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Die Dankstelle
Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Die milchige Luft kann es nicht gewesen sein, auch nicht die dumpfe Stille, oder das Gefühl von Watte in den Ohren. Ich richte mich verwundert auf. Wer war ich doch gleich? Was ist das Letzte, an das ich mich erinnere? Die Gedanken sind so laut, dass ich hochschrecke.
Dann fällt es mir wieder ein, ich stehe auf und sehe an mir hinab. Der Körper scheint intakt zu sein, ich fühle weder Schmerzen noch Hunger oder Durst. Allerdings habe ich auch keine Ahnung, wo ich bin oder was passiert ist, nachdem ich gestern eingeschlafen bin.
Es riecht nach frischen Ananasstücken und Pfeifenrauch. Und da ist noch etwas anderes, etwas, das ich nicht auf Anhieb erkenne. Ich strenge mich an, blähe die Nasenflügel und entscheide mich dann für einen Ziegenbock. Sehr schwach, aber zweifellos ein Paarhufer mit Bart. Und dieser Geruch stammt offenbar von einem Exemplar, das schlechtes Futter gefressen hat.
Schräg vor mir steht in einiger Entfernung ein Schreibtisch. Ich gehe darauf zu. Es ist ein Modell von der Sorte, wie sie heute nicht mehr in Mode sind, aus Ebenholz und mit prunkvollen Verzierungen. Irgendjemand hat sich bei der Herstellung viel Mühe gegeben.
Lose Papierstapel türmen sich zwischen dicken Wälzern, Tabletten und Silberfiguren darauf.
Das Patschen meiner nackten Füße auf dem Marmorboden klingt komisch. Ich trete näher, da es ansonsten nichts zu sehen gibt.
Hinter dem Möbel hängt ein Fernsprechwandapparat. Eigentlich hängt er nicht, denn dort, wo die Wand sein sollte, befindet sich nichts. Das herunterhängende Kabel schwingt mit dem Hörer sanft in der Gabel, als führte jemand vor kurzem ein Gespräch. Ich bemerke einen Ohrensessel, der anscheinend für Besucher bestimmt ist.
Bevor ich das alles merkwürdig und, was noch wichtiger ist, albern finden kann, taucht ein Junge von vielleicht elf Jahren auf. War er die ganze Zeit hier gewesen? Der Lederstuhl quietscht. Ich hatte ihn vorhin nicht bemerkt.
Der zerbrechlich wirkende, kleine Mensch lächelt mich wissend an und streckt mir eine Hand entgegen. Es ist jenes Lächeln, das wohlwollendes Wissen ausdrückt, von dem man selbst auch bald erfährt.
Unsicher überlege ich, mich abzuwenden. Doch die Augen des Kindes wecken mein Vertrauen. Ich habe Angst, dass die dünnen Knochen brechen könnten und gebe mir Mühe, die Hand so sanft wie möglich zu schütteln.
»Guten Tag, Nick«, sagt er. Es liegt etwas in seiner Stimme ... ich kann es kaum glauben. Eine gütige Wärme, die man höchstens von einem weisen Alten mit langem Bart erwarten würde, aber nicht von einem Blondschopf mit riesigen Augen.
»Bitte, nimm doch Platz«, lädt er mich ein.
Ich sehe in das Grünglänzende unter seinen Brauen und dann sinke ich in den samtigen Himmel. Schon lange nicht mehr habe ich mich so wohl gefühlt.
»Der Anruf kam zwar rüberraschend«, fährt er fort, »aber ich habe dich bereits erwartet.«
»Ach, tatsächlich?« Ich höre ihn kaum und kratze meine Schulter.
»Oh ja. Kannst du dich noch erinnern, woran du gedacht hast, als du gestern eingeschlafen bist?«, will er wissen.
»Nein.« Plötzlich durchzuckt mich etwas. Wie war noch gleich mein Name? Ich wende mich ab und kaue an meiner Unterlippe. Der Kleine hatte ihn doch eben erwähnt. Ni... Na...? Mein Blut wird zur Lava.
»Schon gut«, sagt er. »Fang einfach an.«
»Womit soll ich anfangen?« Ich bin mir sicher, ein dümmlicheres Gesicht zu ziehen als Paris Hilton, die ungeschminkt von Tinkerbell in die Nase gebissen wird.
»Hör zu«, versucht er mich zu ermutigen, »ich helfe dir ein wenig.« Nach einer kurzen Pause sagt er ein Wort, und dieses Wort schießt mir durchs Rückenmark und sprengt mein Herz. »Suki.«
Ohne zu wissen, was geschehen ist, fange ich mit meiner Erzählung an. Ich kann den plötzlichen Impuls nicht unterdrücken, will es auch nicht. Ich bin mir sicher, das hier ist der richtige Ort und die richtige Zeit.
»Suki. Sie ... ist ... Hast du sie zu mir geschickt? Sie war plötzlich da.« Ich breche ab, beiße mir auf die Lippen und schmecke Blut. Warum ist es mir peinlich, weiterzusprechen? Ich sehe in die Grasiris meines Gegenübers. Dann verstehe ich.
Nach ein paar Augenblicken senke ich meine Lider und spreche weiter.
»Damals ... Ich war wie ein Blatt, das im Meer trieb. Der brennenden Sonne, den Stürmen und dem Salzwasser preisgegeben. Zerfleddert und verblichen, überall fehlten Teile und die paar Reste waren mit braunen Flecken bedeckt. Ich konnte mich nirgends niederlassen, fühlte mich rastlos aber entkräftet, getrieben aber gefesselt. Meine Nerven waren so überreizt, dass ich sie mit Alkohol und Drogen beruhigte. Jedes Mal, wenn sich mein Verstand klärte, empfand ich Ekel und Selbsthass, und um diesen zu betäuben, schluckte ich alles, was ich bekommen konnte. Ich war unersättlich und mein Zustand glich innerhalb von wenigen Jahren dem eines Greises. Ich bin jetzt dreiundzwanzig.
Niemand hat mir geholfen. Ich hatte es mir mit allen Menschen, mit denen ich je zu tun hatte, verscherzt. Wer will schon mit einem saufenden Suizidgefährdeten zu tun haben?
Eines Tages saß ich in einem neu eröffneten Restaurant. Es war eines der wenigen, in denen ich es noch nicht geschafft hatte, Hausverbot zu erhalten. Ein Holzschild informierte über den Namen: ›Theater der spirituellen Nahrung‹. Die Besitzer hatten wohl einen Fantasytick. Ich saß ganz gerne dort drin, es war dunkel, der Whisky billig und manchmal bewegten sich die Fantasybilder an den Wänden. Meistens dann, wenn ich dreckiges Speed genommen hatte. Es wurde ein Pfefferminztee serviert, den ich mochte und der meinem Magen gut tat.
Eine Woche später sah ich Suki zum ersten Mal. Mein Hirn war gerade damit beschäftigt, aus den dreien zwei Bilder und später eines in meinem Kopf zu erzeugen und ihr Anblick war so ... furchtbar ... schön. Jeder andere hätte in ihr nur eine verrückte Maus gesehen. Sie machte viele Fehler, verschüttete Tee, zerbrach Gläser und Tassen, notierte Bestellungen falsch. Nur bei mir schien sie nicht nervös zu sein. War ich halbwegs nüchtern, studierte ich ihren Kirschmund, ihre Pfirsichhaut und verfolgte die Bewegung ihrer Haare, die wie silberne Vorhänge wogten.
War ich zugedröhnt, schien sie nicht mehr zu lächeln, ihre Wangen wirkten bleich und die Haare stumpf wie ein staubiger, brauner Flokati.
Die Phasen, in denen ich klar denken und sehen konnte, wurden länger. Ich konnte es nicht ertragen, wenn Suki die liebreizenden Grübchen um ihren Mund verlor. Dann zogen sich mir die Eingeweide zusammen und ich musste kotzen. Wenn man viel trinkt, muss man auch viel kotzen. Aber ohne Sukis Lächeln wurde es schlimmer. Unerträglich, ätzend wie die Magensäure, die mir dann zwischen die Zähne kroch.
Als ich einmal länger als vierundzwanzig Stunden nichts getrunken hatte, fand ich den Mut, sie anzusprechen. Sie sagte nichts, blieb einfach still. Ich glaube, ich habe mehr Unsinn von mir gegeben als mein gesamtes Leben zuvor, doch sie schien das nicht zu stören. Mit noch tieferen Grübchen und halb gesenktem Kopf stand sie hinter der Theke und lauschte, während sie mich beobachtete.
Bald darauf fand ich heraus, dass sie stumm war. Dieses Wissen versetzte mir einen Stich. Weshalb war mir das nicht früher aufgefallen? Suki schien meine Verbitterung zu spüren und machte den ersten Schritt.
Sie schien mich besser zu kennen als ich mich selbst. Die Dauer eines Wimpernschlags genügte ihr, um tiefer in mich zu blicken, als ich es jemals gewagt hatte. Hinunter an dunkle, verlassene Orte, die zerstört vor sich hin moderten. Sie verstand meine Rastloigkeit und mein Innerstes ganz ohne Mühe. Das machte mir Angst.
In den darauffolgenden Wochen trafen wir uns auch außerhalb des ›Restaurants für spirituelle Nahrung‹.
Suki wurde zu dem Ast, auf dem ich mich niederlassen durfte. Sie flickte die wunden Stellen, spendete Schatten und erfreute sich an den Punkten. Sie gab mir Halt, sie war das, worauf ich weder gehofft noch geglaubt hatte, und doch war sie realer als alles andere, das ich zuvor erlebt hatte. Stürme und Salzwasser konnten mir nichts mehr anhaben. Die Sonne war noch da, aber sie verbrannte nicht mehr, sondern strahlte sanft.
Dabei habe ich keine Ahnung, was ihr an mir gefällt. Meine dünnen, weißen Arme, die nicht einmal die Kraft besitzen, sie hochzuheben? Die glatten, schwarzen Haare, die mir in die Augen fallen wie fransige Federn? Die Kraftlosigkeit, mit der ich mich immer in Schwierigkeiten gebracht habe? Was findet sie bloß an mir?
Ein stummes Mädchen, das sich manchmal Zöpfe flechtet und zu einer Prinzessin-Lea-Frisur eindreht, das einen rubinroten Samtumhang in ihrem Schrank hängen hat und ihn nicht zu tragen wagt, weil man sie dann für eine Träumerin halten könnte.
Langsam erholte ich mich. Je mehr sich mein Zustand besserte, desto mehr wollte ich mich bedanken. Ich bedankte mich bei ihr, immer und immer wieder. Doch das ist einfach nicht genug.«
Ich mache eine Pause. »Das ist nicht genug.«
Ich verstumme erneut. Dann spreche ich weiter.
»Ich überlegte, dass es einen Ort geben müsse, an dem man sich bei einem Menschen, der einfach nur zuhört, bedanken kann. Eine Dankstelle. Für den wunderbarsten Menschen der Welt. Nein, des Sonnensystems, des Universums.«
Ich atme tief durch, lächle. Ja, das war es, woran ich gedacht hatte, als ich gestern einschlief. Als ich in ihren Armen einschlief, da dachte ich an die Dankstelle.
»Danke«, flüstere ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann. »Danke.«
Dann öffne ich die Augen wieder. Das Gesicht des Jungen verändert sich. Erst verrät es Freude und Teilnahme, jetzt Beunruhigung.
»Du musst jetzt gehen«, drängt er. »Beeil dich!«
Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, und kalte Angst legt sich um meinen Rücken wie ein Tuch.
Erneut erwache ich, doch jetzt ist alles schwarz. Meine Lider wiegen eine Tonne, ich kann sie nicht öffnen. Ich höre Stimmen, weit entfernt piepst etwas.
Als ich den Kopf zur Seite drehen will, durchschießt eine Welle meinen Körper, die etwas anderes ist als Schmerz, etwas Gewaltigeres.
Ich glaube, einen Blitz durch die Schwärze zu sehen und beiße die Zähne zusammen, bis ich das Gefühl kriege, der Kiefer würde brechen. Ich will meine Finger in etwas krallen, doch ich bin so erschöpft, dass ich das Bewusstsein wieder verliere.
Ich kann nicht bestimmen, wie viel Zeit vergangen ist. Als ich die Augen wieder öffne, erkenne ich eine verschwomme Silhouette. Suki. Ihr Anblick erschreckt mich. Sie kauert neben mir und sieht abgekämpft aus, als hätte sie zwei Wochen an einem Fließband malocht.
Als sie merkt, dass ich das Bewusstsein wiedererlangt habe, kann ich sehen, wie ihr die Anspannung vom Körper fällt. Nachdem sie einen Knopf gedrückt hat, kommt sie ganz nahe an mein Gesicht und streicht mir über die Wange. Ihr warmer Atem holt mich weiter zurück.
Etwas entspringt meiner Nase, Speichel rinnt aus meinem Mund. Ich kann nichts anderes tun, als hilflos dazuliegen. Ich fühle mich heiß und meine Lippen sind juckende Wülste. Aber Suki ist da. Sie ist da. Und die Schmerzen haben ein wenig nachgelassen.
Bald darauf gibt mir der Arzt, der das Zimmer betreten hat, zu verstehen, dass wir einen Unfall hatten. Die Worte treffen Suki wie Giftpfeile, sie zuckt unter ihnen zusammen, obgleich sie selbst dabei gewesen war. Ich kann mich an keinen Zusammenstoß erinnern, nehme an, dass mein Hirn diese Erinnerung noch unter Verschluss hält.
Ich versuche zu sprechen. Es gelingt mir nicht.
Die Schwärze kehrt langsam zurück. Ich höre Wortfetzen.
»... fünf Prozent ...«
Piep-piep-piep.
»... ungeschickt ... zum Leben ...«
Piep-pipipip-piep.
»...ig Hoffnung ...«
Suki! denke ich. Wo bist du?
Das Piepsen wird ungleichmäßig.
Suki!
Ich kann mich nicht bewegen. Ich sehe nichts mehr. Höre nur noch wie durch eine Dämmschicht.
Piiieeep.
Suki! Suki. Su...
Ich spüre eine Hand in meiner. Gut, das ist gut.
Es ist so schön warm.
Zwei Wochen später erfahre ich von dem Krankenhauspersonal, dass Suki jeden Tag, jede Stunde, jede Minute bei mir geblieben ist. Sie ließ sich die Mahlzeiten bringen und beauftragte einen Bekannten, ihr Wäsche zum Wechseln und Handtücher zu bringen.
Ich weiß, dass mich ihre Nähe zurück ins Leben gebracht hat. In ein schönes, neues Leben.