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Die blaue Perle

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19.08.2020
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Die blaue Perle

Die eine Wiese, der eine Duft, ein Musikstück...
Sind es nicht die kleinen Dinge im Leben wie ein Ort, ein Geruch, eine Melodie, eine unerwartete Geste, die uns Tiefe im Leben verspüren lassen...
Eine Tiefe, die nur jeder für sich spüren kann.
Eine Tiefe, die bei jedem unterschiedlich tief, intensiv und zugleich so unberechenbar ist.
Eine Tiefe, die einen Menschen nicht individueller, einzigartiger machen kann.


Ein Ort, an dem man immer wieder zurückkehrt und einen in den unterschiedlichsten Momenten des Lebens innehalten lässt und zum Nachdenken bringt.
Eine Art Leitmotiv der Zeit, des Lebens...


So war es bei Coralie.
Coralie, 29, Langzeitstudentin der Kunstgeschichte, immer rastlos, suchend und sehnend nach dem eigentlichen Sinn. Dem Sinn, dem alles andere untergeordnet ist, dem einen Alles, das uns als unsichtbare Schnur durchs Leben führt. Dem einen Ganzen, dessen Gesicht wir ein Leben lang zu erspähen versuchen. Eben dem einen großen Ganzen.
Coralie, ein Name, der nach französischer Herkunft „die Perle“ bedeuten soll, meint also etwas Schönes, Vollkommendes, in runder Form zur Vollendung Geschwungenes.- dachte sich Coralie, die wie so oft in einem ihrer Tagträume, an dem einen ihrer Orte verweilte und die frische Herbstluft langsam in sich aufsog.

Na dann läuft bei mir jedenfalls etwas nicht rund, denn ich fühle mich so gar nicht vollkommen, in Perfektion vollendet, wie dieser Name zu verkünden mag.
Und wieder war es der eine Ort und der Geruch nach durch Wind getragenes Herbstlaub gepaart mit ersten Regentropfen, der sie zum Verweilen brachte- dachte sich Coralie, obwohl ihr bewusst wurde, dass dieser Regen noch nicht eingesetzt hatte, sondern lediglich ihre feine Nase ihr eine Illusion des Regengeruchs vorspielte, weil sie die kleinsten Anzeichen eines baldig einsetzen Regenschauers bereits zu spüren vermochte.

„Vorsicht, pass doch auf, Mensch“, rief ein sich ereifernder, sehr adrett gekleideter Mann, mit dem sie fast zusammengestoßen wäre, hätte er nicht im letzten Moment seinen Kaffeebecher gerettet, dessen kostbarer Inhalt sie, Coralie, mit ihrer Unbedachtheit beinahe umgeschüttet hätte.
„Oh, entschuldigen Sie bitte, ich hatte Sie gar nicht gesehen.“- gab sie zurück, in der Hoffnung, ihn in seinem Unmut ein bisschen besänftigen zu können, aber der Mann war schon um die Ecke gebogen.
Noch wusste sie nicht, dass diese eine kleine Begegnung, war sie auch nur so flüchtig und bedeutungslos, ihr Leben in schicksalhafte Weise verändern würde.


Im nächsten Moment hatte sie diese eine Begegnung auch schon wieder vergessen und versuchte sich auf den eigentlichen Anlass dieses Spazierganges zu konzentrieren.
Richtig, sie brauchte noch ein Hochzeitsgeschenk für Marie.
Marie, meine Güte - dachte sie - und heiraten? Wenn ihr das einer vor einem Jahr erzählt hätte, wäre sie womöglich aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.
Marie, ihre Marie, die beste Freundin, die sich ein Mensch überhaupt wünschen könnte. Eine Freundin, die sie seit Kindheitstagen begleitete, über alle Sinn-und Leidenskrisen des Lebens hinweggeholfen hatte, ihre intimsten Geheimnisse und Herzenswünsche kannte.
Wie sollte man so einem Menschen, für den das Wort wertvoll im buchstäblichen Sinne zu gelten schiene, ein passendes Geschenk machen?
Marie, zum einen so tiefgründig und empfindsam zum anderen so freiheitsliebend, nach Abenteuern suchend, dem Leben in all seiner Härte strotzend. Marie, die es verkraftet hat, ihre Mutter mit acht Jahren zu verlieren und trotzdem voller Lebenswillen und Mut in die Zukunft blickt. In die Zukunft?

Was ist schon die Zukunft? Eine für uns nicht greifbare, nicht berechenbare Zeit. Ein Abschnitt mit einem klaren Anfang und Ende. Ein Anfang, der morgen beginnt und ein Ende, welches niemand von sich kennen wird. Welches nur unsere Mitmenschen miterleben werden, aber niemals man selbst.

Jetzt schweife ich schon wieder ab-dachte sich Coralie und versuchte sich wieder auf das Wesentliche, das Geschenk, zu konzentrieren.
Marie, wie kann ich dir nur mit einem Geschenk, mit nur einer Geste zeigen, wie sehr mich diese Hochzeit für dich freut. Für dich brechen nun buchstäblich hohe Zeiten an. Zeiten, die dein bisheriges Leben überhöhen werden. Zeiten, über die es wert ist, hier zu philosophieren und ihre Schönheit zu erahnen.
Ich hoffe, dass sie noch viel schöner sein werden, als ich sie mir in meiner kühnsten Fantasie vorzustellen vermag.

Und da sah sie es. Coralie blieb abrupt stehen und traute ihren Augen nicht. Da war es.
Es hatte zugleich etwas Beruhigendes, etwas Vertrautes und doch nicht Ergründbares. Ob es wohl ihr nur so ging? Ist es ihrem romantischen Gemüt anzulasten, dass dieses Eine sie so ergreifen konnte, sie ihre Tiefe spüren ließ, wie ein Ort, ein Geruch, eine Melodie. Nein, das konnte nicht sein.
Coralie schloss die Augen, atmete tief ein und aus und öffnete die Augen von neuem.
Da war es immer noch. Dieses eine Gefühl, dessen Tiefe nicht in Worte zu fassen war.
Ja, das muss es sein-dachte sich Coralie- und öffnet die Tür.

Es war gewiss nicht die erste Galerie, die sie betrat, aber die erste, die einen solchen Zauber in sich trug. Wieder so ein Ort.
Angefangen bei den mit Holz vertäfelten Wänden, die im Sonnenschein ein solches Licht im Raum versprühen ließen, dass sich selbst der einsamste Mensch geborgen fühlen müsste.
Daneben die Kunstwerke, die nicht unterschiedlicher in Stil und Farbe hätten sein können und ihrem Betrachter ein Potpourri verschiedenster Kunst darboten.
Coralie kam aus dem Staunen nicht mehr raus und stieß fast zum zweiten Mal an diesem Tag mit jemandem zusammen.
„Oh Entschuldigen Sie bitte“, wisperte sie leise und versuchte wieder ihr altes Gleichgewicht wiederzufinden.
Gar nichts passiert“, entgegnete ihr ein älterer Herr, offenbar der Ladenbesitzer, und konnte ein leichtes Lächeln nicht verstecken. „Sie sind wohl zum ersten Mal in meinem kleinen Reich hier und es scheint Ihnen augenscheinlich zu gefallen“, fuhr er fort und lächelte nun über den ganzen Mund hinweg.
„Ja das stimmt. Ich bin wirklich hingerissen von diesem Ort und kann es kaum in Worte fassen. Wissen Sie, ich bin auf der Suche nach einem ganz besonderen Geschenk und ich denke, eines Ihrer Kunstwerke hat es mir schwer angetan,“ schwärmte Coralie und konnte nun aus ihrer Verlegenheit heraus ein bis jetzt unterdrücktes Lächeln auch nicht mehr verbergen.
„Oh, das freut mich sehr. Welches soll es denn sein? oder wollen Sie sich erst noch umschauen, dann lass ich Sie in Ruhe und Sie rufen mich, wenn Sie eine Beratung brauchen.“ „ Ja, ich denke ich werde mich ein bisschen hier umschauen und dann auf Ihr Angebot zurückkommen“, entgegnete sie freundlich, froh einen Moment der Ruhe zu haben und diesen Ort für sich erkunden zu können.

Mit ruhigem, sicherem Schritt ließ sie diesen Raum mit all seinen Farben, Gerüchen und Geräuschen auf sich wirken und genoss dieses Gefühl, wieder einmal einen dieser Momente ihrer inneren Tiefe erfahren zu dürfen, den sie wie die anderen Augenblicke dieses intimsten Glückes in eine Ecke ihres Herzens brachte, um darauf zu gegebener Zeit wieder zurückgreifen zu können.
Als dieser Moment tiefster Zufriedenheit und Einheit mit sich selbst verflogen war, widmete sie sich wieder der eigentlichen Absicht dieses Besuchs, dem Geschenk für Marie.
„ Entschuldigen Sie“, Coralie trat von hinten auf den älteren, etwas verträumt im Raum dreinblickenden Ladenbesitzer zu und tippte ihn leicht auf die Schulter.
„ Oh ja natürlich, Verzeihen Sie bitte. Manchmal habe auch ich meine innigen Momente, in denen ich nur vor mich hin sinne und in Erinnerungen schwelge, aber wer hat die auch nicht?- fragte er etwas verlegen, auch wenn es sich augenscheinlich um eine rhetorische Frage handelte.
„Gar kein Problem“, beschwichtigte Coralie, die dieses Gefühl nur zu gut kannte. „ Sagen Sie“, fuhr sie fort „ ich habe im Schaufenster ein Gemälde gesehen, das mir wahrlich den Atem geraubt hat. Hier das da vorne.“ Sie ging schnellem Schrittes auf ein Bild zu, das in der rechten Ecke des Ladens an einer dieser Holztäfelungen lehnte.
„ Wer ist der Maler? Wissen Sie, ich studiere nämlich Kunstgeschichte und habe demnach sehr viel mit gewöhnlichen wie auch außergewöhnlichen Kunstwerken und deren Schöpfern zu tun, aber dieses eine... ich weiß auch nicht... es ist nur so ein Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt... dieses eine hat mich besonders in seinen Bann gezogen.“
Coralie fiel es nicht leicht ihre Verwunderung und dieses eine Gefühl zu beschreiben, welches sie zu einem Teil ausdrücken wollte, aber auch nicht in seiner Gänze einem fremden Mann anvertrauen konnte.
„Oh, das ist in der Tat wirklich kein gewöhnliches Gemälde. Ich habe es selbst erst vor einem Jahr auf einem Kunsthändlermarkt erstanden, aber der Maler ist leider unbekannt“, antwortete Philibert nachdenklich, wohlmerkend, dass dieses Mädchen ihm nur einen Teil ihrer Gefühle offenbart hatte, welche sie mit diesem einen Bild zu verbinden schien.
„Ach wie schade. Aber ich würde es trotzdem gerne kaufen. Wäre es denn auch lieferbar? Ich habe nämlich leider kein Auto und wohne ein Stück stadtauswärts.“- entgegnete sie, versucht, nicht zu viel ihrer Enttäuschung diesem freundlichen Herrn preiszugeben.
„ Aber natürlich, das lässt sich auf jeden Fall einrichten. Ich hole Ihnen eben das Zertifikat, welches dabei lag und eine kleine Notiz, die ich ebenfalls erhalten hatte, mit der Bitte, diese bei einem Verkauf beizulegen.“ sagte Philibert und verschwand in einem kleinen Zimmer in der linken Ecke der Galerie. Coralie, die von unterschiedlichen Gefühlen der Neugierde, Spannung, aber auch einer seltsamen Vertrautheit erfasst war, ging im Laden umher, um sich zu beruhigen und versuchte, sich mit anderen Bildern abzulenken.
„So nun habe ich alles beisammen“, erklang es vom hinteren Zimmer und Philibert kam mit einem kleinen Umschlag und dem versprochenen Zertifikat auf sie zu.
„Dürfte ich eventuell ein Foto von dem Bild machen, damit ich auch schon heute ein Teil dieses Bildes nach Hause nehmen kann?“- fragte Coralie etwas schüchtern, aber zugleich so überzeugt, dass dieses eine Bild ihr Leben verändern wird. Philibert bejahte ihre Bitte freundlich und es freute ihn zutiefst, dass er wieder einmal Jemanden vor sich stehen hatte, der eine ähnliche Leidenschaft mit seinen Kunstwerken verband wie er selbst.
Coralie fotografierte ihr Gemälde, bezahlte und verließ die Galerie, ohne dass ihr Puls schon wieder den normalen Zustand erreicht hatte.
Plötzlich hatte sie es ziemlich eilig. Eine innere Unruhe ließ sie die zuvor wahrgenommenen Sinneseindrücke vergessen und schon konnte sie ihre vertraute Straße erkennen, in der ihre geliebte Wohnung zu finden war.
Sie eilte die Stufen herauf und trat in ihr vertrautes Zuhause ein, ohne den immer wiederkehrenden Duft von Rosen zu missachten, der auch ihr eigenes Heim zu einem dieser Orte für sie machte.
Sie legte das Zertifikat behutsam in ihre Schreibtischschublade, öffnete ein Fenster im Flur und kehrte in die gemütliche kleine Küche zurück, in der sie es sich zusammen mit dem Umschlag auf einem ihrer Küchenstühle gemütlich machte, ohne den Brief auf dem Küchentisch zu bemerken.
Sie atmete kurz ein und aus und genoss den Anblick ihres kleinen, aber feinen weißen Küchentisches, den sie liebevoll mit unterschiedlichen alten, beim Flohmarkt erstandenen und in unterschiedlichen Farben gestrichenen Stühlen abgerundet hatte.
Nun widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Umschlag und öffnete diesen mit Hilfe eines kleinen Messers.
Sie zog einen kleinen Zettel heraus, der nur ein paar Verse beinhaltete:

„Die Liebe wird aus der Erinnerung geboren, lebt von der Intelligenz und stirbt am Vergessen.“ Ramon Llull

Was ein wahrer Spruch, dachte sie sich, und entdeckte jetzt erst den kleinen Gegenstand, den der Umschlag bis jetzt in seinem Innersten verborgen gehalten hatte. Es war ein Ohrring mit einer einzelnen blauen Perle. Was hatte das nur alles auf sich? Coralie konnte sich keinen Reim auf diese Botschaften machen, waren es Zeichen? Zeichen, die einen bestimmten Adressaten hatten und diesen zu finden versuchten? Sie wusste es nicht und legte Notiz und Ohrring zur Seite. Jetzt entdeckte sie den Brief auf dem Küchentisch, den sie bis jetzt in ihrem Übereifer und in ihrer Unruhe nicht wahrgenommen hatte. Er trug keinen Absender.
Wiederwillig und doch ein bisschen neugierig begann sie den Brief zu öffnen, hoffend nicht noch ein für sie nicht erklärbares Zeichen aufzufinden.
Sie faltete das Papier auseinander und las:

„Meine geliebte Coralie,

du wunderst dich wahrscheinlich, warum ausgerechnet ich dir jetzt einen Brief schreibe, da ich dies ja bis jetzt nie getan habe und dich immer wieder in deinen erneuten Versuchen, mich um Kontakt zu bitten, abgewiesen habe.
Es stimmt, deinen Versuchen nach Freundschaft konnte ich einfach nicht nachgeben, weil ich so viel mehr für dich empfinde.
Mir fehlt der Duft deiner Haut in meiner Nase.
Mir fehlt es, mit dir zusammen zu sein und im Regen zu tanzen.
Mir fehlt deine einzigartige Sicht, in jedem Normalen etwas Magisches zu sehen.
Mir fehlt es, mit dir zusammen zu sein und jeder Moment verwandelt sich in etwas Zauberhaftes.

Du bedeutest mir echt viel und ich denke an dich, Coralie!

Dein Xavier

Wow, sie musste kurz ein und ausatmen, bevor sie sich wieder fassen konnte. Was für schöne Worte.
Sie entsann sich ihrer gemeinsamen Zeit, die keine Ewigkeit dauerte, aber von emotionalen Höhen und Tiefen gezeichnet war.
Von vielen Unterschieden und zuletzt an einem Widerspruch verschiedener Lebenskonzepte zu Bruch ging.
Aber dennoch er war ein Mensch, ein Freund, ein Wegbegleiter auf ihrem Lebensweg, der ihre persönliche Geschichte wesentlich gezeichnet und ihr Gefühle, Gedanken und letzten Endes Erinnerungen bereitet hat, die bis dahin noch kein anderer zu schaffen vermochte.
Er war Jemand, der die größte Begierde in Worte fassen konnte wie kein Zweiter und ihm war gar nicht bewusst, wie wertvoll er für sie gewesen war und noch immer ist. Die Treue dieses einen jenen Menschen, Freundes, Wegbegleiter war einzigartig und mit nichts zu übertreffen.
Leider konnte sie ihm nie im Ansatz die Bedeutung seines Seins für sie persönlich zum Ausdruck bringen, da er ihre Worte immer miss zu verstehen schien und sie es deswegen nicht wagte, dies noch einmal zu versuchen.

Nach einer kurzen melancholischen Phase eines Augenblicks, in die sie dieser Brief voller schöner ehrlicher Worte zu versetzen schien, versuchte sie sich wieder ans Hier und Jetzt zu erinnern, das durch eine kleine Notiz und einen Ohrring mit einer einzelnen blauen Perle eine Menge Fragen aufwarf, deren Antworten sie zu klären versuchte. Nur wo sollte sie bloß anfangen?

Sie betrachtete das Foto dieses einen Bildes, das so viel Vertrautes und zugleich Fremdes enthielt. Die faszinierenden Farben, eine Bandbreite unterschiedlicher Rosétöne, wie sie sie selten gesehen hatte, hatten sofort ihre Aufmerksamkeit erregt und dann diese Frau, die ein schlichtes schwarzes Kleid trug und in abwesender, verträumter Geste eine Rose in der Hand hielt. Ihr Gesicht, das nur leicht im Profil zu erkennen war, ließ den Betrachter nur Vermutungen über ihre wahren Gedanken und Gefühle äußern. Aber dennoch ließ es den Eindruck einer in sich ruhenden, zufriedenen Person erwecken, die sich vollends auf ihre Beschäftigung konzentrierte und sich durch ihren eigenen Betrachter nicht aus der Ruhe bringen ließ. Wer konnte sie nur sein, dass sie einem so vertraut vorkam?
Sie betrachtete das Foto immer und immer wieder, versuchte alle Eindrücke, seien sie auch noch so klein, in sich aufzusaugen und hörte erst beim dritten Mal, dass jemand an der Tür klingelte. Sie sprang auf, nicht merkend, dass der Ohrring von ihrem Schoß fiel und erst wieder hinter einem ihrer Stühle liegen blieb.

„Ich komme ja schon“- rief sie, um den ungeduldigen Gast ein bisschen zu beruhigen.
„Guten Tag, ich habe hier eine Büchersendung für Sie.“

„Achja genau, vielen Dank. Haben Sie einen schönen Tag“ bedankte sie sich beim Postboten, nahm das kleine Päckchen entgegen und schloss die Tür, ohne den Abschiedswunsch des Mannes noch zu hören.

Immer noch gedanklich am Bild hängend packte sie geistesabwesend das Paket aus und holte das von ihr bestellte Buch „Die Kunst des Unvergänglichen“ heraus, welches ihr bei ihrer Masterarbeit helfen sollte, soweit sie überhaupt irgendwann fähig war, diese eine Arbeit schreiben zu können, deren Anfänge sie schon zu oft versucht hatte.
Aber nicht jetzt, dachte sie sich und stellte das Buch etwas grob in ihr Bücherregal.

Als sie gerade wieder in die Küche zurückgehen wollte, um sich nun bei einer frischen Tasse Tee das Foto ihres Gemäldes nochmals genauer anzuschauen, fiel ihr Blick auf eine längst vergessene goldene Schachtel in ihrem Regal, deren Inhalt sie schon zu lange versucht hatte zu verdrängen. Zu sehr wühlten diese Erinnerungen sie auf. Zu wenig konnte sie mit diesem Teil ihrer Geschichte umgehen.
Diese eine Schachtel, die nicht mehr als einen Brief und ein Foto enthielt. Diese Schachtel, in deren Besitz sie mit 16 Jahren kam. Diese Schachtel, die sie von der einen Person ihres Lebens erhalten hatte und die zugleich soviel Vergangenes und doch in ihr Weiterlebendes verbarg.
Aber nein, dachte sie sich, irgendwann müsste sie sich diesem Einen, für sie noch nicht Erklärbarem und bis hierhin immer Verdrängtem stellen. Ihre Oma, die für sie die Wegbegleiterin ihres Lebens darstellte, die ihr alles über Kunst, Musik, Liebe, das Leben beigebracht hatte, was man einem kleinen Mädchen, das mit vier seine Eltern verloren hatte, nur zeigen kann. Diese eine ihre Oma wird gewusst haben, dass diese eine Schachtel, mag sie auch nur so wenig ihrer wahren Wurzeln, ihrer Eltern, verbergen, viele Fragen ihres Lebens beantworten könnte, wenn man sie ließe. Doch bis jetzt konnte sich Coralie dem Inhalt dieser Schachtel nicht stellen, einem Inhalt, der noch viel mehr Fragen aufwerfen und das von ihr mit viel Kraft gefundene Gleichgewicht ins Wanken bringen würde. Doch jetzt war es an der Zeit.

Und nun öffnete sie die Schachtel und holte den erwarteten Brief und das Foto heraus.
Sie faltete das Papier auseinander und begann zu lesen:

„Meine geliebte Aurélie,

wie lange ist es her, dass wir einander nicht gesehen, nicht berührt haben? Insgesamt sind es 476 Tage, 14 Stunden und 7 Minuten. Jede Minute, jede Sekunde ein Hauch zu viel. Doch jeder Tag seitdem, seit diesem einen Tag, ist kein leeres Kontinuum mehr, das durch belanglose, aneinandergereihte Momente gefüllt wird, sondern beinhaltet eine Fülle, die nicht voller hätte sein können. Seit diesem einen Tag gibt es kein vor oder nach dir, sondern nur noch ein mit dir.

Ein Mit dir, das jeden Moment tiefer wahrnehmen lässt, ein Mit dir, das mit Worten nicht zu beschreiben ist, ein Mit dir, das alle Sinne ergreifend diese eine unsere Tiefe zu ergründen scheint.

Es war keine lange Zeit, die uns gemeinsam zu verbringen geschenkt war, und doch eine Ewigkeit, die mein Leben seitdem bestimmt.
Eine Ewigkeit, die in Zeit, in Minuten nicht zu messen ist.
Nimm diese eine jene Perle, die uns zusammenbrachte und lass sie dein Leben bestimmen.
Lass sie das ausdrücken, was sie uns bedeutet hat. Lass sie diese eine Ewigkeit verkörpern.
Geliebte Aurélie, du fehlst mir an jedem einzelnen Tag und doch bist du in jedem dabei.

In jedem einzelnen steckt ein Mit dir...

Ich denke an dich, wie immer, für immer...

Dein Nicolas

Coralie las diesen Brief nochmal und nochmal, um die Botschaft jedes einzelnen Wortes, jedes Zwischenraumes jeder Zeile zu verstehen. Und doch wollte es ihr nicht gelingen. Was hatte dieser Brief auf sich? Was sollten diese vielen, wohl gewählten Worte bedeuten? Wer war Nicolas für Aurélie gewesen, als dass ihre Oma ihn nie zu erwähnen ersuchte. Ihr Vater hieß Pierre, gestorben am 13.3.1993 genau wie ihre Mutter Aurélie.
Die Perle, richtig die Perle, von welcher sprach er da?

Coralie ging in ihrem Schlafzimmer umher, aufgewühlt von so vielen schönen und zugleich erschreckenden Worten.
Erst jetzt fiel ihr Blick auf dieses eine Foto.
Ein Foto, das sie unbemerkt zurückließ, als sie sich diesem einen Brief vollends widmete.
Ein Foto, das eine Frau in einem schwarzen Kleid zeigte, die dem Betrachter halb zugedreht, halb abwesend dasaß und eine Rose in der Hand hielt, umgegeben von einem Meer von Rosen. Eine Frau, die an einem Ohr, dicht versteckt hinter ihren lockigen brünetten Haaren, einen Ohrring mit einer einzelnen blauen Perle trug. Erst jetzt schien es ihr in den Sinn zu kommen. Erst jetzt fügte sich alles Erlebte dieses einen Tages, Heute, zu einem großen Ganzen zusammen. Sie rannte in die Küche und eilte auf das Foto des Bildes zu, suchend nach diesem einen kleinen Detail, das sie bis jetzt nicht zu bemerken vermochte. Und da war er, der Ohrring mit der einzelnen blauen Perle am Ohr, dicht versteckt hinter einer brünetten Locke.
Coralie konnte es nicht glauben. Konnte ein einzelner Tag noch sonderbarer sein? Zugleich so viele Fragen, Rätsel aufwerfen und doch zugleich so viele Puzzleteile eines ganzen Lebens zusammenfügen?
Da fiel es ihr wieder ein, die Perle. Die eine Perle, auf dem Bild hier, auf dem Foto dort, in dem Brief beschrieben als das Eine, das ihre Mutter und Nicolas zusammenbrachte und das Eine, dass ihre Ewigkeit verkörpern solle.
Doch wo war sie? Wo war die Perle, die sie eben noch aus dem Umschlag gefischt hatte und deren Bedeutung sie sich nicht in ihrer kühnsten Fantasie ausmalen konnte.
Coralie sprang auf den Boden und suchte ihre gesamte Küche ab, aber da war nichts. Nichts außer ein bisschen Staub, Zeugnis eines längst überfälligen Wohnungsputzes.
Was sollte sie jetzt tun? Wie gelang es ihr, diesen einen kleinen wertvollen Gegenstand wiederzuerlangen, dessen Bedeutung für ihr Leben, für ihr Dasein nicht größer sein könnte?
Sie rannte aus dem Haus. Getrieben von einer inneren Unruhe, die merkwürdiger nicht hätte sein können eben wie eine unsichtbare Schnur, die einen unbemerkt durchs Leben führt.
Sie rannte und rannte bis ihr der Atem vor lauter Anstrengung nahezu wegblieb.
Langsam kam sie zum Stehen, die Augen geschlossen, um sich ganz auf ihren wiederkehrenden Atem zu konzentrieren.
Tief atmete sie ein und aus und mit dem letzten Ausatmen öffnete sie langsam ihre Augen.
Da sah sie es, da sah sie ihn. Wie konnte das sein?
Was machte er hier? Er war doch eben noch in ihrer Wohnung um ihre Beine umhergestreift und hatte mit seinem tiefschwarzen Fell ihre Zehen gekitzelt. Eben ein echter Filou, er machte mal wieder seinem Namen alle Ehre, dachte sie lächelnd und ging auf ihn zu.
Aber was wollte er denn dort? Erst jetzt erkannte Coralie den adrett gekleideten Mann von eben, der sich zu ihrem Kater herunterbückte und etwas aus seinem Maul zu fischen schien.
Sie ging schneller auf Beide zu.

„ He, was machen sie denn dort mit meinem Kater?“- rief sie etwas zu vorwurfsvoll.
„Oh, ach nein, das ist ja ein Zufall, der Wirbelwind von eben. Man sieht sich scheinbar wirklich zweimal im Leben. Ich versuche nur etwas zu retten. Irgendein kleiner Gegenstand scheint sich in den Barthaaren Ihres Katers verfangen zu haben. Sehen Sie selbst.“
Antwortete der Mann zuerst rechtfertigend, ohne einen leichten forschen Unterton zu verstecken.
„Oh Sie haben Recht.“- antwortete Coralie aufgeregt und zugleich erleichtert, dass sie diesen einen so bedeutenden Gegenstand wieder in den Händen hielt.
„ Diese Perle ist wirklich etwas Besonderes für mich. Sagen Sie, darf ich Sie zum Dank auf einen Kaffee einladen? Ich kenne da hinten ein sehr schönes kleines Café, das einem Moment wie diesem wirklich würdig ist.“- fragte sie ihn, hoffend, dass ihre Stimme wieder den normalen Klang eingenommen hat und ihre tiefe Erleichterung nicht zu sehr verriet.
„ Ach das ist wirklich nicht nötig. Obwohl ich zugeben muss, dass ich bei dem Gedanken an eine Tasse frischen Kaffee meistens schwach werde.“ erwiderte er etwas verlegen.
„ Aber nur, wenn Sie mir verraten, wie Sie heißen.“- fügte er keck hinzu und ernte sich dafür ein leichtes Lächeln seiner Gesprächspartnerin, die ihr Wohlgefallen gegenüber diesem einen fremden Mann nicht ganz zu verbergen schaffte.

“ Coralie. Ich heiße Coralie. Und Sie?“- antwortete sie selbstbewusst und zugleich neugierig, wie wohl seine Reaktion auf den Klang ihres Namen ausfallen würde, da sie schon so viele merkwürdige Antworten bekommen hatte, als sie in ihrer Vergangenheit ihren Namen einer Person verraten hatte.
„ Coralie, meine Güte so etwas Schönes habe ich noch nie gehört. Eine Melodie eines Flügelschlages eines Schmetterlings. Etwas Leichtes, mit so viel Klang, aber Nichts, was lange nachhallt und dennoch einen nicht mehr loslässt. So viel Schönheit, so viel Natur, in nur drei Silben, die wie ein Windhauch verfliegen und doch nicht vergehen.“
„ Wow, okay, das ist mit Abstand, die sonderbarste, aber zugleich schönste Reaktion auf meinen Namen.“- antwortete Coralie peinlich berührt und verlegen von der Ehrlichkeit dieser einzelnen Worte und blieb vor einem geblümten Schild stehen, der Eintritt zu einem dieser Cafés gewährte, die einen jede Minute, jede Sekunde vergessen lassen und einen vollkommen in ihren Bann ziehen.
Dort verbrachten sie einige Stunden, umgeben von vielen anderen Menschen, die sie in ihrer merkwürdigen Vertrautheit kaum wahrzunehmen schienen und genossen den kostbaren Geschmack ihrer Kaffees.

Am nächsten Tag, Coralie war gerade im Begriff, sich eine Tasse frischen Tees aufzubrühen, klingelte es an der Tür.
Sie öffnete und da war es.
„Haben Sie vielen Dank und das ist für Ihre Mühe.“ „Oh vielen Dank“, antwortete der Postbote vergnügt und steckte sein erstes Trinkgeld diesen Tages in seine Jackentasche. Sie eilte in die Küche und begann es auszupacken.
Ein paar Minuten betrachtete sie ihr eigenes Kunstwerk zufrieden. Nun war alles beisammen, endlich vollkommen.

Der Brief, das Foto ihrer Mutter, die kleine Notiz und das Gemälde.

Nie hätte sie gedacht, dass ein einzelner Tag das ganze Leben erklären könnte und griff nach ihrer Kette, deren Anhänger eine einzelne blaue Perle war.

-Ende-

 

Moin Sophie,

ich bin mit deinem Text nicht recht warm geworden. Du kannst gut schreiben, deine Sätze fließen gut und sind angenehm formuliert, mir gefällt dein Schreibstil, aber du verkaufst deine Geschichte ziemlich unspektakulär, was auf die Länge schon abschreckt, leider.

Du beschreibst viel und wirfst mit großen Worten wie Lebenssinn um dich, ohne das wirklich zu zeigen, ich lese da so drüber, fühle aber nicht mit. Hier mal ein paar Beispiele:

Coralie, 29, Langzeitstudentin der Kunstgeschichte, immer rastlos, suchend und sehnend nach dem eigentlichen Sinn.

Na dann läuft bei mir jedenfalls etwas nicht rund, denn ich fühle mich so gar nicht vollkommen, in Perfektion vollendet, wie dieser Name zu verkünden mag.

Coralie ging in ihrem Schlafzimmer umher, aufgewühlt von so vielen schönen und zugleich erschreckenden Worten.

Du behauptest das alles, aber du zeigst es nicht. Zeig dem Leser Coralies Rastlosigkeit und ihre Sehnsucht und zeig uns, warum sie sich nicht vollkommen fühlt, warum sie aufgewühlt ist. Was denkt sie konkret, was läuft in ihrem Inneren ab, wie handelt sie genau? Das braucht mehr Szenen, mehr szenische Darstellung, mehr Dialoge, mehr Charaktere, die mit ihr interagieren.

Aber dennoch er war ein Mensch, ein Freund, ein Wegbegleiter auf ihrem Lebensweg, der ihre persönliche Geschichte wesentlich gezeichnet und ihr Gefühle, Gedanken und letzten Endes Erinnerungen bereitet hat, die bis dahin noch kein anderer zu schaffen vermochte.

Solche Beschreibungen geben dem Leser nichts, das muss der Leser spüren. Füge doch ein paar Szenen ein, in denen du Interaktionen zwischen den beiden zeigst. Oder du beschreibst ein paar Erinnerungen szenisch. Das würde dem Text bereichern und den Leser bei Stange halten.

„ Oh ja natürlich, Verzeihen Sie bitte. Manchmal habe auch ich meine innigen Momente, in denen ich nur vor mich hin sinne und in Erinnerungen schwelge, aber wer hat die auch nicht?
„ Wer ist der Maler? Wissen Sie, ich studiere nämlich Kunstgeschichte und habe demnach sehr viel mit gewöhnlichen wie auch außergewöhnlichen Kunstwerken und deren Schöpfern zu tun, aber dieses eine... ich weiß auch nicht... es ist nur so ein Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt... dieses eine hat mich besonders in seinen Bann gezogen.“
Deine Dialoge sind auch leider recht hölzern. Kein Mensch redet so. Lies dir das nochmal in Ruhe durch und formuliere das so, wie du es in der Situation sagen würdest, dann kommt das gleich authentischer rüber und der Leser ist mehr in der Szene.

Wie gesagt, du schreibst gut, deine Sätze sind schön, aber der Inhalt überzeugt mich noch nicht, dafür mangelt es für mich an diesen grundlegenden Dingen. Und bei der Länge des Textes schreckt das sicher auch so einige Leser ab.

Ich hoffe, ich konnte dir ein bisschen weiterhelfen, und ich wünsche dir ein schönes Wochenende

 

Hi Sophie,
ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Die Idee gefällt mir, ein schöner Tag, dessen Beschreibung in mir eine Sehnsucht hervorruft... auf jeden Fall ansprechend, aber ich denke, dass du einiges noch ändern und ausbauen kannst.

Hier ein paar Anregungen:

Sind es nicht die kleinen Dinge im Leben wie ein Ort, ein Geruch, eine Melodie, eine unerwartete Geste, die uns Tiefe im Leben verspüren lassen...
Ist das nicht eine Frage? Dann würde ich auch ein Fragezeichen dahinter setzen.

Eine Tiefe, die einen Menschen nicht individueller, einzigartiger machen kann.
An sich gefällt mir die Einleitung, aber diesen Satz verstehe ich nicht. Vielleicht kannst du es generell noch ein bisschen präziser formulieren, wenn dabei nicht dieses Mystische, Philosophische verloren geht.

Ein Ort, an dem man immer wieder zurückkehrt
Ein Ort, an den...

kostbarer Inhalt
kostbaren Inhalt

Sinn-und Leidenskrisen
Hier fehlt ein Leerzeichen.

es scheint Ihnen augenscheinlich zu gefallen“
"augenscheinlich" würde ich streichen.

ohne den Brief auf dem Küchentisch zu bemerken.
Wo kommt den plötzlich der Brief her? Hat den irgendjemand auf den Tisch gelegt? Überhaupt, wer ist Xavier und was genau hat er mit der Geschichte zu tun?

das mit vier seine Eltern verloren hatte
Erst meint sie, dass es ganz toll sei, dass ihre Freundin Marie so stark sei, obwohl sie mit acht ihre Mutter verloren hat, und dann hat sie selbst beide Eltern mit vier verloren?

Diese eine ihre Oma
diese eine jene Perle
Hier sind mir jeweils zu viele Worte.

Coralie, meine Güte so etwas Schönes habe ich noch nie gehört.
Und hier fehlt ein Komma hinter "Güte".

Ansonsten könntest du vielleicht nochmal auf deine Dialoge und Gedanken gucken, dass du da die Satzzeichen einheitlich nutzt, manchmal hast du nämlich Anführungszeichen mit Komma, mal mit Gedankenstrich etc. Es wäre zum Lesen einfacher, wenn alles einheitlich wäre.

Ich hoffe, ich konnte dir ein paar Anregungen geben und würde deine Geschichte, wenn du sie überarbeitest, gern nochmal lesen.

Viele Grüße,
Jojo

 

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