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Die Drud
Ich weiß natürlich, was alle denken.
Ich weiß auch, dass sie Recht haben, und damit hab' ich ihnen etwas voraus. Sie wissen es nämlich nicht. Sie vermuten es bei sich, sie tuscheln darüber, sie behaupten, sie wären sich sicher, und nachts träumen sie bisweilen davon. Aber wissen, wissen tun sie es nicht.
Den ganzen Tag habe ich gebetet, nur gebetet und Buße getan. Vorsichtig lasse ich den geweihten Rosenkranz auf meinen Schoß sinken. Draußen wird es Nacht, und vom Fenster aus beobachte ich, wie die Berge schwarz werden und nur noch einen roten Kranz tragen, nicht für lange, nur für einen Augenblick oder zwei. Wie schön sie so sind, die Berge … die dichten Tannenwälder schauen aus wie das glänzende Fell auf dem Rücken einer riesigen, buckligen Katze, wenigstens solange der Kranz währt.
Manchmal, wenn ich auf die Nacht warte, dann bin ich mir ganz sicher, dass es so auch im Paradies aussehen muss. Die Leute würden natürlich sagen, dass das eine sehr düstere Vorstellung ist, also sag ich es niemandem. Meine Schwester Anni hat es aber trotzdem gewusst, glaube ich; sie ist oft um die Abenddämmerung zu mir ans Fenster getreten und hat mit mir zugeschaut wie die Abendsonne den Bergen ihre rot-goldenen Kronen aufgesetzt hat. Ihr hätte ich es erzählt, aber sie war ja taub, das arme Ding, und das Sprechen bereitete ihr Mühe. Aber ihre Augen, ihre Augen haben immer Bände gesprochen. Direkt in meine Gedanken konnte sie schauen, und ich habe sie immer gelassen.
Die Kinder hab ich schon ins Bett gebracht, und mein Mann, der ist noch im Wirtshaus. Aber lang wird er da nicht mehr bleiben. Es ist gefährlich, sagen die Frauen, wenn man nach der Dunkelheit noch draußen umeinander läuft, gerade wenn eine Drud unterwegs ist. Man könnte sie dann anlocken, sagt man, und dann wacht man vielleicht nimmer auf. Das stimmt natürlich nicht; jeder weiß, dass eine Drud nicht willkürlich zuschlägt, und es dauert viele Nächte, bis einer am Drudendruck stirbt. Aber so droht man halt den Männern, damit sie nicht zu lange fortbleiben, und wenn sie ein bisschen getrunken haben, dann glauben sie's auch und kommen heim und vertrinken nicht den ganzen Lohn, den die meisten hier bei uns vom Gutshof bekommen.
Wie lange da noch Arbeit zu haben ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt, jetzt, wo die auf dem Gut so von der Drud geplagt werden. Die Gutsfamilie glaubt das natürlich nicht. „Die Schwindsucht!“, hat ihnen der Arzt aus der Stadt gesagt, und sie wiederholen es oft und gern mit wichtigen Mienen. „Die Schwindsucht.“ Pah! Im Dorf weiß man es natürlich besser, aber man hält sich raus, die Gutsfamilie ist eben aus der Stadt und dort weiß man es nicht anders. Aber wir hier im Dorf, wir beten und tun Buße.
Der älteste Sohn der Familie, der ist schon tot. Lang hat's gedauert bei dem; zum Michaelifest ist es losgegangen, und erst an Allerseelen hat er sein Leben ausgehaucht, um Mitternacht, unter dem Drudendruck. Ganz blau muss er gewesen sein, sagt man, und die Zunge hing ihm aus dem Hals, die Küchenmagd hat's erzählt. Und jetzt hat sie den Mittleren dran, die Drud, und besitzt ihn jede Nacht. Eine Schande, sagen die Leute, ein so hübscher Kerl wär er, und fröhlich, ein netter Junge. Nicht wie der Bruder - Gott hab ihn selig, denn über die Toten spricht man nicht bös – ganz und gar nicht wie der Bruder, der ein Halunke gewesen ist und ein Dieb und Mörder, möge der Herr seiner Seele gnädig sein. Lang hält aber auch der Jüngere nicht mehr durch, sagt die Küchenmagd, und sogar das einzige Mädl der Familie klagt schon über Träume und einer Schwere auf der Brust in der Nacht. Die Leut sagen, dass die Gutsherren bald wegziehen wollen, viele meinen, dass das das Beste wäre, denn sonst holt die Drud sie vielleicht alle. Ich sage nichts. Ich weiß es ja.
Mein Rosenkranz ist mir vom Schoss gerutscht, ich muss eingenickt sein. Hastig hebe ich ihn auf und beginne wieder zu beten. "Gegrüßet Seist Du Maria Voll Der Gnade …"
Ich höre die Tür unten zuschlagen, aber ich bewege mich nicht, lieber koste ich die letzten magischen Momente aus, bevor die Sonne vollständig hinter den Bergen verschwunden ist und die Sterne aufgehen. Mein Mann poltert eilig die Treppen hinauf, aber wie er die Tür zur Schlafkammer aufmacht, bleibt er plötzlich ganz still stehen. Ich schaue immer noch zum Fenster hinaus. Ich glaube, dass er sich erschreckt hat, aber ich möchte mich nicht nach ihm umdrehen.
Endlich höre ich ihn ausatmen, langsam und beherrscht, und er sagt: „Himmelherrgott. Martha! Wie du da so am Fenster sitzt, mit dem Rosenkranz, ganz wie früher, als die Anni …“ Er bricht ab, kommt zu mir und legt mir die schwielige Hand auf die Schulter. Er ist ein guter Mann, ein sanfter Mann. Ich lege meine Wange an seinen Arm, und er fährt fort: „... einen Moment hab ich fast gedacht ich kann sie sehen, hier neben dir, wie sie immer dagestanden hat. Ganz dürr, ganz aufrecht, und stumm wie eine Forelle.“ Jetzt schauen wir beide aus dem Fenster in die Berge, und wie immer frag ich mich, ob sie froh ist, dass sie in den Bergen gestorben ist, weit oben, wo der rotgoldene Kranz sie jeden Abend berühren kann.
Mein Mann liegt neben mir im Bett und schläft, er atmet so regelmäßig wie das Uhrwerk unten in der Stube. Ich versuche mit allen Mitteln wach zu bleiben. Nur bis kurz nach Mitternacht muss ich aushalten, dann kann ich schlafen, glaube ich. Aber es ist erst um zehn herum, dem Mond nach zu urteilen, meine Augen sind so schwer, mein Atem ist tief und fühlt sich an wie warmer Samt in meiner Kehle. Meine Glieder sind wie Blei, so schwer, so unglaublich schwer, dass ich mich wundere, dass ich nicht in meiner Matratze versinke. Mühsam hebe ich meine linke Hand zu meinem Gesicht; ich möchte mich in die Wangen zwicken, denn ich darf nicht einschlafen, unter keinen Umständen, oh Herr im Himmel, lass mich nicht einschlafen. Nicht heute Nacht.
Meine Finger gehorchen mir kaum, und noch ehe ich mein Gesicht auch nur berühren kann, sehe ich die Anni. Sie steht an meinem Bett und lächelt ein freudloses Lächeln. Die Würgemale an ihrem Hals treten schwarz hervor, weil sie den Kopf so komisch schräg hält. Ihr strähniges Haar ist voller Tannennadeln und rotschwarzer Klumpen. Ich möchte schreien, aber ich habe keinen Atem, um einen Ton zu erzeugen. Sie kommt ein bisschen näher, und meine Hand fällt leblos auf die Decke, so schwer wie ein Felsen. Ich habe das Gefühl, dass meine Brust eng und klein wird, dass meine Rippen sich wie Klauen um meine stechenden Lungen legen und sie zerquetschen. Ich will den Kopf schütteln, mich wehren, ich will weinen, aber nichts davon ist mir möglich, alles was ich zustande bringe ist ein trockenes Röcheln, von dem nicht einmal mein Mann aufwacht. Und die ganze Zeit denke ich: Nein, Anni, bitte, bitte nicht, es ist vorbei, es ist doch schon vorbei, du hast doch deine Rache gehabt. Bring keinen mehr um, Anni, tu das nicht! Aber sie ignoriert mein stummes Flehen.
Alle Heiligen im Himmel, lasst es doch endlich vorbei sein, ich bereue doch was ich getan habe, ich bereue es so sehr! Lasst sie verschwinden, die Drud, nehmt sie von mir!
Wenn ich mich nur bewegen könnte. Eine einzige, kleine Bewegung, das weiß man, und der Bann ist gebrochen. Mit aller Kraft versuche ich, die Hand wieder zu heben. Schweiß steht mir auf der Stirn und rinnt mir salzig brennend in die Augen. Aber es ist vergebens. Die dürre, aufrechte Gestalt schüttelt langsam den noch immer seltsam zur Seite gebeugten Kopf und lächelt mich an, und ich weiß, dass ich verloren bin. Ich füge mich und schließe die Augen, und kann trotzdem sehen, wie sie sich langsam umdreht und sehr steif die Kammer verlässt.
Ich erwache erschöpft von dem Kampf, den ich auch letzte Nacht wieder verloren habe. Wie kann man gegen eine Drud gewinnen? Wie soll ich mich von einem Fluch lösen, der in mir sitzt wie eine Zwillingsseele?
In den ersten Nächten nach Annis Tod erwachte ich voller Genugtuung. Ich wußte, wer sie auf dem Gewissen hatte. Seit Wochen war er hinter ihr hergeschlichen, hat sie bedrängt und belagert. Das arme Mädchen, taub und fast stumm wie sie war, wie hätte sie sich denn wehren sollen? Und durch mich würde sie sich rächen können. Denn den Gutsherrensohn anzuzeigen, was hätte das schon gebracht? Wir sind keine reichen Leut. Nimm's hin und mach dich nicht auffällig, sagen die Leut. Und so halten wir's auch.
Aber in den Bergen, als die Anni in meinen Armen starb, da wusste ich, wie ich's anstellen würde. Und ich ließ sie mich besitzen, meine kleine Schwester, und wir erschufen die Drud. Ich habe es ihr erlaubt, in meinem rasenden Wahn, mich zu besitzen, in ihren letzten Momenten in den rotgoldenen Bergen.
Ich jubilierte an dem Morgen, nachdem der Mörder verreckt war. Jetzt würde das Leben weitergehen können. Die Leut sprachen davon, dass es eine gerechte Strafe gewesen ist, denn die Druden können Böses wie Gutes bewirken.
Manchmal tuscheln sie, wenn sie glauben ich sehe es nicht, und zeigen in der Kirche auf mich. Aber sie meinen's nicht bös.
Doch wie hält man eine Drud auf? Ich kann es nicht. Jede Nacht ersteht sie neu, und ich wünschte, ich könnte sagen, dass kein Funke in mir meine Drud herbeisehnte.
Ich bin schlecht.
Jetzt bleibt mir nur das Gebet, das Gebet und die Buße.
Ruhig setze ich mich ans Fenster und schaue in die Berge. Rosa sind sie jetzt im Morgengrauen, errötet als ob sie sich meiner schämten. Nicht eine einzige Nacht seit Allerseelen hab ich die Anni aufhalten können, nicht eine einzige Nacht werde ich sie besiegen, bis zu meinem Tod, meine geliebte Schwester, meine schreckliche Drud.