Die dunkle Straße
Die Straße liegt im Dunkeln da,
Leer und weit, wie immerdar.
Du kannst nicht vorbei,
Du musst durchgeh’n.
Und niemand hört den Schrei,
Durch den sich deine Wangen bläh’n.
Die Straße liegt im Dunkeln. Das ist immer so, wenn ich sie sehe. Jedes Mal. Immer.
Nie habe ich sie im Licht gesehen. Und jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, verspüre mich einen unerklärlichen Drang, hineinzugehen. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, es ist nirgends ein Straßenschild zu sehen. Auch die Gegend kenne ich nicht. Nirgends ein Anhaltspunkt, wo ich mich befinden könnte.
„Und das träumen Sie jede Nacht?“
„Jede Nacht.“
„Hm. Hm“, sagte der Psychiater und kritzelte etwas auf seinen Block: Abendessen mit Hanna absagen –> Restaurant mit Birgit
„Hm, haben Sie eine Vermutung, was der Traum Ihnen sagen will?“
„Nein. Deswegen bin ich doch zu Ihnen gekommen.“
„Hm, das ergibt Sinn ...“, sagte der Psychiater und kritzelte etwas auf seinen Block: Der Typ ist doch krank! Mit vorigem behandelnden Psychiater in Verbindung setzen
Das Telefon klingelte. Nach acht Freizeichen nahm jemand ab und eine Frauenstimme meldete sich leise:
„Ja, bitte?“
„Guten Tag, hier spricht Goldstein, ich bin auch Psychiater. Könnte ich wohl mit Herrn Postler sprechen? Es geht um einen ehemaligen Patienten von ihm.“
„Tut mir Leid, Herr Goldstein. Herr Postler ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden.“
„Das tut mir Leid. Nichts für Ungut.“
„Auf Wiederhören.“
Goldstein versuchte es noch bei drei weiteren ehemaligen behandelnden Psychiatern seines Patienten, aber alle waren spurlos verschwunden.
„Könnten Sie mehr Einzelheiten nennen?“
„Nun, jedes Mal, wenn ich am Straßeneingang vorbeigehe, kreuzt eine weiße Katze meinen Weg.“
„Eine weiße Katze?“
„Ja.“
„Und sie ist jedes Mal weiß?“
„Jetzt wo Sie es sagen ... Nein, einige Male war sie auch grau.“
„Hm, hm“, sagte Goldstein und kritzelte etwas in seinen Block: Mami, ich check gar nichts mehr!
Goldstein schloss seine Praxis ab und machte sich auf den Nachhauseweg.
Er ging bis zur Straßenbahnhaltestelle und wartete auf die Linie 5, die genau vor seinem Haus hielt.
Nach zwei Minuten kam sie und er stieg ein.
„Mein Herr, Sie müssen aufwachen. Hier ist die Endstation.“
Herr Goldstein schreckte auf. Hatte er wirklich bis zur Endhaltestelle geschlafen?
Noch schlaftrunken stieg er aus und sah sich um.
Nein, hier war er noch nie gewesen.
Er lief in der Hoffnung, einen Taxistand oder wenigstens eine Telefonzelle zu finden, los.
Als er einige Minuten gelaufen war, hörte er eine Katze miauen.
„Und das träumen Sie jede Nacht?“ fragte der Psychiater.
„Jede.“
„Hm, hm“, sagte der Psychiater. „Und waren Sie schon mal in Behandlung?“
„Nein, Sie sind der erste Psychiater, an den ich mich wende, Herr Kottner.“