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Die Botschaft

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09.12.2023
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Die Botschaft

Das Morgenrot über dem Horizont des Meeres kündigt einen neuen Tag an, während ich mich auf dem vertrauten Weg zum Verwaltungshäuschen befinde. Einen richtigen Weg dorthin gibt es nicht. Die meisten Gebäude in meinem kleinen Dorf wurden mit Holzbrettern zusammengebaut. Es wirkt wie ein provisorisches Lager, welches aber trotzdem meine Heimat ist. Einige Fackeln, die uns in dunklen Nächten den Weg weisen, glimmen noch schwach, als wüssten sie, dass gleich der neue Tag unsere Überlebenskünste erneut auf die Probe stellen wird. Früher gab es für sowas Strassenlaternen, wurde mir gesagt. Jedoch sind jetzt elektronische Geräte ein Luxus, die nur in den allerwichtigsten Geräten eingebaut werden. Trotzdem haben wir ein grosses Lager voller solcher Geräte und Komponenten. Unser Dorf liegt nämlich nicht weit von einem einst blühenden Industriegelände. Manchmal durfte ich sogar bei Sammelaktionen dabei sein. Ich weiss noch, als ich das erste Mal die Ruinen von London in der Ferne sah. Aber das Risiko, um dorthin zu gelangen, haben wir nie auf uns genommen.

Die Überreste des Industriegeländes sind für uns wie ein Schatz. Wir nehmen alles mit, was funktionstüchtig und brauchbar aussieht. Sogar mein Motorrad wurde von allen elektronischen Komponenten befreit. Das Wichtigste wird für die Funkgeräte benötigt. Sie sind der einzige Weg, um mit den anderen Dörfchen zu kommunizieren. So konnten wir bereits ein kleines Netzwerk aufbauen, was das Leben ein wenig erleichtert. Wenn jemand etwas von uns benötigt, teilen sie uns das mit und ich bringe es zum gewünschten Ort. Manchmal weiss ich gar nicht, was ich transportiere, aber es beruhigt mich zu wissen, dass ich anderen helfen kann.

Als man mich heute Morgen weckte, wurde mir nicht viel gesagt, ausser dass es wichtig sei und schnell erledigt werden müsse.
Die Tür zum Verwaltungsgebäude öffnet sich mit einem leisen Knarren und gibt den vom Kerzenlicht gefüllten Raum frei. Überall liegt Gerümpel, und die Regale sind mit sorgfältig, aber unordentlich eingeräumten Gegenständen vollgestopft. Der Verwalter ist ein alter Mann. Er kennt sich mit den gesammelten Komponenten aus und stammt noch aus der Zeit vor der Ankunft der Harvester. Er erzählte mir oft, wie das Wasser danach immer knapper wurde und die Menschen begonnen haben, um ihr Überleben zu kämpfen. Heute ist es ruhiger geworden und die wenigen, verbliebenen Menschen helfen einander.
Der alte Mann ist gerade dabei, meine Lieferung bereit zu machen. Vorsichtig nimmt er ein altes, zylinderförmiges Objekt aus Messing in die Hand, welches im Kerzenlicht golden glänzt. Eingebaut sind breite, drehbare Scheiben, was an ein Zahlenschloss erinnert. Wie jedes Mal frage ich ihn, was das ist. Geduldig beginnt er es mir zu erklären und zeigt auf die Scheiben und wild verschlungene Drähte. Aber das meiste verstehe ich nicht, ausser dass es eine Art Stoppuhr sein soll. Am Ende sagt er, es sei ein Hoffnungsschimmer für die Menschen und wünscht mir dann eine gute Reise.

Danach verlasse ich das Häuschen und steige mit ein wenig Proviant und dem mysteriösen Objekt im Beutel auf mein Motorrad.
Als ich losfahre, hat sich die Sonne bereits in den wolkenlosen Himmel geschoben und Sonnenstrahlen erwärmen nun mein Gesicht. Es wird wahrscheinlich wieder ein heisser Tag werden. Seit die Harvester hier sind, werden die Tage Jahr für Jahr immer heisser und die Luft trockener. Das Landesinnere ist inzwischen unbewohnbares Ödland. Nur zerfallene Gebäude erinnern an eine einst florierende Zivilisation.

Der Wind bläst mir ins Gesicht, während ich der Küste entlangfahre. Aber der letzte Satz vom Verwalter will mir nicht aus dem Kopf gehen. War nicht jede Lieferung ein Hoffnungsschimmer? Immer bringt es uns ein Stück weiter. Jedes Bauteil, das wir in Funkgeräte, Fahrzeuge, Überwachungseinheiten oder sogar in Prototypen von Waffen einbauen konnten, ist Hoffnung. Manchmal frage ich mich, ob das genügt, oder ob wir uns selbst was vormachen. Hoffnung allein wird uns auf dieser sterbenden Welt nicht ewig tragen.
Die Umgebung während der Fahrt stellt sich der Hoffnung quer. Wie auf einem Karussell ziehen zerfallene Gebäude an mir vorbei, welche an eine verschwundene Zivilisation erinnern. Fahrzeuge, die der immer härter werdenden Natur zum Opfer gefallen sind, stauen sich reihenweise auf überwucherten Strassen und zeichnen ein Bild eines vergangenen Notstandes.

Irgendwann macht sich Hunger bemerkbar, der Durst gleich mit. Die Stelle dort drüben eignet sich gut für eine kurze Verschnaufpause, denke ich. Ich nehme das Tempo raus und ziehe vorsichtig am Bremshebel, wobei das Brummen meines Motorrades, während des Bremsens tiefer wird. Langsam nähere ich mich der Stelle und komme schliesslich zum Stillstand. Salzige Meeresluft streift mein Gesicht, während aus der Tiefe das Tosen der Brandung zu mir herauf dringt. Ich steige vom Motorrad ab und setze mich auf trockenes Gras. In sicherer Entfernung zur Klippe, welche sich vor mir in die Tiefe stürzt, blicke ich auf die weite Ferne des Meeres, das in der Nachmittagssonne glitzert.
Jedoch empfinde ich keinen inneren Frieden bei diesem Ausblick. Denn ein gewaltiges, nachtschwarzes Raumschiff hängt wie eine Zecke über dem Meer und saugt in einer breiten Fontäne unermüdlich das Wasser in seinen Bauch. Woher die Harvester kommen, wissen wir nicht. Vor vielen Jahren sind sie in unser Sonnensystem eingedrungen und eine Zeit lang in der Umlaufbahn des Jupitermondes Europa verweilt. Nachdem sie Europa ausgeplündert hatten, wandten sie sich die Erde zu.
Zuerst stürzten sie sich auf Süsswassergebiete im Landesinneren. Seen und Flüsse waren innert kürzester Zeit ausgetrocknet. Einst gedeihende Wälder wurden zu unfruchtbarem Land und saftige Weiden zu Wüsten. Hungersnöte und Krankheiten überrollten die Menschen. Wir wurden dezimiert und das war nicht einmal ihre Absicht, denn wir sind ihnen egal. Vermutlich wissen sie nicht einmal, dass wir existieren. Sie sind nur wegen unseres Wassers hier, wofür auch immer sie es benötigen. Und sie werden nicht aufhören, bis sie uns der letzte Tropfen geraubt haben.

Die letzte Etappe meiner Reise wirkt wie eine Slideshow verzweifelter Gegenmassnahmen der Menschheit. Verrostete Panzer und militärische Fahrzeuge reihen sich entlang der Küste auf, die nach dem Versuch, das Unaufhaltsame zu stoppen, ihr Ende gefunden haben. Aber jede Patrone und jede Rakete zerschellte an einem undurchdringlichen Schild. Die Raumschiffe setzten gleichgültig ihren Pfad fort. Erst als die letzte Atomrakete abgefeuert wurde, erkannten die Menschen ihre völlige Hilflosigkeit.
Wird dies das letzte Kapitel der Menschheit sein, frage ich mich, während das Küstendorf immer näher rückt, getaucht im Orange der Abendsonne.

Nachdem ich mein Motorrad abgestellt habe, erkundige ich mich im Dorf, dessen Häuschen wie überall aus grob zusammengezimmerten Holzbrettern bestehen, nach dem Besteller der Lieferung. Ich war schon oft hier, aber diesmal liegt eine spürbare Unruhe über dem Ort. Schliesslich bringt man mich an einen improvisierten Unterstand am Strand. Ein grobes Netz, mit eingeflochtenen Palmenblättern, spannt sich auf vier Pfeilern und schützt eine Werkbank vor den Strahlen der nun harmlosen Abendsonne. Zwischen dem Gerümpel rund um die Werkbank beugt sich eine Person über ein breites, walzenförmiges Objekt und arbeitet konzentriert daran.
Als ich dann in den Unterstand trete, blickt die Person auf und fragt, ob ich der Bote sei. Nach einem Griff in meine Tasche nehme ich den Messingzylinder heraus und reiche es ihm. Er nimmt es vorsichtig ins Licht der Abendsonne und mustert es mit einem kurzen Grinsen, das jedoch schnell zu ernster Miene wird. Ein wenig verwundert frage ich ihn, wofür das ist. Er blickt auf, der ernste Ausdruck bleibt. Dann geht er zum Objekt auf der Werkbank und sagt, dass es das letzte Bauteil einer Bombe sei. „Jetzt werden wir sehen, ob diese Dinger wirklich unzerstörbar sind“, sagt er und blickt auf das Meer hinaus. Erst jetzt erkenne ich die Umrisse eines Harvesters am Horizont, der sich wie ein Schatten vor die untergehende Sonne schiebt. „Wenn wir es schaffen, die Bombe in den Sog des Harvesters zu werfen, wird dein Zeitzünder sie im Inneren des Raumschiffes zum Explodieren bringen und es hoffentlich in Stücke reissen.“

Kurz nach Sonnenuntergang, als sich die Abendröte über den Himmel legt, wurde die Bombe fertiggestellt. Ich setze mich in den gemütlich warmen Sand und blicke auf den weit entfernten Harvester hinaus. Erklären wir ihnen jetzt den Krieg, frage ich mich, während vier Männer die Bombe auf ein Boot hieven. Mit einem kräftigen Ruck am Anlasserseil, wirft einer den Motor des Bootes an. Dann tuckern sie schweigend auf die in Abendrot gehüllte Silhouette des Harvesters zu.

Wenn sie Erfolg haben, könnte das eine Zukunft bedeuten, in der aus einem Hoffnungsschimmer Wirklichkeit wird. Trotzdem überkommt mich ein Hauch von Zweifel. Wenn es ein Fehlschlag wird, bedeutet das wohl den Untergang der Menschheit. Was für ein Leben würde das sein, in einer Welt, die sich unweigerlich in eine staubige Wüste verwandelt? Das Bild, das sich in meinem Kopf zeichnet, lässt es mir kalt den Rücken runterlaufen. Kilometertiefe Gräben durchfurchen das Land bis zum Horizont. Wo sich einst die Sonne auf dem Meer spiegelte, herrscht nun eine erdrückende Leere. Reglose Fische und bleiche Korallen bedecken den trockenen Meeresboden. Es ist ein Bild der Zerstörung, ein Bild, in dem sich kein Leben wiederfindet, ein Bild, das sich hoffentlich nicht verwirklichen wird.
Das Abendrot erlischt und langsam bricht die Dunkelheit an. Eine salzige Brise zieht vorbei, während Wellen friedlich an den Strand rollen. Es ist ruhig, aber doch kann ich mich nicht entspannen.
Plötzlich wird der Himmel mit einem grellen Weiss erfüllt, als würde im Zeitraffer ein neuer Tag anbrechen. An der Stelle, wo eben noch ein Harvester über dem Meer schwebte, breitet sich ein Inferno aus. Ein Feuerball, so gross wie ein Berg, steigt mühselig in die Höhe, bis ihn die Nacht wieder verschluckt.
Spätestens jetzt wissen die Harvester, dass wir existieren.

In den kommenden Monaten haben wir per Funk immer mehr Bestellungen erhalten, weil der Erbauer der Bombe seine Pläne geteilt hat. Nun wussten wir, wie man sie bekämpfen konnte. Die meisten Teile, die ich seither ausliefern durfte, waren für den Bau weiterer Bomben. Und zum ersten Mal gelang es uns, einige von ihnen zu zerstören. Doch mit der Zeit wurden wir besser. Immer wieder durfte ich auf meinen Reisen, Zeuge von infernalischen Feuerwerken werden und jedes Mal wurde die Ernte der Harvester ein Stück mehr eingedämmt.
Bis sie sich endlich entschieden zu gehen. Wie ein zerstreuter Schwarm schwarzer Insekten stiegen sie in den Himmel empor und verliessen die Atmosphäre.
Was zurück blieb, war eine verwundete Welt. Ich weiss nicht, ob das der Anfang von etwas Neuem ist, oder nur ein kurzes Aufatmen vor dem nächsten Sturm. Inzwischen können wir mit einem neuen Hoffnungsschimmer in die Zukunft blicken und uns Gedanken über den Wiederaufbau der Erde machen.
Vielleicht, so hoffe ich, beginnt jetzt das erste Kapitel unserer Zukunft.

 

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