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Die Burg
Sehnsüchtig schaute Jaro Bobul mehrmals am Tag zur Burg. Über dem Fluss thronend, beherrschte sie die Ebene. Mauern, Laufgänge und Türme auf dem Hügel wiesen mit gesichtsloser Mächtigkeit jede Hoffnung auf Eroberung ab. Seit der Besiedelung der Gegend schützten die Felsenquader ihre Bewohner: die Herrscher über das Land. Zu ihnen wollte Jaro gehören.
Das Volk duckte sich unter den Schatten der Anhöhe. Wollte ein Abgesandter zu den Herren, um Wünsche zu äußern, gab er sie auf einem Zettel beim Pförtner ab. Das ist lange nicht mehr geschehen. Die Boten kamen nie zurück. Angst hielt die Menschen fern. Sie gehorchten willig den Befehlen von oben, die sie schriftlich zugestellt bekamen. Von Weitem beobachteten sie die Autos und Hubschrauber, die offensichtlich Menschen hin und her transportierten. Es imponierte ihnen die Geschäftigkeit, mit der Bedeutsames, das weit über ihren Horizont hinausging, in der Burg geschehen musste.
Zwei Visionen überwältigten den vierzehnjährigen Jaro immer wieder: Es sah Tausende von Käfern aus den Mauern der Burg kriechen, wie eine Lawine die Ebene überfluten und alles auffressen, was essbar war, auch die Menschen, auch ihn selber. Er spürte schon das Knabbern an seinen Beinen, bis er davon aufwachte. Die andere Vision erfüllte ihn mit warmer Lebensfreude, denn ein wunderschönes Mädchen flog in Engelsgestalt von Burgfried herab, flüsterte ihm zu »Ich liebe dich« und küsste ihn. Davon erwachte er.
»Dergestalt sendet die Burg Glück und Unglück in die Welt, das ist die Macht der Burg«, resümierte Jaro die Botschaft. Er wollte zu denen gehören, die Macht über die Verteilung von Gutem und Schlechtem besitzen.
Seine Großmutter und er bewirtschafteten eine Hofstelle mit einer Kuh, einer Ziege, zwölf Hühnern und drei winzigen Äckern. Die Armut beflügelte die Vorstellungskraft von Jaro. Seit dem Tod seiner Eltern, die von einem der Autos überfahren wurden, wohnte er bei der Oma. Kopfschüttelnd hörte sie die Fantastereien des Enkels, wenn er ihr vorschwärmte, wie gut sie leben könnten, wenn er nach dem Studium ans Tor der Burg klopfen würde, um eine gut bezahlte Stelle zu bekommen.
»Jungchen!«, warnte die Oma, »Jungchen, der Hügel ist für unsereiner unerreichbar. Deine Eltern wollten auch in die Burg. Dabei haben sie sie überfahren.«
Die Traumbilder stachelten den Jugendlichen an, für die Schule und Universität Tag und Nacht zu arbeiten. Seine Doktorarbeit über »Sakrifizierung von Raum und Zeit: Ordnungsprinzipien einer bürokratischen Verwaltung«, mit »summa cum laude« bewertet, sollte dafür eine gute Grundlage schaffen, Herrschaft in der Burg auszuüben. Mit den Bestnoten des Abschlussexamens eilte er zur Brücke, zeigte dem Pförtner das Zeugnis und bat um Zugang zur Personalabteilung. Das Gelächter des Wächters fegte die akademischen Ehren hinweg.
Dr. Jaro Bobul schlich zurück zum Haus der Oma und bestellte den Garten. Immerhin konnte er zurückkehren und blieb nicht wie die Boten verschwunden. Das weckte in ihm große Hoffnungen. Punkt acht Uhr am nächsten Morgen stand er erneut vor dem Eingang und wies das Zeugnis vor. Das Lachen klang heute höhnischer als gestern. Ähnlich ging es an den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren: Jaro verlangte, den Chef der Personalabteilung zu sprechen, wurde jedoch abgewiesen. Den Rest des Tages versorgte er die Tiere, bearbeitete die Felder oder verkaufte die Erzeugnisse in dem Dorf. Der Wunsch Jaros, in der Burg zu arbeiten, bereitete der Oma Sorgen. Sie ahnte, dass die Leute aus der Ebene nicht fähig waren, dort zu arbeiten. Jaro würde Zugrunde gehen. Dieser Kummer raubte ihre Lebenskraft und sie starb nach fünf Jahren.
Das Gelächter hatte der Pförtner im Laufe von sieben Jahren eingestellt, ließ Jaro aber nicht in die Burg, bis dieser ihn fragte: »Warum?« Schulterzucken war die Antwort.
Trotz Nachforschungen wusste Jaro absolut nichts über die Menschen in der Burg. Glaubte er, in einem Buch den Namen der Burg gefunden zu haben, war er schnell enttäuscht: Die Seiten waren herausgerissen oder geschwärzt worden. Fragte er Menschen, so hatten die nie etwas von deren Bewohnern gehört oder gesehen.
Einmal hatte Jaro versucht, einen Wagen anzuhalten, um mit der Person in ihm zu sprechen. Er wäre beinahe totgefahren worden. Geschwärzte Fenster verhinderten einen Blick ins Wageninnere.
Die Landwirtschaft gedieh unter seiner Leitung in vierzehn Jahren zu einem Gut, dessen Ländereien die Hälfte der Ebene umfasste. Jeden Morgen ließ sich der Gutsherr in einem Luxuswagen zur Pforte fahren und wies sein Zeugnis vor. Die Burg durfte er nicht betreten. Mit Gewalt wollte er den Zugang nicht erzwingen.
Nach einundzwanzig Jahren - inzwischen gehörten Jaro alle Ländereien der Ebene - riss ihm die Geduld. Er befahl dem Pförtner: »Öffne das Tor!« »Nein! Ich warne dich! Du bist ein erfolgreicher Mann. Ich achte dich. Ich möchte nicht, dass dir Böses geschieht.« »Was soll mir schon geschehen. Lass mich in die Burg.« »Wie du willst! Ich habe dich gewarnt.« Der Torhüter gehorchte.
Jaro war am Ziel seines größten Wunsches. Als er zufrieden im Hof stand, ängstigte ihn die Totenstille. Die Mauern starrten feindselig auf den Eindringling, der ihr Reich erobern wollte. Eine Tafel am Tor zu den Gemächern schickte dem Besucher einen in grellem Gelb gemalten Spruch entgegen:
Eintritt verboten! Lebensgefahr!
Jaro achtete nicht darauf. Er ging von Zimmer zu Zimmer; alle waren leer. Menschen begegnete er nicht. Nur sein Tritt hallte durch die Flure. Überall erblickte er nur kahle Steine.
»Wo sind die Menschen, die herkommen und wegfahren?«, fragte Jaro den Pförtner.
»Hierher kommen keine Menschen.«
»Wer fährt die Autos und fliegt die Hubschrauber?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wem gehört die Burg?«
»Ich weiß es nicht.«
Jaro ging nach Hause, setzte sich in seinen Lieblingssessel und dachte nach. Am nächsten Morgen erschien er Punkt acht Uhr beim Pförtner, ließ sich das Tor aufsperren und wanderte den ganzen Tag durch die Räume, als suchte er etwas. So vergingen die Jahre.
Da Jaro seine Zeit damit verbrachte, entweder durch die Burg zu gehen oder im Sessel zu meditieren, zerfiel allmählich sein Gut durch Misswirtschaft, Unfähigkeit und Betrug der Untergebenen. Nach weiteren sieben Jahren besaß er nur noch das Häuschen der Oma. Aber täglich ging er zur selben Zeit zur Pforte, bis er eines Tages den Pförtner tot vorfand. Er beerdigte ihn und nahm seinen Platz ein.
Wenn ein Auto kam, öffnete er das Tor und schloss es. Nie hat er einen Fahrer oder sonst einen Menschen gesehen. Mehrmals hatte er es probiert, die Käfer aus seinen Fantasien zu entsenden oder das küssende Mädchen. Es misslang.
Das störte ihn keineswegs. Er lebte auf der Burg, das war ihm das Wichtigste. Er hatte seinen Lebenssinn gefunden. Aufopferungsvoll verrichtete er bis zu seinem Lebensende den Dienst. Er öffnete und schloss das Tor für die Autos mit den unbekannten Insassen. Nach seinem Tod fand sich kein Nachfolger ein. Heute liegt die Burg verlassen da. Nie wieder fuhren Autos über die Brücke noch landeten Hubschrauber.