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Die entscheidenden Details
Die entscheidenden Details
Die Bierdose kam näher. Davids Hand zitterte ein wenig. Mit geschlossenen Augen nahm er einen Schluck, sowenig, wie möglich. Er mochte den bitteren Nachgeschmack nicht. Dabei sollte man sich angeblich daran gewöhnen, nach ein paar Mal. Aber das hatte sich noch nicht eingestellt.
Die Gespräche drehten sich um das Übliche: Frauen. Jeder hatte ein spektakuläres Wochenende gehabt. Bei jedem war ein unglaublich süßes Mädchen aufgetaucht, hatte unaussprechliche Dinge getan oder versprochen und jeder war voll und ganz auf seine Kosten gekommen. Vor einem halben Jahr hatten sie hier in der Ecke auf dem Hof gestanden und über Fußball geredet. Aber jetzt waren es Mädchen. Die anderen sagten: Frauen. Vor einem halben Jahr waren sie alle noch Jungen gewesen, jetzt hieß es: Männer. David mochte es, Junge zu sein. Und über Fußball zu reden. Und er mochte die anderen. Nur hatte er jetzt kaum noch etwas zu erzählen.
Und das war das größte Problem. Michael stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. "So, nun mal raus mit der Sprache! Warum sagst'n Du nix dazu, mh?" David räusperte sich umständlich. "Ach der! Der Kleine hat noch keine Ahnung!" Mit Tim hatte er immer schon Probleme gehabt. Der war ständig neidisch. Wegen Fußball, denn da war David gut. Aber heute zählte das kaum noch.
"Hab ich wohl!" Er versuchte, so entschlossen zu klingen, wie nur möglich, aber letztendlich fand er selbst, dass es sich eher trotzig angehört hatte. "So?" Tim trat näher, die Zigarette schräg im Mundwinkel hängend. Irgendwie sah er damit cool aus. Auch wenn es David sehr an einen Cowboy aus einem der ganz alten Western erinnerte. David wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Weiter ging nicht, weil er an die Rückwand der Sporthalle stieß. "Na, dann mal los, Casanova! Erzähl!” "Ach, laß mich doch!” Tim ließ die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen wandern, was noch mehr den Cowboy-Eindruck hinterließ. Aber niemand lachte. Immerhin war Tim der einzige, der wirklich rauchte. Und das auch noch auf dem Schulgelände. Und er hatte heute auch die Bierdose aus der Jackentasche gezogen. Er war zu cool, um lächerlich zu sein. Und schon beinahe 14.
"Ne, jetzt mal ohne Scheiß, Du großer Held!" Er lachte trocken. "Was hast Du denn so vorzuweisen?" Gar nichts. "Geht Dich nix an, Alter!" "Also nix!" "Und ob", es klang schon wieder mehr verstockt, als cool. "Na los komm schon! Du hast doch noch nie ne Frau angefasst!" "Und ob!" David versuchte so empört, wie möglich zu sein. Klar hatte er schon Frauen angefasst. Kam ja jetzt nicht so sehr darauf an, wie. Das hatte er schließlich nicht gesagt. " Ach, red kein Blech, Kleiner! Ich mein so echt!" "Was soll denn ‚unechtes' Anfassen sein?" David stand immer noch gegen die Wand gedrückt, Tim direkt vor ihm, hinter ihm der Halbkreis der anderen. Jeder machte einen langen Hals. Jeder wollte es wissen, aber niemand außer Tim würde es wagen, zu fragen. "Mach mal halblang, Alter", ging Mike dazwischen. Aber Tim winkte ab. "Is' schon gut, ich tu Deinem Baby ja nicht weh, Mann." Er holte tief Luft. "Was ich meine, Kleiner, versteht sich ja wohl von selbst" ‚Muss es ja auch, weil du es nicht erklären kannst', lag es David auf der Zunge. Aber er sagte es nicht. Besser Tim nicht provozieren. "Richtig anpacken, das heißt, so echt... Weißte, so Haut auf Haut, klar?", fuhr der fort. David nickte nur dazu. "Also, was ist? Haste das auch? Ja?"
Tim ließ sich mit dem letzten Satz nach vorne fallen und seine rechte Hand schnellte vor. Davids Augen zuckten, weil er mit dem Aufschlag auf seine Schulter rechnete. Stattdessen klatschte die flache Hand auf die Backsteinklinker hinter ihm, direkt über seiner Schulter und Tim lehnte nun lässig und noch näher vor ihm. David spürte das Blut in den Kopf steigen. Wenn er jetzt lügen musste, würde es jeder mitbekommen. "Klar hab ich! Red keinen Müll, Mann!" Dabei konzentriere er sich fest auf all die Hände von all den Frauen, die er je begrüßt hatte. Damit konnte er sich retten. Dann war es ja nicht wirklich gelogen. ‚Nur keine Nachfragen mehr! Jetzt keine Frage mehr, Mann, lass mich in Ruhe! In zwei Minuten ist die Pause rum. Bis dahin durchhalten.'
Anstelle des Gongs rettete ihn die neunte Klasse, die zum Waldlauf um die Ecke bog. Zusammen mit Frau Seidel. Tim stieß sich von der Wand ab, ließ im selben Moment die Zigarette aus dem Mund und vor Davids Füße fallen und kickte die Bierdose hinter einen der Büsche. "Lasst uns abhauen, Männer!" David atmete auf. Aber nur für einen Moment. Auf dem Weg zum Hauptgebäude zurück, ging Tim neben ihm und legte ihm kumpelhaft den Arm um die Schulter. "So, dann mal raus mit der Sprache, Macho Number One! Wer ist denn die Glückliche?" David zuckte die Achseln. "Geht Dich nix an!" Tim drehte sich zu den anderen um: "Seht ihr? Er hat keine!"
"Ach halt doch die Klappe, Großmaul!" David war die Spielchen leid. Mann sein, Bier und Frauen. Warum nicht immer noch Fußball und Kakao? Was war denn daran falsch gewesen? Das Großmaul ging bei Tim offenbar in die falsche Kehle: "So? Raus mit dem Namen! Sonst erzähl ich allen, dass Du noch ne Jungfrau bist!"
"Eh gelogen!" – "Was auch immer! Aber wenn das erst mal aufm Mädchenklo an der Wand steht... Dann bleibst Du's auch!" – "Du kannst mich mal! Ich hab's nicht nötig, mich vor Dir zu rechtfertigen." – "Ja, aber wer is' es denn nun?", mischte sich Markus nun auch ein. Anscheinend ehrlich neugierig. Davids Blick fiel auf die Mädchen, die gerade auf der Außenseite des Zauns Richtung Wald entlangliefen. Ein Mädchen sah herüber und hob die Hand. "Tanja", zischte er.
"Welche Tanja?", Tim sah ihn fragend an. "Na die da!" David zeigte auf die Mädchengruppe, in der Tanja mit wippendem Pferdeschwanz davonjoggte. "Glaub ich nicht! Die ist in der Neunten. Ist 15 oder so. Die gibt sich doch mit nem Typen wie Dir nicht ab!" "Klar tut sie", mischte Mike sich ein. "Die gibt ihm Nachhilfe in Mathe." Wahrscheinlich wollte er nur helfen, aber David fühlte sich, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen. "Ach so", höhnte Tim.
"Nix ach so! Da läuft so einiges! Glaubst Du, ich lass mir von einer Frau Mathe beibringen? Nix da! Das ist nur der Vorwand, damit sie bei mir rumhängen darf. Außerdem: wegen ihrer Eltern darf's halt keiner wissen. Die sind da total streng mit." Tim sah ihn von der Seite an. "Na, wär' netter, wenn wir hier so in aller Öffentlichkeit rumknutschen könnten, aber da hat sie Angst, dass ihr Vater das hört. Also nennen wir es Nachhilfe." Erleichtert schlüpfte David durch die Tischreihe im Klassenzimmer und kramte in seinem Rucksack. Jetzt musste er Tim nicht mehr ansehen. "Details dann morgen, du Hengst", zischte der nach Schulschluss, als David sich auf sein Fahrrad schwang.
Bei dem Gedanken, dass sie in einer halben Stunde hier sein würde, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Fieberhaft hatte er aufgeräumt. All das Zeug, das sonst seine Regale du den Fußboden bedeckte, hatte er in den Wäschekorb gestopft und eine Jacke darübergeworfen.
Er trat einen Schritt zurück und sah sich um. Über dem Bett starrten ihn mit Siegergrinsen zwei Fußballspieler an. Daneben prangte eine Meisterschale aus Pappe und in der Ecke hing ein Schal. So konnte das ja nichts werden. Er sprang aufs Bett und knibbelte die Ecken der Poster los. Eines von beiden riss ein Stück weit ein. Aber das konnte er später flicken. Egal. Die Meisterschale war leichter abzureißen. Auch wenn ein Stück Tapete auf der Rückseite kleben blieb. Der Schal wanderte mit dem anderen Zeug unters Bett.
Er sah zu seinem aufgeräumten Schreibtisch herüber. Zwei Stühle davor. So, wie immer. Das würde heißen, sie saß zwar dicht neben ihm. Aber eben auch nur das. Da würde dann nie was draus werden.
Er wartete noch einen Moment, bis er die Schlüssel seiner Mutter klimpern hörte. "Bin weg, Schatz. Du kommst klar, ja? Brauchst noch was?" "Alles klar, Mama! Brauche nix, danke!" Sobald er den Wagen aus der Einfahrt rollen hörte, packte er beide Stühle und schaffte sie ins Schlafzimmer seiner Eltern.
Nur Minuten später sah er, wie sie ihr Fahrrad vor der Tür abstellte. "Was ist denn hier passiert?" Sie sah sich im Zimmer um. "Wieso?", stellte er sich ahnungslos. "Die Poster und das Zeug und so...", sie zeigte auf die Wand über dem Bett und das Regal, auf dem bis eben der signierte Ball gelegen hatte. "Ach, das alte Zeug. Weggetan." – "Wie, stehst Du jetzt nicht mehr auf Fußball?" – "Na, irgendwie... Man wird halt erwachsen, oder? Und Fußball ist ja nicht alles." Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: "Und derzeit verändere ich mich ja ohnehin ziemlich."
"Ja, schon klar", sagte sie abwesend, während sie ihre Tasche neben den Schreibtisch stellte. Er beobachtete, wie sie sich bückte und die Bücher herausnahm. Als sie sich umsah, fühlte er sich ertappt, wurde rot. "Sag mal, wo sind die Stühle?" – "Ach die... Die haben meine Eltern weggegeben, zum Reparieren. Weißt ja, wie wackelig die schon waren. Mein Vater meinte plötzlich, die wären ja richtig gefährlich. Kommen erst nächste Woche wieder." – "Aha." Sie nahm es zur Kenntnis. "Und wo sollen wir dann...?" – "Ähm, weiß nicht so genau. Also... Wie wär's denn da", er zeigte auf sein Bett. "Da sitz ich eh immer zum Lernen."
Nach ein paar Minuten war ihm klar, dass das mit den Stühlen nicht die beste Idee des Tages gewesen war. Auf dem Bett saßen sie sich im Schneidersitz gegenüber. Viel weiter entfernt, als auf noch so wackeligen Stühlen am Tisch. Er brauchte also noch einen Trick. Die nächste Formel konnte er dann plötzlich ‚so abstrakt jetzt' gar nicht verstehen. Die musste sie ihm vorrechnen. Und dann rutschte er auf dem Bett herum, saß jetzt neben ihr. Über die Zettel gebeugt.
Nicht dass er gewusst hätte, wie es weitergehen sollte. Aber jeder Schritt war mehr, als er sich je getraut hatte. Immerhin war sie fast zwei Jahre älter und außerdem waren ihre Mütter Freundinnen seit ewig und so. Aber er musste morgen Details erzählen. Und er hatte keine Details. Außerdem war das jetzt die Gelegenheit. Tanja duftete gut. Tat sie immer. Vor allem ihre Haare. Das war wahrscheinlich so ein Mädchending, dass die Haare duften, statt bloß so runterzuhängen. Und sie wippten auch immer so, wenn sie sich bewegte. Im Moment hing ein Teil davon ihm ins Gesicht. Also konnte er sich besser riechen.
Er griff nach dem Bleistift, als sie gerade danach griff. Strich über ihre Hand. Der Adrenalinstoß, den das auslöste, ließ ihn innerlich kochen. Aber er nahm sich zusammen. ‚Vielleicht ist das Deine einzige Gelegenheit! Verbock es nicht!' Anstatt sie zurückzuziehen, ließ er seine Finger über ihre unglaublich andere Haut gleiten. So, wie er noch nie eine Hand berührt hatte. Ließ sie unter ihre Finger gleiten und hielt sie in seiner.
"David", setzte sie an, aber dann sah sie auf und verstummte. Er versuchte das zu deuten. ‚Gutes Zeichen? Schlechtes Zeichen? Gutes? Schlechtes?' Irgendwie wollte das mit dem Denken nicht so recht funktionieren. In seiner Phantasie beugte er sich jetzt nach vorn, ließ die freie Hand über ihre Wange gleiten, was in der Realität schwierig wäre, weil seine Linke das von der falschen Seite tun würde und die Rechte nach dem Bleistift gegriffen hatte. Dann würde er sie küssen. Langsam und unglaublich toll. So, wie man eben als Mädchen geküsst werden will. Und dann würden sie das Mathebuch vom Bett werfen und wild hin und her rollen und sich ‚richtig' küssen. Obwohl er nicht wusste, wie das geht. Die fehlenden Details.
In der Realität war er einen Augenblick starr vor Schreck. Dann beschloss er zu handeln, beugte sich tatsächlich vor, ohne Hand und drückte seine Lippen auf ihre. Spürte, wie ihre Hand sich auf seine Brust legte und all sein Blut genau dort zusammenzuströmen schien, wo ihre Hand auf seinem T-Shirt lag.
Aber anstatt sich zärtlich an ihn zu drücken, wie es sein sollte, schob sie ihn langsam von sich weg. Einen Augenblick sah sie auf ihre Hände, dann löste sie sich aus seinem Griff. "Laß mal, ja?" Was sollte denn das wieder bedeuten ?
Er rückte ein Stück weit weg. Lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Das Kopfkissen, mit beiden Armen an sich gedrückt, quer über dem Schoß. "Tut mir leid!" "Ach was. Ist schon gut. Weißt du, ich mag dich ja auch, so ist das doch gar nicht. Aber irgendwie kann das doch nicht gehen. Meinst du nicht auch? Ich meine: Zwei Jahre." Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer wandern. "Auch, wenn du dich derzeit wirklich ziemlich veränderst. Da hast du recht."
"Bist du sauer?" – "Blödsinn! Warum sollte ich? Das war doch ziemlich süß. Und wie gesagt: ich mag dich ja auch. Es ist halt nur..." Wie es war, ließ sie offen. Er traute sich nicht, zu fragen. Eigentlich wollte er es auch nicht wissen. Wahrscheinlich hatte er es einfach zu schnell angehen wollen. Da hatte er jetzt fast ein Jahr lang gewartet. – Ehrlich: sich nicht getraut – und dann hatte er es überstürzt. Und das wegen diesem Schwachkopf und den Details und allem.
Um sich abzulenken, stürzte er sich auf das Positive: "Du magst mich also auch, ja?" – "Klar, Mann! Wir hängen jetzt schon unser ganzes Leben zusammen rum! Das würd' ich ja sonst nicht aushalten." Sie lachte. Und ihre Haare bewegen sich. "Was steht denn dann im Weg? Die zwei Jahre?" Nun wurde sie rot. "Ja, vor allem. Das ist es wohl." – "Na gut, dann hab ich mich halt zum Affen gemacht."
"Ach wo! Das war doch cool so. Wie soll man das denn sonst machen. Und eigentlich ist das doch gut so, dass ich meinen ersten Kuss von dir bekommen habe..." Sie verstummte. Er nahm lediglich zur Kenntnis.
Nach einer ganzen Minute Schweigens klappte sie das Buch zu. "Das können wir dann heute wohl lassen, mh? Ich kann mich da jetzt jedenfalls nicht mehr drauf konzentrieren." Die lächelte, in Richtung ihrer Füße, ohne ihn anzusehen. Er saß immer noch unbeweglich da.
Er dachte an das, was er am besten konnte, von Fußball mal abgesehen. Und das war Witze reißen. Wenn ihn jetzt irgendwas retten würde, dann das. "So, wenn ich dich jetzt frage, ob wir nächste Woche ins Kino gehen, dann wäre das sicher mindestens ein Klischee zu viel, oder?" Sie lachte. "Gut, ich verstehe!" Er versuchte, irgendjemanden wie Don Johnson nachzuahmen. "Dann also Eisdiele Donnerstag um drei! Und sei ja pünktlich." Er verzog sogar das Gesicht Don Johnson – like. Dann rückte er einen imaginären Hut zurecht, der wahrscheinlich auf John Waynes Kopf saß. Sie lachte wieder, diesmal schon mit dem Rucksack in der Hand. Mit einem Zwinkern sah sie ihn an. "O.K., dann um drei." Während er schluckte, hatte sie die Türklinke in der Hand und sah über die Schulter zurück: "Übrigens: es sind gar nicht ganz zwei Jahre. Und überhaupt: nur eine Klasse. Naja, wir werden sehen."