Mitglied
- Beitritt
- 25.02.2022
- Beiträge
- 235
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Die Eichenhütte
In der Nähe eines Bauernhauses befindet sich noch heute eine Eiche. Nicht besonders groß und nicht außergewöhnlich alt. Zwischen den Eschen und Birken fällt sie zwar auf, aber nicht so sehr, wie in der Zeit, in der Großvater um sie herum einen Schafstall baute. Für sich genommen war auch der Stall gewöhnlich. Er sah genauso aus, wie man sich eine Hütte vorstellt, die von einem Mann gebaut wurde, der in seinem Leben nicht viele Hütten gebaut hat: unterschiedlich hohe Holzwände mit schief geschnittenen und morschen Brettern und kleinen, grob aus dem Holz gestanzten, glaslosen Fenstern. Dazu bestand sie aus den unterschiedlichsten Holzarten, die Großvater aus den verschiedensten Wäldern und Sperrmülllagern zusammengesammelt hat. Vor allem fiel das bei den Balken auf, mit denen die unförmigen Hüttenfenster über Nacht geschlossen werden konnten. Sie waren babyblau und wirkten dank stilvoller aus dem Holz gestanzten Musterungen wie eine Antiquität.
Für sich genommen war die Hütte hässlich und hätte Großvater sie nicht um die Eiche herum gebaut, wäre sie wohl keinem in Erinnerung geblieben. So aber nannte man sie Eichenhütte und trotz ihrer Unansehnlichkeit hatte sie einen einzigartigen Charme. Denn aus dem Dach der schiefgebauten Hütte mit den wild zusammengewürfelten Materialien wuchs eine prächtige Eichenkrone. Großvater störte sich nicht an der Hässlichkeit des Stalls, die im Laufe der Jahre vielen Passanten aufgefallen war. Ihm ging es nicht um Kleinigkeiten, wie schiefe Bretter oder unförmige Fenster. Ihm ging es noch nicht einmal darum, praktikable Lösungen zu finden – denn ein jeder, der sich mit Hütten oder Bäumen auskannte, hätte ihm gesagt, dass die Eiche weiterwachsen und die Hütte mit der Zeit verdrängen würde. Dass es jedes Jahr unendlich viel Arbeit sein würde, die Hütte überhaupt aufrechtzuerhalten. Großvater hätte die Bedenken jener Spezialisten abgewinkt und lächelnd gesagt, dass es ihm stets um das Gefühl ginge und das, so meinte er, findet sich im Hier und Jetzt. Und Hier und Jetzt, beim Bau der Eichenhütte ereilte ihn jenes Gefühl, das einen Menschen nur dann ereilt, wenn er mit seinen eigenen Händen etwas schafft.
Die Eichenhütte befand sich etwa dreihundert Meter von dem Bauernhaus entfernt, in dem Großvater wohnte. Vom Küchenfenster aus hatte er stets einen guten Blick auf sie und seine Schafe. Links befand sich eine Böschung, die zu einer kleinen Weidefläche führte, auf der die Schafe den Tag über grasten sowie ein breiter Fluss. Auf der rechten Seite lag ein Pferdegehege, das Jahre später an einen Bauern verkauft und zu einer Ackerlandschaft werden sollte. Aber zur Zeit der Eichenhütte beherbergte das Gehege vier Pferde – zwei Gescheckt, eines Schwarz und eines in einem dreckigen Rotbraun –, die des Öfteren über den Zaun schauten und fröhlich wieherten, wenn Großvater kleinere Reparaturen an der Eichenhütte vornahm. Vor dem Pferdegehege, in Richtung des Bauernhauses befand sich außerdem ein künstlich angelegter Badeteich, den Großvater vor dem Bau der Hütte mithilfe eines Nachbarn angelegt hat. Seit Kurzem quakten in ihm auch die Frösche, die er vom Biotop eben jenes Nachbarn gestohlen hatte, in der Hoffnung, sie würden sich in seinem Teich ansiedeln.
Bald schon, kaum dass die Eichenhütte stabil genug stand, um den Stürmen und Wettern zu trotzen, machte Großvater sich daran, einen Futtertrog aus Holz zu bauen, den er an der hinteren Innenwand der Hütte befestigen wollte. Doch weder war er gut im Schätzen (weshalb der Trog um gut fünfzig Zentimeter zu lang war), noch hatte er den Eichenstamm bedacht, der eine beachtliche Menge an Raum im Inneren der Hütte einnahm. So blieb ihm nichts über, als den bereits fertigen Trog zurechtzuschneiden, und aus seiner Mitte ein großes Loch zu stanzen, sodass der Futtertrog sich um den Stamm herum, an der Stallwand einsetzen ließ. Statt den geplanten Stunden kostete es Tage und dann noch einmal Monate, bis Großvater den Innenraum der Scheune so weit fertig hatte, dass die Schafe in ihren neuen Stall einziehen konnten. Denn auch an den Hüttenboden hatte er nicht gedacht und so legte er ihn nachträglich mit Brettern aus, die er Stück für Stück einzeln zuschnitt.
Doch es lohnte sich. Denn als er fertig war, ergab es sich – ganz ohne Großvaters Zutun –, dass die Kätzinnen sich vor allem im Frühling, manchmal im Herbst, den Futtertrog zum Gebären ihrer Kätzchen suchten. Sicher lag es an dem frischen Heu, dass er den Schafen jeden Abend in den Trog legte und auch an jener Nische in der Mitte des Futtertrogs, hinter dem Stamm, die durch seine Unbedachtheit entstanden war. Ein Glücksfall für die Kätzchen und auch für Großvater, denn er liebte, wie die Hütte sich mehr und mehr mit Leben füllte.
An den Reparaturen, die er Jahr für Jahr vornehmen musste, störte er sich nicht. Im Gegenteil. Es wurde ihm zur Aufgabe, sich um all das Leben rund um die Eichenhütte zu kümmern. Bald schon fütterte er auch die Kätzinnen, damit sie sich auf der Nahrungssuche nicht allzu weit von ihren Kätzchen und der Eichenhütte entfernen mussten. Und zu den Fröschen im Teich gesellten sich Fische und Libellen, und nachdem er Vogelhäuser an die Äste der Eiche hing, kamen auch die Vögel (was den Kätzinnen gut gefiel). Irgendwann beschloss Großvater, die Hütte noch um ein Hasengehege zu erweitern, das allerdings leer bleiben sollte. Denn kurz nachdem er die Käfige an der hinteren Wand der Eichenhütte angebracht hatte, ereilte ihn die Nachricht, dass seine Familie bald um ein Enkelkind erweitert werden würde. Und das freute Großvater sehr, noch mehr allerdings, als sich herausstellte, dass Kind Großvaters Liebe zur Eichenhütte teilte.
Sobald Kind laufen konnte, verbrachten die beiden sehr viel Zeit bei der Eichenhütte. Großvater lehrte Kind, wie es geschickt über den Kot springen konnte, den die Schafe überall hinterließen und noch bevor es lesen konnte, hielt es einen Akkubohrer in der Hand, mit dem es eifrig Löcher in Bretter bohrte, während Großvater die jährlichen Reparaturen an der Hütte vornahm. Vor allem das Dach musste immer wieder an den breiter werdenden Stamm der Eiche angepasst werden und da Kind Großvater unterstützen wollte, lernte es früh, auf den Ästen der Eichenhütte herumzutoben. Das Leben in und um die Eichenhütte faszinierte Kind. So nannte es die ersten fünf Kätzchen, die es entdeckte, Lena, einfach, weil es den Namen schön fand. Auf Großvaters Frage, wie es die Kätzchen auseinanderhalten wolle, zuckte es mit den Schultern und sagte: „Es kommen eh nur die, die kommen wollen.“
Irgendwann glaubte Kind, groß genug zu sein, um alleine zur Eichenhütte zu gehen. Aber weil Großvater das nicht erlaubte – so verantwortungslos er in manchen Dingen auch sein mochte, so ließ er Kind doch nicht unbeaufsichtigt auf Bäume klettern oder am Wasser spielen – schlich Kind sich immer erst aus dem Bauernhaus, wenn Großvater schlief. Und das tat es auch nur in den sternenklaren Nächten mit Monden, die stark leuchteten, denn eine Taschenlampe hatte es nicht. Zwischen Fluss und Teich sprang es den breiten Steg entlang über den Schafskot hinweg (und manchmal auch hinein), um über den leeren Hasenstall hinauf aufs Dach der Eichenhütte zu klettern. Dort setzte es sich auf den ersten breiten Ast, direkt über dem Dach und lauschte dem Rauschen des Flusses, dem müden Blöken der Schafe unter sich, dem Quaken der Frösche im Teich. Kind war gerade so alt, dass die Nacht auf es mystisch wirkte, ohne ihm Angst zu machen. Und wenn es doch einmal gruselig wurde, dann sang es. Denn Kind liebte es, zu singen. Nicht so wie im Kindergarten, denn da sang es immer nur ganz leise. Nicht weil es schüchtern war oder glaubte, nicht singen zu können, sondern weil es nicht mochte, wie die Stimmen der lauteren Kinder auf den Kassetten klangen. Nur hier, auf dem Ast der Eiche sitzend, sang es laut und voller Inbrunst, weil niemand hier war, um es aufzunehmen oder zu belauschen. Manchmal redete Kind sich ein, dass die Schafe und die Kitten und die Frösche mit ihm sangen. Und so hätte es ewig bleiben können – doch mit der Schulzeit änderte sich vieles.
Kind hatte weniger Zeit zu Staunen und noch weniger zu Träumen. Statt aufregenden Naturnachmittagen mit Großvater gab es Lernstunden und Hausaufgaben, und als Großvater irgendwann zu alt und gebrechlich war, um mit Kind zu spielen, wurde es in einen Kinderhort gebracht, wo es zwar Spaß hatte und Freunde fand, aber die Eichenhütte nicht mehr besuchen konnte. Unterdessen fielen Großvater die Arbeiten rund um die Eichenhütte immer schwerer. Er schaffte es nicht mehr, aufs Dach zu steigen, um die Ziegelsteine auszutauschen, und bald schon waren auch die dreihundert Meter vom Bauernhaus zur Hütte zu beschwerlich, um sie jeden Tag zu meistern. Schweren Herzens sah er von seinem Küchenfenster aus, wie die Eichenhütte mehr und mehr verfiel. Er verkaufte die Schafe an den Bauern, der später das Pferdegehege übernahm, um dort einen Acker zu bauen, und gleich darauf die Pferde, weil er sich nicht mehr um sie kümmern konnte.
Als Großvater ins Heim musste, war niemand mehr da, der der Eichenhütte beim Verfall zusehen konnte. Mittlerweile war der Stamm im Inneren so breit, dass das Holz um ihn angestrengt knirschte und bei jedem starken Windstoß lösten sich morsche Bretter aus den Wänden der Hütte. Die Ziegel rutschten zu allen Seiten vom Dach und hinterließen große Löcher, die die Kätzchen nicht länger vor Sturm und Wetter schützten, weshalb auch sie gingen. Und dann, als Großvater starb, wurde das Bauernhaus mitsamt Grund verkauft. Der künstlich angelegte Teich wurde mitsamt den Fischen zugeschüttet, das sommernächtliche Quaken der Frösche verstummte und das Holz, das einst die Hütte gewesen war, wurde auf einen großen Haufen mitsamt den babyblauen Balken geschlichtet und im Osterfeuer verbrannt. Übrig blieben die Strömung des Flusses und das Rascheln von Eichenblättern im Wind.
... Aber der Opa macht unbeirrt weiter.