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Die denkende Scheune

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01.06.2005
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Die denkende Scheune

Einmal kam der Lange Mann auf seiner Wanderung durch den Wald in ein Dorf, in dem ein großes Fest gefeiert wurde. Mitten zwischen den Häusern war eine hölzerne Bühne errichtet, auf der eine Gruppe von jungen Leuten stand. Sie hatten kleine Kränze aus Blumen um die Hälse und Köpfe gewunden. Die Menschen vor der Bühne lachten und freuten sich.
Da fragte der Lange Mann eine in der Nähe stehende Frau, was das Fest zu bedeuten habe, und sie antwortete: "Es ist das Fest der Bürgerschaft. Diese Kinder sind heute alt genug, um Bürger des Dorfes zu werden. Sie müssen nur eine Frage beantworten, um zu zeigen, dass sie klug genug sind, diese Verantwortung zu tragen."

Der Lange Mann ging weiter. Bald fand er am Rand der Menge eine alte Frau, die gebückt dort stand und weinte. Ein großer, sehr dünner Junge hatte seinen Arm um sie gelegt und versuchte, sie zu trösten.
"Alte Frau", sprach der Lange Mann, "was hast du, dass du so bitter weinst?"
"Mein Sohn kann die Frage nicht beantworten", sagte die Alte unter Tränen. "So wird er Zeit seines Lebens ein Nichtbürger bleiben und niedere Frondienste verrichten müssen."
"Wenn dem so ist, worin besteht denn diese Frage? Kann er die Antwort nicht lernen?"
Die Alte schüttelte traurig den Kopf und gab ihm Auskunft: "Es ist eine Aufgabe des Rechnens. Der Meister des Dorfes fragt, wenn man viele Körbe hat und jeder Korb viele Äpfel enthalte, wieviele Äpfel das insgesamt seien. Da die Zahlen immer anders sind, kann er es nicht lernen."
"Er soll also zwei große Zahlen malnehmen?", vergewisserte sich der Lange Mann.
Die alte Frau nickte.
"Wenn es so liegt, will ich Euch helfen."
Der Lange Mann nahm seine Wohnung im Haus der alten Frau. Schon am nächsten Tag begann er die Vorbereitungen. Er suchte einen großen Raum und fand eine leere Scheune am Rand des Dorfes geeignet. Dann ging er auf den Dorfplatz, wo ein wöchentlicher Markt stattfand. Auf diesem verpflichtete er drei Pelzer, halbwilde Wesen des Waldes, die dort Beeren und Nüsse zum Tausch feil boten. Gegen eine geringe Bezahlung versprachen sie, zu tun, was er verlangte.

Den ersten Pelzer lehrte er nun, eine große Zahl als eine rechteckige Tabelle von Kreisen und Kreuzen auf ein Stück Papier zu malen. Der Pelzer war zunächst recht ungeschickt, doch nach einer Weile begriff er, was er tun musste.
Den zweiten Pelzer lehrte er, die noch leeren Felder der Tabelle nach bestimmten Regeln mit weiteren Symbolen zu füllen. Die kleinen Wesen des Waldes haben keine Schrift, doch spielen sie gerne ein Spiel mit Würfeln. So lernte der Pelzer auch dies.
Dem letzten Pelzer jedoch brachte er bei, die unterste Reihe der Tabelle in eine Zahl zu übersetzen und diese mit lauter Stimme zu verkünden. Die Stimme des Pelzers war schrill, doch der Lange Mann fand sie für seinen Zweck ausreichend.

Nun hatte diese Vorbereitung eine Woche gedauert. Da trat der Lange Mann mit der alten Frau und ihrem Sohn vor den Bürgermeister und verlangte die Aufnahme des Jungen in die Bürgerschaft.
"Die Regeln bestehen seit Alters her", sagte der Meister. "Wer die Frage beantwortet, wird ein Bürger, und nur dieser."
So führte der Lange Mann den Meister vor die Scheune. Viele Bürger hörten davon und schlossen sich ihnen an.
Der Lange Mann trat nun vor die Leute und sagte: "Wer die Frage beantwortet, wird ein Bürger, und nur dieser. Bürgermeister, so stellt Eure Frage dann der Scheune."
Die Leute raunten und der Meister zögerte, doch der Lange Mann hatte einen Ruf als kluger Gesell, wenn auch viele ihn für etwas seltsam hielten. Also fragte der Bürgermeister nach einem kurzen Moment: "Scheune, sagt mir: Wieviele Äpfel enthalten vier Hunderte von Körben zu fünfzehn Früchten?"
Es war einen Augenblick still, dann hörte man die dünne Stimme des dritten Pelzers aus der Scheune krächzen: "Sechs Tausende!"
Ein Murmeln ging durch die versammelte Menge, doch der Meister musste anerkennen, dass das Ergebnis richtig sei.
Darauf rief der Kämmerer: "Es ist ein Trick!" Und zum Beweis öffnete er das Tor der Scheune, hinter dem die drei Pelzer standen.
"Nun, wenn es denn ein Trick sei, so fragt doch die Pelzer Eure Frage", gab der Lange Mann zur Antwort.
Da befragten der Kämmerer und der Bürgermeister die kleinen Waldbewohner nacheinander, doch jeder der drei sah sie nur unverständig an. Lediglich der erste von ihnen schrieb etwas Seltsames auf ein Stück Papier und hielt es ihnen erwartungsvoll entgegen.
"Ihr seht", sagte der Lange Mann, "keiner dieser Pelzer kann für sich die Frage beantworten. Auch die Scheune kann es nicht. Weilen sie jedoch zusammen in der Scheune, so bekommt Ihr Eure Antwort." Er wies nun auf den dünnen Sohn der alten Frau. "Verweigert Ihr nun diesem Jungen seine Bürgerschaft, so müsst Ihr der Scheune die Bürgerschaft geben, solange die drei Pelzer in ihr weilen!"

Also gaben die Dorfbewohner der Scheune und den Pelzern den Titel eines Bürgers, solange sie zusammen sein würden. Der dünne Junge aber wurde zur harten Arbeit bestimmt. Betrübt verließ da der Lange Mann das Dorf und ging in den Wald zurück.

 

hi naut,
ich hab zwar noch nicht alle kommentare gelesen, aber auch ich bin der meinung, dass du hier (mal wieder ;) ) eine wunderbare geschichte darbietest.
schön, dass du aus dem langen mann eine immer wiederkehrende person machst, ich hab mich gefreut ihn wiederzusehen :))

was mich am meisten gefesselt hat, war der letzte absatz. man liest so gern gesellschaftskritische geschichten mit einer passenden moral, legt sie danach zur seite und denkt nicht mehr darüber nach. dass du noch einen schlag in den magen hinterhersetzt, wird den leser bestimmt dazu bringen, die geschichte etwas länger als die nächsten zwanzig minuten im gedächtnis zu behalten... wunderbar gemacht. ich freue mich schon auf teil drei!

liebe grüße, yonaka

 

Vielen Dank Yonaka! *verbeugt sich* Es freut mich, dass Dir mein Schlag in den Magen gefallen hat ;)

 

Hallo Naut,


Ich möchte deine Geschichte mal aus folgender Perspektive sehen: Wenn ein Ergebnis stimmt, ist es egal, wie es entstanden ist. Dies ist eine Parallele zu `der Zweck heiligt die Mittel´. Wie oft wird nur noch ein Ergebnis betrachtet, nicht, wie es dazu kam, besonders wenn es um wirtschaftlichen oder kriegerischen Erfolg (falls es den gibt) geht. Es lassen sich hier also moralische Fragen aufwerfen…
Der Bürgermeister in der Geschichte handelt sehr rational (bzw. pragmatisch), wenn er ignoriert, was der Lange Mann ihm eigentlich vermitteln will, er schützt die bewährte Ordnung. Den `Sonderfall´ der intelligenten Scheune, der Intelligenz simulierenden „Pelzer“ (gute Kreation) ignoriert er - man kann ja mal schauen, wie präsent diese Strategie im alltäglichen Leben ist.
Schriftstellerisch gesehen ist die direkte Verwendung eines (mehr oder weniger) bekannten Konstrukts eine Gradwanderung (bei den Zwei Uhren hab ich noch etwas darüber geschrieben) - kennt man die Grundidee, ist mehr die Form als der Inhalt für das Lesevergnügen verantwortlich. Vielleicht würde es helfen ungewöhnliche Kombinationen von Themen zu verwenden.
Aber trotzdem - wie schön mal etwas anderes im Philo Forum zu lesen, als das Übliche und dazu noch in einem guten Stil.


"was hast Du, dass Du so bitter weinst?"

- du

„wieviele Äpfel“

– wie viele

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Woltochinon schrieb:
Wenn ein Ergebnis stimmt, ist es egal, wie es entstanden ist. Dies ist eine Parallele zu `der Zweck heiligt die Mittel´. [...] Es lassen sich hier also moralische Fragen aufwerfen…
Das ist eine ziemlich interessante Sicht, die mir noch nicht in den Sinn kam. Aber Du hast Recht, dass das, was gemeinhin als "Rationalität" aufgefasst wird, meist eine Rationalität des Zwecks ist, eine Ergebnisbetrachtung unter Ausblendung des Kontextes des Zustandekommens.
[...] kennt man die Grundidee, ist mehr die Form als der Inhalt für das Lesevergnügen verantwortlich.
Nur zu wahr. Ich hoffte auf halbgebildete Leser, wie ich es bin. ;)
Aber trotzdem - wie schön mal etwas anderes im Philo Forum zu lesen, als das Übliche und dazu noch in einem guten Stil.
Ein schönes Lob, und das für eine so "alte" Geschichte. :)

Grüße,
Naut

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Naut!

Auch diese Geschichte von Dir gefällt mir sehr gut! :) Der Lange Mann möchte den Bewohnern zeigen, daß ihre Kriterien für eine Bürgerschaft unsinnig sind, und wieder einmal verstehen die es falsch. – Er setzt zuviel Denken voraus, die anderen können ihm nicht folgen.
Ich frage mich nur langsam, warum er seine Intention nicht klarlegt. Aber vielleicht finde ich ja noch in einer Geschichte die Lösung. Denn eigentlich wollte er ja dem Sohn der Frau helfen, dann inszeniert er zwar ein aufwendiges Spektakel, aber macht das Ergebnis vom Verstand des Bürgermeisters abhängig. Hm. Aber ich bin sicher, Du hast einen Grund dafür, das so enden zu lassen. Vielleicht, um zu zeigen, daß die Leute alles für bare Münze nehmen, was sie hören, ohne selbst darüber nachzudenken. Zu einem Umkehrschluß nicht fähig. Nichts verstehen, wenn man es ihnen nicht vorkaut.

Eigentlich bin ich ja wegen dem Imitieren schon die ganze Zeit geistig auf der Suche nach einem passenden Fall. :D Bisher hat mich aber die Erleuchtung noch nicht getroffen. Ich hoffe, das tut sie bald. :)

Ein paar Kleinigkeiten noch:

»"was hast Du, dass Du so bitter weinst?"«
– »du« immer klein

»"Mein Sohn kann die Frage nicht beantworten", antwortete die Alte unter Tränen.«
– statt »beantworten« und »antwortete« hintereinander zu verwenden, empfehle ich »erzählte die Alte« zu schreiben.

»"Er soll also zwei große Zahlen malnehmen?" vergewisserte sich der Lange Mann.«
– malnehmen?“, vergewisserte

»Schon am nächsten Tag begann er die Vorbereitungen.«
– fände »begann er mit den Vorbereitungen« schöner

»Auf diesem verpflichtete er sich drei Pelzer,«
– meiner Meinung nach gehört das »sich« da raus

»Also gaben die Dorfbewohner der Scheune und den Pelzern den Titel eines Bürgers, solange sie zusammen seien.«
– sein würden.


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Danke, Susi!
Die Änderungen habe ich sofort eingebaut.

Nun, Du hast ja "Der Weise" gelesen, daher weißt Du ein wenig über die Motivation des Langen Mannes. Er stellt sich eben vor, dass ein Mensch, wenn er nur genug Informationen hat, immer die richtige (rationale) Entscheidung fällt. In dieser frühen Episode ist er davon noch völlig überzeugt, wenn Du das mit seinem Handeln in "Die schreitenden Toten" vergleichst, siehst Du, dass er da schon viel zynischer vorgeht.

Ich bin gespannt, wo das hinführt ...

Danke jedenfalls,
Naut

 

Wie ist es bloß möglich, dass niemand diese Geschichte empfohlen hat???? Sie ist sicher eine der besten des letzten Jahres. Ich selbst hab bisher zu wenig auf Empfehlungen geachtet, verspreche aber hiermit, dass ich die nächsten Geschichten, die ich nur annähernd so gut finden werde wie diese, unverzüglich empfehlen werde!

 

Du kannst sie immer noch empfehlen, das geht jederzeit. Damit kommt sie zwar nicht mehr in die Top2005-Abstimmung, aber immerhin ist sie dann bei den Empfehlungen gelistet.

 

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