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Die Dirigentin

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02.02.2003
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Die Dirigentin

Die beiden betreten das Cafe in Bescheidenheit. Der regennasse Mantel, den die alte Frau ablegt, hat schon bessere Tage gesehen, genau wie der Rock den sie glatt streift, ehe sie sich daran macht ihrer Begleiterin – einem Mädchen von vielleicht elf Jahren - aus dem Annorak zu helfen. Die Kleine steht mit gesenktem Blick da, leicht vornübergebeugt, und wirkt so verlassen wie ein leerer Gepäckwagen auf einem mitternächtlichen Bahnsteig. Das dicke, dunkle Haar zu zwei langen Zöpfen gebändigt steht sie da, Speichel rinnt ihr von den schwulstigen Lippen über das Kinn, sie stiert ihre Füße an, die in knallgelben Gummistiefeln stecken. Von der Alten wird sie aus dem Annorak geschält, lässt sich dabei in jede Richtung biegen und drehen, um das widerspenstige Ding loszuwerden, unbeeindruckt vom gaffenden Publikum.

Willig lässt sich das Mädchen auf den nächsten freien Sessel bugsieren, lässt sich Spucke und Rotz aus dem Gesicht wischen und unter dem Tisch stoße ich den Armenier an, der über seiner Zeitung brütet, immer auf der Suche nach neuen Geschäften, und der von all dem noch nichts mitbekommen hat. Mit unauffälligem Nicken und dem Versuch eines mitleidigen Gesichtsaudruckes deute ich in die Richtung der beiden. Gerade bestellt die Alte Apfelsaft und Torte, während das Mädchen unter dem missbilligenden Blick der Kellnerin mit der Nase den Tisch berührt, ihn schnüffelnd, schleckend, grinsend erkundet, bis sie sanft an der Schulter genommen wieder gerade hingesetzt wird. Der Armenier lässt die Zeitung sinken und beobachtet das Paar.

Der Kopf des Mädchens wandert in den Nacken, die Augen geschlossen hebt es die Arme, wiegt sie von einer Seite zur anderen, in langsamer, winkender Gebärde. Sie spreizt die Finger, schließt sie wieder zur Faust, das tut sie immer wieder, eine Epilepsiezeitlupe, so denke ich. Der Armenier wendet sich wieder mir zu.
„Du bist ein Dummkopf“, sagt er und vertieft sich neuerlich in seine Lektüre.
„Was soll das?“, zische ich ihn an, bereits verunsichert, denn ich weiß, dass er zwar kein Mann großer Worte, dafür aber tiefer und guter Gedanken ist. Und wieder hebt er den Blick, sieht mich mitleidig lächelnd an.
„Sie das Mädchen noch einmal an“, sagt er, „und stell dir dabei vor, dass sie glücklich ist.“

Nochmals richte ich meinen Blick auf das Kind, starre es an, wie es da zwei Tische entfernt im Licht des Kronleuchters sitzt, und mit den Armen Kreise in die Luft zeichnet. Und endlich begreife ich, was für den Armenier sofort klar war, erfasse, dass der Mensch, den ich da sehe, kein Geschöpf ist, das zur Hirnlosigkeit verdammt und sinnlos mit den Armen fuchtelnd durch ein beklagenswertes Leben stolpert.

Eine Dirigentin ist sie. Glänzend und wunderschön ist diese Erkenntnis für mich, und genau so wunderschön ist dieses Kind, wie es da sitzt und die Arme im Rhythmus einer Sinfonie bewegt, die nur von ihm gehört, begriffen, beherrscht wird. Das Mädchen öffnet die Augen, und ich bin berauscht vom Glanz der von ihnen ausgeht. Eine Verzückung spiegelt sich darin, die das Universum als Konzertsaal akzeptiert hat, mit den Sternen als Orchester.

Tief berührt wende ich mich ab, kaum überrascht von der Träne, die mir im Augenwinkel klebt. Der Armenier faltet die Zeitung zusammen und sieht mich ruhig an. „Und jetzt, mein lieber, dummer Freund sage mir: Wer ist hier behindert?“

 

hallo,

cooler ansatz, mir war anfangs nicht bewusst. dass es sich um ein behindertes mädchen handelt. aber mir gefällt der gedanke, oder die denkweise des armeniers, sowie konnte ich zwischen den zeilen lesen, wie krass unsere gesellschaft halt ist und wie selbstverständlich wir die gesundheit sehen....geschrieben ist es sowieso gut.

greez - ranit

 

hi ranit,

hab dank für deinen kommentar. was er mir zeigt ist, dass ich bei der einleitenden beschreibung zu nachlässig war. ich hätte mir gewunschen, dass der leser gleich merkt, was sache ist. mal sehen, ob ich hier noch etwas textarbeit anbringen werde. der rest passt ... ich wollte einfach ein wenig gegen die gängigen vorurteile der 'gesunden' gegen die 'kranken' anwettern. ist einfach nervtötend.

lg p.

 
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Hallo journey2heaven,

Eine schöne Geschichte, die du dort geschrieben hast. "Schätz' andere nicht nach äußeren Gebärden", stand früher in meinem Deutschbuch. Ich finde, dass dieser Satz auch gut auf deinen Text zutrifft. Anfangs fragt sich der Leser, was es mit dem Mädchen auf sich hat, das mit ihrer Mutter das Restaurant betritt. Warum ist es einsam ? Hat es seinen Vater verloren, oder hat es beim Stadtbummel nicht das bekommen, was es wollte ? Auf diese Weise lässt du den Leser erst einmal im Dunkeln, und lädst ihn zum Weiterlesen ein. Als die Behinderung durch deine passenden Beschreibungen überdeutlich wird, regt sich Mitleid bei deiner Hauptperson. Da ihr Freund sie darauf hinweist, dass ihr Mitleid fehl am Platze sei, schaltest du indirekt eine Kritik ein : Behinderte wollen im Normalfall kein Mitleid. Sie möchten wie normale Menschen behandelt werden. Ich denke darum ging es dir auch in deiner Geschichte. Am Ende gelangt der Protagonist zur Einsicht, und sieht sie endlich - du hast im ganzen Verlauf schon Hinweise darauf gegeben - als jemanden mit freien Willen, eigenen Wünschen und einem lebenswerten Leben : als kleine Dirigentin. Dass diese noch für ihre späte Erkenntnis und Schroffheit durch den Ausspruch ihres Freundes verbal angegriffen wird, und der Leser dadurch animiert wird, seine eigene Meinung zu finden, ist sehr geschickt gedacht.

Eine Kleinigkeit noch :

Der Kopf des Mädchens wandert in den Nacken, die Augen geschlossen hebt es die Arme, lässt sie von einer Seite zur anderen wandern, in langsamer, winkender Gebärde.

Zweimal wandern. ,wiegt sie von einer Seite zur anderen,

Liebe Grüße,
moonaY

 

hallo moonaY,

herzlichen dank für deinen ausführlichen kommentar und auch für den hinweis mit der wortwiederholung ... ich habe mir erlaubt deinen vorschlag aufzugreifen.

deine anmerkung, dass dich das anfängliche verschweigen der behinderung zum weiterlesen animiert hat, finde ich interessant. das kommt meiner faulheit sehr entgegen.

lg p.

 

Hallo Journey,

noch toller hätte ich die Geschcihte gefunden, wenn du die Moral von der Geschichte nicht als Frage zum Abschluss genannt hättest. :)

Ansonsten fand ich die Geschichte richtig gut.

Lieben Gruß, sim

 

tja sim, da zogs mir - ob das gut oder schlecht ist, sei mal dahingestellt - einfach den rechten zeigefinger in die höhe. danke für deinen kommentar und dein lob.

lg p.

 

Friedvolle Grüße

Eine schöne Geschichte, gekonnt erzählt und formuliert. Das Lesen hat Spaß gemacht, und hinterher darüber nachdenken mußte ich auch.

Der letzte Abschnitt hat mich nicht gestört. Ich finde ihn eher als Ende passend, denn ohne ihn wirkt die Geschichte irgendwie nicht abgeschlossen. Das mit der Träne im Augenwinkel ist allerdings an der Grenze zum Kitsch. Hier würde ich Dir raten, über alternative Formulierungen nachzudenken.

Kane

 

hallo Kane,

tja, das mit der Träne tut mir nicht im mindesten leid - ich hab halt ein wenig zu nahe am Wasser gebaut. Klingt komisch - ist aber so.

Hab Dank für deine Anmerkungen.

lg p.

 

ad "na und?": na gut, wenn du es bevorzugst durch einen erhobenen zeigefinger(oder eher einen emporgehaltenen moralpenis) peinlich banale ditaktizität zu erzeugen und damit deiner geschichte eine plumpe schlussanmutung zu geben, dann kann ich auch nur sagen "na und?"

 

was geht? dass du mal was gepeilt bekommst? sei nicht zu stolz drauf, das war nicht wirklich schwer

 

Hallo journey2 heaven,

mir hat Deine Geschichte und die Wendung gut gefallen. Den letzten Absatz halte ich auch für überflüssig, weil er nur das schon Bekannte aussagt. Die Träne ist für mich - verzeih das Wort - eine zu plumpe Aufforderung an den Leser gerührt zu sein.
Der Armenier hat mich einen Moment in die Irre geführt, ich dachte die Nennung der Nationalität hätte etwas mit seiner Kompetenz zu urteilen zu tun.

Tschüß... Woltochinon

 

Ich find die Sprache zu bemüht und verklärend-romantisch. Aber gut, der Text ist mir eh thematisch zu banal angelegt, von daher passt das. Nein warte, es ist auch ein Stück die Umsetzung, die in keinster Weise einen Funken Neuland enthält. Na und dann, last but not least, die Message!

Schließlich ändern weder die Irritation/das Mitleid der Anwesenden noch die Romantik des Prots irgendetwas. Angegafft wird die Kleine sowieso. Mir gefällt da eher die gleichgültige Selbstverständlichkeit, mit dem der Armenier diese Begebenheit nimmt. Denn Normalität ist auch dann nicht gegeben, wenn man in einem geistig oder körperlich behinderten Menschen einen Künstler sieht.

 

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