernen Begrenzung zu Margas eigener, hing ein hellblaues T-Shirt vergessen über einem Gartenstuhl. Marga beugte sich vor, griff rasch zu und drückte das Kleidungsstück an ihrem Körper.
Trocken verströmte das T-Shirt einen zarten Geruch, der an Thomas erinnerte. Dann wuchs der goldene Ball in ihr und sandte Blitze aus. Marga kuschelte sich mit dem T-Shirt vor dem Fernseher, oder sie breitete es auf dem Nachbarsessel aus, stellte sich vor, Thomas säße dort. Sie kommentierte die Sendungen, überlegte, was er sagen würde. Manchmal versuchte sie, seine Kommentare mitzusprechen, amte seine Stimme nach, damit es echter wirkte. War sie gut aufgelegt, lachte sie Tränen über seine und ihre Albernheiten. Mit der Schimpansin hatte Thomas nie so viel Spaß, da war sich Marga sicher.
Abends nahm sie das T-Shirt mit ins Bett. Die Blitze schmolzen zu heißem Gold, das durch ihren Körper strömte. Das war in Ordnung, es nahm nur vorweg, was ohnehin bald passieren würde.
Der Beamte knallte das Fenster wieder zu; kurz darauf klapperten die Tasten von seinem Computer erneut, während er murrte: „Herr Janus gab zu Protokoll, im Laufe der Zeit einige Gegenstände zu vermissen – Kleidung, eine Kaffeekanne, Briefe - haben Sie dafür eine Erklärung?“
Margas Mundwinkel zuckten: „Wieso ich?“
Endlich fing die Sonne wieder an zu scheinen. Thomas und sie grüßten einander, er machte einen trockenen Witz, sie lachte herzlich. Oh, sie warfen einander die Bälle zu wie ein altes Ehepaar. Die Schwingungen zwischen ihnen waren so deutlich zu fühlen. Marga machte einen neuen Vorstoß, bot an, für morgen einen Johannisbeerkuchen zu backen.
„Ach, da muss ich zu einem Geburtstag“, entschuldigte sich Thomas. Einen Moment lang bekam Marga keine Luft, so enttäuscht war sie. Zum Glück sah er es nicht mehr, weil sein Telefon im Haus klingelte. Sie atmete ein paar Mal tief, und nun fiel ihr ein, wie er bei seiner Entschuldigung die Augen verdreht hatte. Als ginge er nicht gerne dort hin. Als wäre er lieber bei ihr. Am Ende hatte die Schimpansin ihn dazu gezwungen. Vielleicht kämpfte Thomas schon länger darum, bald Schluss mit ihr zu machen. So lange das nicht erledigt war, würde er sich nicht auf das zarte Zusammensein mit Marga konzentrieren können. Schließlich war Thomas ein Ehrenmann, er tanzte nicht gern auf zwei Hochzeiten. Wie hatte sie so töricht sein können, etwas anderes zu glauben? Als verstünden sich Thomas und sie und nicht auch ohne viel Worte.
Ihr wurde klar, dass sie ihm helfen musste. Diese verdammte Nutte vergiftete, vernebelte, manipulierte ihn. Wer konnte schon sagen, mit welchen falschen Mitteln sie kämpfte?
Wann immer sie merkte, dass die Schimpansin zu Besuch war, klingelte sie von nun an bei Thomas, fragte nach Zucker oder Eiern, brachte Geliehenes zurück, bat unter einem Vorwand, sich seine Pflanzen ansehen zu dürfen. Oder sie stieg mit einem Kuchen über den Gartenzaun und lud die beiden mit strahlendem Lächeln zum Kaffee ein. Sie hatte immer öfter den Eindruck, dass die Schimpansin ihr nicht öffnete, wenn sie klingelte. Aber bei einer Gelegenheit hatte sie Thomas’ Schlüsselbund auf der Dielenkommode einstecken können. Sie ließ alle Schlüssel nachmachen, warf danach die Originale heimlich in seinen Garten, als hätte er sie dort verloren.
Nun konnte sie auch in das Haus, wenn niemand da war. Von der italienischen Kaffeemaschine – keine Kanne – wusste sie, dass sie zu Thomas’ morgendlichem Ritual gehörte. Sie nahm sie mit; dafür stellte sie ihm einen ihrer Kaffeebecher in den Schrank.
Was ihrs war, sollte seines sein und umgekehrt. Würde Thomas es bemerken, diesen Wink verstehen?
Gern hörte sie auch in Thomas’ Wohnzimmer Musik, oder sie kuschelte sich in sein Bett und las Briefe, die sie bei ihm im Schreibtisch gefunden hatte. Was für süße Momente, außer, sie fand Briefe oder Karten von der Schimpansin. Die sortierte sie rasch aus und verbrannte sie zu Hause im Spülbecken. Nichts von dieser Nutte sollte Thomas’ Haus verunreinigen. In die Cremetiegel der Schimpansin mischte Marga ihren Urin, bohrte Löcher in die Tuben, tauchte die Bürste für die Wimperntusche in das Toilettenwasser.
Irgendwann hatte Marga dann dieses Kleid gesehen, noch dazu in Thomas’ Schlafzimmer. Ein billiger Stoff, vorne weit ausgeschnitten. Diese Nutte. Da hatte sie mit einer Schere hineingestochen, lauter kleine Schlitze. Das würde man nicht mehr flicken können.
Am nächsten Tag stand die Schimpansin vor Margas Tür, zornig, das Kleid
in der Hand. Thomas war nicht dabei, das sagte alles. Das Geschrei der Schimpansin prallte an Marga ab, sie nahm nur Wortfetzen wahr – „Briefe“ – „Diebin“ – „Verrückt“ – und horchte erst auf, als diese Nutte schrie: „Wir gehen jetzt zur Polizei und zeigen Sie an – Sie haben die längste Zeit hier gewohnt!“
Da riss Marga der Geduldsfaden. Thomas und sie hatten dieses Weib nun lange genug ertragen müssen. Sie musste begreifen, dass sie verloren hatte, schon lange. Rasch zerrte Marga einen Schirm aus dem Ständer, hieb damit so fest sie konnte in das hässliche Gesicht vor ihr: „Sie Lügnerin! Thomas will Sie nur noch loswerden! Er und ich, wir sind schon lange zusammen!“ Dann schlug sie heftig die Tür zu.
„Hausfriedensbruch, Körperverletzung“, sagte der Beamte. „Leugnen Sie auch das?“
Marga richtete sich auf: „Dieses Weib lügt mit jedem Wort, das sie sagt. Herr Janus hat mir seinen Hausschlüssel gegeben, damit ich mal seine Blumen gießen kann. Etwas Unrechtes habe ich dabei nie getan. Ich habe schon länger das Gefühl, dass sie mich hasst. Vielleicht schwimmen ihr die Felle davon. Vielleicht ist sie verrückt. Darum habe ich sie auch geschlagen, das gebe ich zu. Sie stand plötzlich vor meiner Tür, fuchtelte mit dem Kleid herum und schrie mich an. Lauter wirres Zeug. Ich hatte Angst.“
„Sie haben das Kleid nicht zerschnitten?“
„Was kann ich dafür, wenn die ... - sie nicht auf ihre Sachen aufpasst? Und dafür zeigt sie mich an und hält man mich hier fest. Ich will jetzt nach Hause, Sie haben mir schon lange genug immer dieselben Fragen gestellt.“
„Ich sehe mal, ob wir jetzt fertig sind“, brummte der Polizist. „Warten Sie hier.“ Er ging nach nebenan, zog die Tür hinter sich zu, aber nicht sorgfältig genug, sie klickte sanft wieder auf.
„Nachbarstreit“, hörte Marga gedämpfte Stimmen sagen, „und wegen so was müssen wir ... zwei Tucken, und jede sagt, die andere ist verrückt ... wahrscheinlich sind sie’s beide ... Eifersucht ... gut, wir haben keinen Grund mehr ... Janus ...“
Sie zuckte zusammen, als die Tür wieder aufschwang. – „Schön, Sie können jetzt nach Hause“, sagte der Polizist. „Sie müssen nur noch unterschreiben, dass Sie sich zur Verfügung halten. Ich hoffe, Sie einigen sich noch gütig, und wir können die Sache zu den Akten legen, sobald Herr Janus auftaucht und aussagt. Sie wissen nicht zufällig, warum er weggegangen ist und wohin?“
Marga stand auf und zwinkerte dem Polizisten zu: „Nein – aber ich kann mir vorstellen, dass ihm dieses Frauengeschrei auf die Nerven ging und er ein bisschen Abstand brauchte.“
Langsam, mit einem Lächeln im Gesicht, trat sie hinaus in die rötliche Abendsonne. Mit den Fingerspitzen berührte sie das Paradies. Niemand würde sie mehr fortholen. Sie nicht und Thomas auch nicht. Thomas, den die Schimpansin nach dem Streit zu ihr geschickt hatte, der Zorn demonstrieren musste an Margas Haustür, so dass sie ihn hereinbat mit dem sanften Versprechen, alles zu bereinigen. Sie half dem verwirrten Thomas ein letztes Mal, flüsterte ihm zu, die Schimpansin habe ihr Kleid selbst zerschnitten und Dinge gestohlen, um Marga beschuldigen zu können. In sein Leugnen hinein versprach sie, im Keller sei der Beweis, er solle es sich ansehen. Nur der Keller, flüsterte sie eindringlich, dann könne er selbst entscheiden.
Da ging er mit, zögernd, leise schimpfend. Marga hatte keine Angst mehr vor der Schwärze dort unten, auch nicht vor dem Heizungskeller. Den Rest besorgte eine volle Bierflasche. So lange Thomas bewusstlos war, band sie ihn am Heizungsrohr fest, damit er nachher im ersten Schreck nichts Unbedachtes tat. Sie schleifte eine Matratze, Kissen und Decken zu ihm hinunter. Nur für die erste Zeit, bis das Gift der Nutte nachließ und Thomas wieder klar denken konnte. Es würde gut für ihn sein, wenn Marga jetzt endlich von der Polizei zurückkam.
Die Schimpansin sollte nur wagen, sie noch einmal zu belästigen. Marga berührte mit den Fingerspitzen das Paradies. Bald würde es ihr ganz gehören.