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Die Braut
Die Braut
Damals lebten wir in einem kleinen Touristenort im Süden der kroatischen Adriaküste. Wir hatten Deutschland verlassen, um dort, im Heimatland meiner Frau, einen Neustart zu wagen. Drei harte Jahre Aufbauarbeit lagen hinter uns, die kaum einen Gedanken an unser ehemaliges Zuhause hatte aufkommen lassen. Nun war es Herbst, die Touristensaison vorüber, und für den Winter würde unser Restaurant geschlossen sein. Die Saison war gut verlaufen und hatte uns einen ersten Überschuss beschert. Nach langem Hin und Her entschlossen wir uns, das Restaurant zu renovieren und die Terrasse am Strand auszubauen; Deutschland musste ein weiteres Jahr warten, denn für beides reichte das Geld nicht.
Es war ein herrlicher Herbstmorgen. Ich kam aus der nahe gelegenen Hafenstadt Ploce zurück, wo ich mir neue Terrassenmöbel angeschaut hatte. Die Musik aus dem Autoradio wurde ständig durch aktuelle Nachrichten unterbrochen. Die politische Lage im ehemaligen Jugoslawien war zu dieser Zeit sehr angespannt. Kroatien hatte ein Referendum zur staatlichen Unabhängigkeit durchgeführt. Viele befürchteten eine Eskalation in diesem Konflikt mit der Zentralregierung in Belgrad.
Ich bog in die Strandpromenade ein. Meine Frau stand vor dem Restaurant und als sie mich entdeckte, rannte sie auf mich zu. Sie wedelte dabei mit einem Stück Papier in ihrer hocherhobenen Hand. Während ich meinen alten Taunus parkte, hüpfte sie ungeduldig von einem Bein auf das andere.
„Wir müssen nach Hamburg“, rief sie begeistert, „Bianka hat geschrieben, sie wird heiraten!“
Da gab es nichts weiter zu überlegen. Die Hochzeit der jüngsten Schwester meiner Frau hatte Vorrang, und vielleicht blieb ja doch ein wenig Geld übrig, zumindest für ein paar Eimer Farbe.
2000 Kilometer Autofahrt lagen vor uns. Die Vorfreude aber, nach so langer Zeit nun doch die alte Heimat zu besuchen, hatte das Wissen um die Strapazen einer solchen Reise verdrängt. Ich hatte mich entschlossen, die Route durch Bosnien zu nehme, um über Banja Luca auf die Autobahn Belgrad-Zagreb zu gelangen.
Am frühen Abend waren wir bei wolkenlosem Himmel gestartet. Schon bald bereute ich die Routenwahl, denn kurz hinter der Stadt Mostar, begann es zu regnen. Ich ärgerte mich, nicht berücksichtigt zu haben, dass das Wetter in den Bergen Zentralbosniens zu dieser Jahreszeit dem in Deutschland vergleichbar war. Letztendlich aber konnte das unserer guten Laune nichts anhaben und wir schwelgten in Erinnerungen und Erwartungen. Beim Thema Hochzeit war meine Frau kaum zu bremsen. Wie ein Kind freute sie sich auf die Braut in Weiß und schilderte in allen Einzelheiten das Brautkleid, so, wie es ihrer Schwester beschrieben hatte.
Wir kamen nicht dazu, weiter zu plaudern, denn plötzlich setzte Nebel ein. Mit jedem zurückgelegten Kilometer wurde er dichter und meine volle Konzentration auf die Strecke war gefordert. Die eh schon schlechte Straßenmarkierung war kaum mehr zu erkennen. Kein Auto begegnete uns und nach etwa zwei Stunden angespanten Vortastens auf der kurvenreichen Straße, hatte ich jegliche Orientierung verloren. Den Gedanken an einen kurzen Stopp verwarf ich sofort, zu gefährlich, sollten doch andere Fahrzeuge unterwegs sein. Als dann urplötzlich das uns umschließende Weiß einem milchigen Wabbern wich, mal mehr, mal weniger die Sicht verschleiernd, hielt ich an.
Meine Anspannung legte sich ein wenig und ich blinzelte durch die Frontscheibe. Neben mir vernahm ich ein erleichtertes Ausatmen. Etwa fünf, sechs Kilometern entfernt, musste ein Ort liegen, Lichter waren auszumachen und mit einem Mal wusste ich, wir befanden uns auf dem zentralen Hochplateau, das diese Straße schnurgerade durchquerte. Ich schaltete das Autoradio ein und fuhr weiter.
„Hörst du das?“ Meine Frau hatte sich vorgebeugt und einen Arm auf das Armaturenbrett gelegt. Eine Antwort unterband sie mit abwinkender Hand und lauschte angespannt den Nachrichten.
Über neunzig Prozent der Kroaten hatten für einen eigenen Staat gestimmt und die Reaktion aus Belgrad war prompt gekommen. Man werde die Unabhängigkeitsbestrebung zu verhindern wissen und hätte die Armee in Bereitschaft versetzt.
Meine Frau ließ sich in den Sitz zurückfallen und ich wusste, was sie dachte: Umkehren! Auch mir war die Nachricht auf den Magen geschlagen. Immerhin würden wir einige Stunden auf serbischem Gebiet unterwegs sein und das mit einem Autokennzeichen aus Kroatien.
„Wir fahren weiter oder?“, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Es nieselte. Die Scheibenwischer schmierten. Der leichte Nebel vor uns glich einem von den Scheinwerfern in Szene gesetzten Ballsaal mit auf und abwogenden Wesen, die sich verbanden, sich durchdrangen, wieder trennten. Sie flogen auf uns zu, zerflossen im Schwarz der Nacht, um sich erneut vor uns zu bilden. Und dann die rechts an uns vorbeigleitenden Buchstaben ‚INA’, in reflektierendem Weiß. INA, die staatliche Ölgesellschaft; aber das war keine Tankstelle, kein Reklameschild. ‚Ein Tankfahrzeug’, dachte ich, glaubte zumindest schemenhaft den Auflieger erkannt zu haben, … doch ohne Führerhaus, ohne Räder?
Eine Bö zerfetzte die Nebelschwaden. Das Grau des Asphalts wurde intensiver. Weiter vorn machte ich zwei Lichter aus, wie in Watte gepackt. Ein Fahrzeug im nächsten Nebelfeld? Ich nahm den Fuß vom Gas. Erneut war die Sicht auf wenige Meter eingeschränkt. Mit starrem Blick versuchte ich, darüber hinaus etwas zu erkennen.
Dann der Fuß, links vorn. Es war ein Fuß, unbekleidet, daran ein Stück von einem Unterschenkel, Hautlappen. Nein! Meine Augen spielten mir einen Streich. Ich riss das Lenkrad herum, erwartete ein Rucken. Verzweifelte Erleichterung. Es war ein Torso, dem ich ausgewichen war. Vom Genitalbereich bis zum Brustbein aufgerissen. Er lebte, gaukelten die auf die Windschutzscheibe nieselnden Wassertropfen vor; die Leber pulsierte, die Gedärme quollen hervor … und dann die Haare auf dem Stück Schädel, wie Seegras wiegend in seichtem Wasser.
Im Schritttempo bewegten wir uns weiter. Jeder Ölfleck, jede Farbnuance auf dem Asphalt ließ meine schweißnassen Hände zucken, doch nichts geschah, bis der Nebel erneut aufriss, mein Fuß die Kontrolle übernahm und uns abrupt zum Stehen brachte.
Mit hocherhobenen Armen stand diese Gestalt da, schwarz vor schwarzgrauem Hintergrund. Es schien, als trage sie ein Gewehr in einer Hand. Die Scheibenwischer brachten Klarheit, für einen Moment. Ein Mann in schwarzem Anzug, ohne Waffe, sein Gesicht so weiß wie sein Hemd, mit dem Ausdruck tiefster Verzweiflung. Ich stieg aus.
„Vorsicht!“, kam es weinerlich, „hier liegen Menschen, … es sollte doch ein Spaß werden.“
Die Umrisse einer weiteren Person lösten sich aus der Nacht, als ich wie versteinert stehen blieb. Mein Fuß hatte etwas ertastet, etwas wie feuchtes Moos im Wald. Mein Körper bebte, und ich begann, langsam den Blick zu senken. Nur ein Stück Stoff! Ein Ärmel mit einem Revers und daran ein Blumensträußchen. Doch das lag zu weit weg, als dass ich es hätte berühren können.
Das Kreischen meiner Frau befreite mich von dem Zwang, weiter nachzuforschen. Ich wandte mich um. Sie stand vorgebeugt neben der geöffneten Fahrzeugtür, eine Hand vor den Mund gepresst und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der beiden Männer. Wieder wurde sie von einem Schrei geschüttelt. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Und dann sah ich sie auch, die Frau im Hochzeitskleid, die in den Lichtkegel der Scheinwerfer getreten war. Sie hatte den Kopf auf eine Schulter geneigt und hielt mit gekreuzten Armen etwas gegen ihre Brust gedrückt. Das Kleid unmittelbar darunter war schwarzrot gefärbt. Der Fleck verlief nach unten hin breiter, mischte sich dort mit dem Regen zum Rosa, um sich am Saum mit aufsteigendem Schmutz der Straße zu verbinden. Erneut fegte ein Windstoß die Nebelschwaden davon. Ich sah ihr verklärtes Gesicht und erkannte, was sie umschlungen hielt; ein Stück von einem Arm war es und eine zerschundene Hand daran, in der ihre Wange ruhte.