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Die Dirigentin
Die beiden betreten das Cafe in Bescheidenheit. Der regennasse Mantel, den die alte Frau ablegt, hat schon bessere Tage gesehen, genau wie der Rock den sie glatt streift, ehe sie sich daran macht ihrer Begleiterin – einem Mädchen von vielleicht elf Jahren - aus dem Annorak zu helfen. Die Kleine steht mit gesenktem Blick da, leicht vornübergebeugt, und wirkt so verlassen wie ein leerer Gepäckwagen auf einem mitternächtlichen Bahnsteig. Das dicke, dunkle Haar zu zwei langen Zöpfen gebändigt steht sie da, Speichel rinnt ihr von den schwulstigen Lippen über das Kinn, sie stiert ihre Füße an, die in knallgelben Gummistiefeln stecken. Von der Alten wird sie aus dem Annorak geschält, lässt sich dabei in jede Richtung biegen und drehen, um das widerspenstige Ding loszuwerden, unbeeindruckt vom gaffenden Publikum.
Willig lässt sich das Mädchen auf den nächsten freien Sessel bugsieren, lässt sich Spucke und Rotz aus dem Gesicht wischen und unter dem Tisch stoße ich den Armenier an, der über seiner Zeitung brütet, immer auf der Suche nach neuen Geschäften, und der von all dem noch nichts mitbekommen hat. Mit unauffälligem Nicken und dem Versuch eines mitleidigen Gesichtsaudruckes deute ich in die Richtung der beiden. Gerade bestellt die Alte Apfelsaft und Torte, während das Mädchen unter dem missbilligenden Blick der Kellnerin mit der Nase den Tisch berührt, ihn schnüffelnd, schleckend, grinsend erkundet, bis sie sanft an der Schulter genommen wieder gerade hingesetzt wird. Der Armenier lässt die Zeitung sinken und beobachtet das Paar.
Der Kopf des Mädchens wandert in den Nacken, die Augen geschlossen hebt es die Arme, wiegt sie von einer Seite zur anderen, in langsamer, winkender Gebärde. Sie spreizt die Finger, schließt sie wieder zur Faust, das tut sie immer wieder, eine Epilepsiezeitlupe, so denke ich. Der Armenier wendet sich wieder mir zu.
„Du bist ein Dummkopf“, sagt er und vertieft sich neuerlich in seine Lektüre.
„Was soll das?“, zische ich ihn an, bereits verunsichert, denn ich weiß, dass er zwar kein Mann großer Worte, dafür aber tiefer und guter Gedanken ist. Und wieder hebt er den Blick, sieht mich mitleidig lächelnd an.
„Sie das Mädchen noch einmal an“, sagt er, „und stell dir dabei vor, dass sie glücklich ist.“
Nochmals richte ich meinen Blick auf das Kind, starre es an, wie es da zwei Tische entfernt im Licht des Kronleuchters sitzt, und mit den Armen Kreise in die Luft zeichnet. Und endlich begreife ich, was für den Armenier sofort klar war, erfasse, dass der Mensch, den ich da sehe, kein Geschöpf ist, das zur Hirnlosigkeit verdammt und sinnlos mit den Armen fuchtelnd durch ein beklagenswertes Leben stolpert.
Eine Dirigentin ist sie. Glänzend und wunderschön ist diese Erkenntnis für mich, und genau so wunderschön ist dieses Kind, wie es da sitzt und die Arme im Rhythmus einer Sinfonie bewegt, die nur von ihm gehört, begriffen, beherrscht wird. Das Mädchen öffnet die Augen, und ich bin berauscht vom Glanz der von ihnen ausgeht. Eine Verzückung spiegelt sich darin, die das Universum als Konzertsaal akzeptiert hat, mit den Sternen als Orchester.
Tief berührt wende ich mich ab, kaum überrascht von der Träne, die mir im Augenwinkel klebt. Der Armenier faltet die Zeitung zusammen und sieht mich ruhig an. „Und jetzt, mein lieber, dummer Freund sage mir: Wer ist hier behindert?“