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Die Entscheidung
Wie ein auftauchender Schwimmer der Wasseroberfläche entgegenstrebt näherte sich sein Geist langsam der Grenze zwischen wachen und schlafen. Sonnenstrahlen tanzten auf der Oberfläche und eine herrliche ruhe umgab ihn.
Langsam, ganz langsam kristallisiert sich ein Gedanke aus dem Nebel seines Verstandes und verlangt nach Aufmerksamkeit.
Sonne....
Hell...
Wie spät...?
12:37 Uhr...
Eine Erkenntnis bildet sich, Emotionen brandeten wie Wellen gegen seine Stirn.
Panik, Angst, Verzweiflung, Wut. Sie vereinen sich zu einer Leinwand aus purer Schwärze, alles Denken unterbricht sich und hält an. Ein einzelnes Wort zuckt durch seinen Kopf und bahnt sich einen Weg zu seinem Mund:
"Fuck!"
Sein Verstand taumelt und sein Kopf fällt zurück aufs Kissen.
Schon wieder verschlafen, verdammt!
Das drittemal diese Woche, verdammt!
Und es war erst Mittwoch, verdammt!
Er musste schon wieder zum Arzt rennen, irgendeine Geschichte erfinden und hoffen ein Attest zu bekommen.
Viel zu anstrengend, verdammt!
Während er so grübelte entschlüpften ihm fünf kleine Worte: „Ich hab’ kein’ Bock mehr...“.
In diesem Moment erkannte er plötzlich die ganze Tragweite und Bedeutung dieser kleinen Worte die er so oft von sich gab.
„Er hatte keinen Bock mehr“, tief in seinem Inneren hatte er schon lange mit der Welt abgeschlossen. Er war neunzehn Jahre alt, sexuell Paranoid, fühlte sich eingezwängt in seiner Umwelt, kam mit den Gesetzen nicht zu recht und er kam mit den „Leuten“ nicht zu recht.
Man sagt: „Es gibt Menschen, es gibt Leute und es gibt Pack!“. Er sah sich umgeben von Leuten und Pack, nur einige wenige war er bereit als Menschen zu bezeichnen. Es waren die, die die Welt sehen und begreifen konnten, jene Menschen die sich auch für den Grund unserer Existenz interessieren und nicht nur für die Oberfläche des Lebens. Er hatte immer versucht unter die Oberfläche zu schauen, und zu begreifen zu welchem Zweck er existierte.
Dabei kam er zu einer erschreckenden Erkenntnis, unsere Existenz hat weder Sinn noch Zweck.
Für Ihn war der Ur-Zustand aller Dinge und allen Seins die Nicht-Existenz.
Eine Zufällige Begebenheit musst einst das Universum in Erscheinung gebracht haben und hat damit auch all jene Stoffe zur Verfügung gestellt die Sterne, Leben und damit auch uns entstehen lassen können.
Ein nicht geplantes Ereignis das uns und alles um uns herum aus unserem Ur-Zustand gerissen, und auf die Bühne der Realität geworfen hat. Da ist kein übernatürliches Wesen, kein Gott der uns beobachtet und darüber richtet wie wir uns verhalten. Ihm war klar geworden, dass es egal war ob man als Dschingis Khan oder Mutter Theresa gelebt hatte, letztendlich ereilte alle das gleiche Schicksal, der Tod.
Die Rückkehr zur Nicht-Existenz.
Der Tod ist einfach das Ende des Ausnahmezustandes „Leben“, und entlässt uns zurück in die friedliche, Gedankenleere Existenzlosigkeit. Wenn man dies einmal verinnerlicht hat kann man die Welt aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachten. Alles ist egal, der Schulabschluss, Reichtum, Freunde oder Feinde. Selbst der Zeitpunkt des Todes ist gleichgültig, wer ohne Existenz ist kann nicht Denken, damit wird alles was nach dem Tod passieren mag unerheblich. Wer nicht ist kann sich nicht wünschen etwas zu tun oder getan zu haben, hat keine Bedürfnisse mehr; ist zufrieden.
Die Legende vom Leben nach dem Tod entsteht aus dem Wunsch des Menschen allem eine Bedeutung zu geben, aber wir haben keine Seele, wir entwickeln uns einfach nur nach den uns gegebenen Umständen wie Erfahrungen und Erbgut.
Die Evolution hat eine tolle Erklärung für die „Intelligenz“ des Menschen, die wesen mit dem leistungsfähigsten Gehirn waren einfach irgendwann allen anderen überlegen und setzten sich durch.
Er dachte angestrengt darüber nach was sich in seinem Inneren abspielte, „Ich lebe weil ich grade nicht tot bin, und noch keine Grund hatte etwas daran zu ändern.“
Hatte er jetzt einen?
Vor seinem inneren Auge spielten sich Szenen seines Lebens ab, die er ruhig und rational betrachtete. Der Film war nicht sehr spannendDer Film war nicht sehr spannend, eher deprimierend. Alles was er so richtig gut konnte war versagen!
Darin war er ungeschlagen. Ob in der Schule, beim Sport, bei Hobbies, bei Mädchen... besonders bei Mädchen, er war ein Versager auf der ganzen Linie. Sein Leben bestand rückblicken aus einem Matsch von Erinnerungen die einem die Schamesröte ins Gesicht, oder die Übelkeit in die Gedärme trieben. Was nutzt es einem den Sinn des Lebens zu kennen oder das Universum zu begreifen wenn es dadurch nur noch schwerer wird einfach glücklich zu sein? Unwissenheit war doch ein Segen.
Nach ca. einer Stunde fasste er einen Entschluss.
Er begann sich anzuziehen und packte seinen Rucksack, etwas zu trinken, einen Block und Stifte und einen Discman.
Dann fing er an einen Joint zu drehen, und noch vier weitere. Er packte sie alle ein und ging aus dem Haus. Mit dem Bus fuhr er in die Innenstadt, dort ging er zu einem Hochhaus am Marktplatz und klingelte.
„Ja, wer ist da?“
„Post.“
„kommen sie rein.“
ssssssssssssssssssss
Im Aufzug drückte er auf den obersten Knopf, „16“.
16 Stockwerke, das klang nicht besonders viel in seinen Ohren, aber er wusste das würde sich ändern sobald er von obern runtergeschaut hatte.
Oben angekommen stieg er die letzten Stufen zu Dach hoch und öffnete die Tür.
Wind schlug ihm um die Ohren, es war kalt und die Luft war klar.
Er setzte sich an die vor dem Wind geschützte Seite eines Ventilationskastens, schaltete den Discman ein und zündete den ersten Joint an.
Nach ein paar Minuten nahm er den Block und begann zu schreiben.
Er entschuldigte sich bei seiner Mutter und schrieb ihr das sie nichts dafür könne, die beste Mutter war die er sich wünschen konnte, er aber einfach nicht mit der Welt zurecht kam wie die Menschen sie gestaltet hatten.
Als er fertig geschrieben hatte rauchte er noch die übrigen Joints, legte den Brief, seinen Schlüssel, seinen Ring und die Brille neben den Ventilationskasten und steckte seinen Personalausweis in die Jackentasche.
Dann steckte er den Discman in die Tasche und trat an die Brüstung.
Er sah auf die Uhr, „15:20“.
Er sah nach unten und wusste das er recht hatte mit seiner Vermutung, 16 Stockwerke wirkten nun viel höher.
Aber er hatte keine Angst, er spürte überhaupt keine Emotionen.
Völlig gelassen und ruhig stieg er auf die Brüstung.
Er schloss die Augen und verlor sich eine Zeit lang in der Musik.
Wieder traf er eine Entscheidung.
Wie Flügel breitete er seine Arme aus, schaute in den Himmel und warf sich nach vorn.
In seinem Kopf war er gesprungen und mitten in der Luft in dieser berühmten Turmspringerpose erstarrt.
Dieses Bild grenzenloser Freiheit brannte sich in seinen Kopf ein.
Außerhalb seines Kopfes war er nicht erstarrt, und der Asphalt war ihm bedrohlich entgegen gerast, allerdings hatte er das schon nicht mehr gemerkt.
Er war gestorben noch bevor er den Boden berührte, so war sein Verstand schon frei und in Auflösung begriffen, noch bevor der Schmerz des Aufpralls ihn erreichen konnte.
Das Bild in seinem Geist zerfloss und friedliche Ruhe überkam ihn.
„Junge?“
„Hallo Junge?“
Quälend langsam erinnerten sich einige in der Nähe umher treibende Gedanken aus welchem Kopf sie entsprungen waren, und bewegten sich dorthin zurück.
„Gut Junge, streng dich an.“
Immer mehr schimmernde Gedankenfäden wanden sich auf einen Punkt zu um dort miteinander zu verschmelzen.
Und plötzlich waren es genug um...
„Wo bin ich?“
„Sehr gut Junge! Das hast du sehr schnell geschafft.“
Erinnerungen kamen zurück und verlangten nach Aufmerksamkeit.
„Gesprungen.“
„Eher Gefallen Junge.“
„Gefallen?“
Stille
„Tot!“
Alles kam zurückgeflutet und seine Knie gaben nach.
Aber er fiel nicht.
Als er das realisierte schaute er an sich hinab.
Nichts.
Da war nichts.
TILT
Er brauchte eine Pause.
Er schloss die Augen... brachte nichts... keine Lider!
Verzweifelt sah er sich um... dort hinten...
„Ist das mein Körper?“ fragte er ungläubig mit zitternder Stimme.
„Jawoll Junge, ganz hübsch zermatscht!“ Kicherte die es hinter ihm.
Er zuckte zusammen und wand sich um.
Da stand ein recht fadenscheiniger alter Mann. Eher ein Männlein, er war klein und dürr.
„Wer bist du?“
„Ich bin dein Vater Luke!“
„WAS?“
„Kleiner Scherz!“ kicherte er.
„Haha!“
„Ich bin Gott.“
„Gott?“ Schrie er beinahe.
„Jetzt haste Schiss, he Kleiner?“
„Es gibt keinen Gott!“ Sagte er aus Gewohnheit.
Stille
„Oder?“
„Ok, ok ich bin nich Gott.“ Gestand der Alte Reumütig.
„Aber ich sag’s so gern, die Leute seh’n immer so schockiert aus!“ Er kicherte wieder.
„Was zum Teufel is’ hier los?“
„Du bist tot, meinen Glückwunsch!“
„Glückwunsch?“ Verwirrung
„Na du springst, fällst und zermatschst! Sieht schwer nach Absicht aus Junge.“
„Ja, schon.... aber wieso rede ich dann mit dir? – Und WER bist du?“
„Erwin.“
„Erwin?“
„Erwin!“
„Erwin.“
„Du bist sicher das du Erwin heißt?“
Stille
„Du siehst irgendwie Asiatisch aus...“
„Jaja, meinen richtigen Namen könntest du nich’ aussprechen und Erwin is’ doch hübsch oder?“
„Erwin.“
„Geht’s wieder?“
„Ja Verdammt! Wer...Was machst du hier?“
„Ich passe auf.“
„Aha!“
Stille
„Und worauf bitte passt du auf?“
„Das du alles abgibst.“
„Ahhhhrgh!“ Verzweiflung, da ist man schon tot und dann so was!
„Das du alle Gedanken und Erinnerungen abgibst bevor deine Seele aufgeladen wird und wieder los kann.“ Erklärte Erwin schnell.
„Hä?“ Mehr brachte er nicht Stande.
„Is’ ganz einfach Junge, du stirbst, deine Seele wird von deinem Charakter gereinigt und erhält ihre Lebenskraft zurück. Dann wird se wieder ins Leben geschickt.“
Klar oder?
„Wieso?“ Noch immer verzweifelt.
„So is’ der Lauf der Dinge Junge. Immer im Kreis. Geburt und Tod, Urknall und Kollaps. Immer weiter.“
„Immer weiter?“
„Immer weiter!“
„Also auf ein neues?“ Fragte er deprimiert.
„Kopf hoch Junge, neues Spiel, neues Glück!“ Tröstete der alte.
Wieder wurde alles schwarz.
Ein winziger Punkt glimmt dort im Dunkeln und wird langsam größer.
Bald wird er unsanft in dieses helle Licht gedrückt, ohnehin verwirrt findet er sich plötzlich Kopfüber wieder, und kassiert zu allem Überfluss einen saftigen Klaps auf den Allerwertesten.
Das fängt ja gut an!