Die Entdeckung
Die Entdeckung
Die Marionetten des Nachmittagsprogramms hatten Ralph vollständig in ihren Bann gezogen. Das Märchen von Dornröschen war gut gespielt und die Puppen wirkten wie lebendig. Auch sein Freund Christian aus der zweiten Klasse besaß so eine Marionette, die er sogar zur Schule mitbringen durfte. Und weil er schon recht geschickt mit ihr umgehen konnte, scharten sich in den Pausen seit einiger Zeit immer mehr Kinder um ihn herum.
Ja, die Puppen im Film wirkten fast wie richtige kleine Menschen, fand Ralph. – Ein Gedanke kam ihm in den Sinn: Konnte es nicht auch umgekehrt sein? Das die Menschen am Ende vielleicht nichts anderes als Marionetten waren, die durch Fäden gelenkt werden? "Eigentlich Unsinn", sagte er sich. Ralph hatte weder an seinen Eltern, noch an seinen Mitschülern oder Lehrern jemals irgendwelche Fäden gesehen. Doch er mußte sich eingestehen, daß er bislang auch noch nicht nach ihnen gesucht hatte.
Mehr aus Spaß als aus wirklicher Neugierde strich er sich über den Kopf – und blieb mit den Händen tatsächlich an etwas Langem, Dünnen hängen! Sein Herz schlug schneller und er spürte die Trockenheit seines Mundes. Hundert Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Stimmte es etwa wirklich? Er stand vom Sofa auf und ging ins Bad, um sich im Spiegel genauer zu betrachten.
Es war so! Sein Kopf hing an vier dünnen Fäden und auch diejenigen, welche Hände und Füße bewegten, konnte er nun deutlich erkennen. Sein Blick folgte ihnen nach oben – sie gingen direkt durch die Decke hindurch. Ralphs Augen wurden immer größer, er konnte es einfach nicht glauben! "Mama! Mama!"
Schnelle Schritte waren auf dem Flur zu hören. Die Tür ging auf und seine Mutter kam herein. "Was ist denn los?" – Ralph erschrak. Sie wirkte tapsig, sie schien fast über dem Boden zu schweben. Ihre Bewegungen wirkten ungelenk, doch das schien seiner Mutter nicht im geringsten bewusst, sie bewegte sich mit der größten Selbstverständlichkeit. – "Du siehst blaß aus. Ist dir nicht gut?" – Ein Faden führte ihre rechte Hand an seine Wange. Ralph hatte mit kaltem Holz oder Plastik gerechnet, doch sie fühlte sich noch immer weich und warm an. Er zuckte zurück! – "Nein, Mama. Es ist nur ... Ich dachte ... Nein, es ist nichts. Entschuldige bitte." – Seine Mutter sah ihn prüfend an, doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, schob er sich an ihr vorbei, aus der Badezimmertür hinaus – darauf achtend, dieses Wesen, das er bislang für seine Mutter gehalten hatte, bloß nicht zu berühren. Sein Herz schlug schwer und das Gefühl in seinem Magen brachte ihn der Ohnmacht jede Sekunde ein Stück näher.
Er öffnete die Küchentür. Vater hatte schon Feierabend, saß wie jeden Tag gegen 16 Uhr hinter dem Tisch und aß Mittag. – "Papa!" – "Jaa," brummte er, "was ist denn?" – Ralph erkannte die Stäbe, die seine Hände und den Kopf führten. Sie verschwanden unter dem Tisch. Kermit aus der Sesamstraße wurde auf diese Weise bewegt. War das sein Vater? Beklommen ging er auf den Tisch zu. Wer mochte wohl hinter der Holzverkleidung sitzen und seinen Vater steuern? – "Was ist denn? Warum starrst du mich so an?" – Die gleißende Schwärze vor seinen Augen und das Gefühl der Ohnmacht wurde mit jedem Schritt stärker. Die Stäbe führten durch den Boden hindurch und bewegten sich in ihm, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Vaters anfänglicher Unmut über Ralphs eigenartiges Verhalten wandelte sich zusehends in Wut. Auch in der Arbeit war ihm schon einiges sauer aufgestoßen. Überhaupt verlor er schnell die Geduld und hatte immer eine lockere Hand. Das kannte Ralph nur zu gut – doch Vater war schneller. "Was glotzt du so blöd?", schrie er ihn an. "Laß mich endlich in Ruhe!" Der Stab seiner linken Hand ließ ihn das auf dem Tisch liegende Küchenmesser greifen und als wenn er eine Sense führte durchschnitt er Ralphs Schnüre.
Er sackte zusammen und unter seinen Füßen tat sich ein großes dunkles Loch auf, durch das er in einen langen schwarzen Tunnel gezogen wurde. Alles drehte sich um ihn, er wußte nicht mehr, wo oben und unten ist. Er hatte entsetzliche Angst. Warum hatte Vater das getan? Am Ende des Tunnels erblickte er ein helles Licht, auf das er zustürzte. Je größer es wurde, desto deutlicher konnte Ralph erkennen, daß sich irgendetwas in ihm bewegte: Dann sah er Dornröschen, den Prinzen und die böse Fee.
Ja, die Puppen im Film wirkten fast wie richtige kleine Menschen, fand Ralph. – Ein Gedanke kam ihm in den Sinn: Konnte es nicht auch umgekehrt sein? Das die Menschen am Ende vielleicht nichts anderes als Marionetten waren, die durch Fäden gelenkt werden? "Eigentlich Unsinn", sagte er sich. Ralph hatte weder an seinen Eltern, noch an seinen Mitschülern oder Lehrern jemals irgendwelche Fäden gesehen. Doch er mußte sich eingestehen, daß er bislang auch noch nicht nach ihnen gesucht hatte.
Mehr aus Spaß als aus wirklicher Neugierde strich er sich über den Kopf – und blieb mit den Händen tatsächlich an etwas Langem, Dünnen hängen! Sein Herz schlug schneller und er spürte die Trockenheit seines Mundes. Hundert Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Stimmte es etwa wirklich? Er stand vom Sofa auf und ging ins Bad, um sich im Spiegel genauer zu betrachten ...