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Die Existenz, die in den Schacht fällt

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20.10.2024
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Die Existenz, die in den Schacht fällt

Das Leben lastet schwer auf mir. Es drückt mich nieder. Seit zwanzig Jahren ist das so. Vielleicht sogar seit fünfundzwanzig Jahren oder noch länger. Kann ich nicht sagen, denn anfangs gab es dafür kein Wort. Heute gibt es ein Wort, doch es ist längst hohl geworden. Was sagen schon Worte über Gefühle aus? Wenn ich nachts auf dem Sofa liege oder am frühen Nachmittag über die herbstliche Allee spaziere, wühle ich in den Windungen meines Hirns nach Worten, id est nach Gründen, nach Erklärungen, nach Zeichen, die erklären, die für Klärung sorgen. Für Klarheit. Dabei weiß ich längst, dass auf dem Grund des Brunnenschachts nichts liegt. Nichts als harter, staubiger Boden ist dort zu finden. Harter, staubiger Boden und vielleicht die Überreste eines Rattenskeletts. Aber ein Rattenskelett ist ja nicht brauchbar. Was soll ein Rattenskelett schon erklären? Wie sollen ein paar Knochen für Klarheit sorgen? Das geht ja gar nicht. Im Gegenteil: Wenn man Knochen zermalmt, zerreibt, zermahlt und in ein Glas reines Wasser streut, so wird das reine Wasser trübe. Knochen trüben das Wasser, und Trübheit ist das Gegenteil von Klarheit. Es ist also vollkommen verrückt, von der Allee aus in den Brunnenschaft zu steigen und Erwartungen zu haben, etwas herbeizuwarten, das Abhilfe schafft. Und doch führt die Allee nur in den Brunnenschacht hinein und sonst nirgendwohin. Das ist es ja. Und auch vom Sofa in der Nacht kommt man nur in den Brunnenschacht und schon gar nicht ins Reich der Träume. Auch Träume sind nicht klar. Aber immerhin sind sie schön. Manchmal. Das wäre doch schon mal was. Aber nein, von schönen Träumen ist nicht schön zu träumen. Also wird man hart. Unweigerlich wird man hart. Und da liegt es doch nahe, aus der Not eine Tugend zu machen, und wirklich hart zu werden. So in etwa muss ich mir das gedacht haben, damals, als ich das erste Mal nach dem Eisen griff, das ich seitdem nie wieder losgelassen habe. Weil es mir erlaubt hat, wenigstens für ein, zwei Stunden das so schwer auf meiner Brust liegende Gewicht der Welt zu lupfen und mich leicht zu fühlen.

Wenn ich die Hantel aus der Halterung hebe, kommt der Moment der Entscheidung: Habe ich die Kraft? Oder habe ich sie nicht? Wenn ich sie nicht habe, aber denke, sie zu haben, werde ich begraben werden. Das Gewicht wird auf mir lasten bleiben und mir die Luft nehmen. Und am Ende wird nichts als Scham stehen: Ich werde um Hilfe bitten müssen, werde “Hilfe! – Hilfe!” schreien müssen. Oder ich werde mich unwürdig unter dem Gewicht hervorwinden müssen, werde mit letzter Kraft an der Stange rütteln müssen wie an einem blockierten Ruder, in der Hoffnung, dass die Last so doch noch von mir abfällt. Scheppernd. Und alle werden dann sehen, dass ich versagt habe. Sie werden mich auslachen und sich denken, dass ich zu schwach bin, mich selbst überschätzt habe. Ein Versager da auf der Anklagebank. Gibt es etwas Schlimmeres als Scham? Als öffentlich sichtbare Charakterschwäche? Nein, die Hantel darf nicht zu schwer sein und mich erschlagen. Aber schwer muss sie sein, sehr schwer sogar. Sie darf keinesfalls zu leicht sein. Ein leichtes Gewicht ist für die Katz, widerlegt sich selbst, so wie zu einer Transe mit kleinem Schwanz zu gehen. Wenn schon, denn schon! Nur zu schwer darf das Gewicht um Gottes Willen nicht sein. Eine ewige Rückgratwanderung. Und manchmal, an guten Tagen, soll die Hantel genau so schwer sein, dass sie nicht zu schwer ist. Das One Rep Max, die eine Wiederholung, der ultimative Kampf zwischen Ego und Extro, zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Nichts gibt dir so viel Kraft wie nackte Angst. Es gibt diesen einen Moment, wenn sich das Gewicht scheinbar übermächtig und steinern auf deine Brust legt. Das ist ein Moment der reinen Angst. Werde ich mich für immer selbst begraben haben? Nein, das darf nicht sein! Jetzt, wo es spürbar droht, begreife ich das. Und genau diese Angst gibt dir die Kraft, dich und das tote, unbeugsame Gewicht doch zu überwinden und dich zu befreien. Der Triumph, immer nur der Schatten des Scheiterns.

Ich weiß, dass das alles nicht gesund ist, denn ich kann spüren, wie die Lasten an meinen Sehnen zerren, an meinem zu schwach ausgeprägten Bandapparat, meinen viel zu laxen passiven Strukturen, wie es anatomisch korrekt heißt. Jede einzelne Wiederholung sorgt für einen kaum merklichen Abrieb. Verschleiß. Über die Jahre verschleißt man. Man löst sich regelrecht auf, zerreibt sich bei vollem Bewusstsein selbst. Und in dieser selbstverschuldeten Abnutzung liegt der ganze Genuss. Das versteht man irgendwann, nachdem man Jahre lang versucht hat, es richtig zu machen, keine Schmerzen zu haben, sich schonend zu bewegen. Man hat an den Techniken gefeilt, sich selbst beobachtet, in Spiegeln oder als kleine, tanzende Figur in den eigenen Händen. Alles für die Katz. Es gibt kein Richtig. Es gibt nur ein selbstgewähltes Tun mit aller Konsequenz. Zerreib das Rattenskelett und zerreib dich selbst, trüb dein eigenes Leben ein, weil du es eh nicht aufklären kannst. Kennen Sie Ronny Coleman? Kennen Sie den König, King Ronny? Der König hat die Welt gehoben und währenddessen mit heller Stimme gekreischt: Light weight, Baby! Während er sich buchstäblich seine eigenen Glieder abgerissen hat, schrie er der Welt entgegen: Du kriegst mich nicht klein mit deinen Popelsgewichten. Das hat die Welt nicht auf sich sitzen lassen. Sie hat ihm knirschend die Wirbel zerrieben und ihn zum Krüppel geschlagen. Aber was macht der König? Er humpelt am Gehstock noch immer auf die Gewichte zu und schreit: Light way, Baby! Habe Mut, dich deines eigenen Wahnsinns ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Das ist die Aufklärung der Abnutzung, des Zerriebenswerdens, die Dialektik der Eintrübung.

Die Helden, die Titanen, die Götter, sie waren lakonische Besessene, haben sich in feuchten Kellern selbst verschlissen, stöhnend, leidend, eine Kakophonie des selbst zugeführten Schmerzes, das ganze Leben ein Ächzen, ein Brennen, ein Ziehen und ein Ausstrahlen bis in die Weichteile. Sie haben sich durch einen Berg aus Pudding gefressen, gefressen bis zum Kotzen, bis zum Platzen, nur um direkt danach ewig durch die Wüste zu wandern, abzumagern, auszutrocknen, zusammenzubrechen. Alles für den einen Moment, die eine Stunde im hellen Licht, in der all das Leid vergessen war. Light weight, Baby, das Leben ist so leicht, wenn man es sich schwer macht!

In der heutigen Welt ist das kalte Eisen ein Ding, das durchs Raster fällt, zumindest für manche. Für die Ehrlichen ist es das, für die, die wissen, dass der nebendran stärker ist und weniger Fett unter seiner Haut trägt, aber dass das keine Rolle spielt. Denn der nebendran existiert überhaupt nicht. Es existiert nur das ewige Eisen, das dir die nächste schmerzende Wiederholung abverlangt, das nächste mühsame Schwungholen, während die Sonne über dem Brunnenschacht verschwindet und sich langsam die Nacht über die Welt senkt. Wie viele Wiederholungen bleiben dir, bis du nichts mehr siehst, bis dein letzter Wirbel von dir selbst aufgelöst wurde? Eine Million? Eintausend? Oder nur noch eine, weil du nicht auf sie hören wolltest, weil du dich für schlauer gehalten hast als sie? Suicide Grip! Es geht so lange gut, bis es nicht mehr gut geht. Die Hantel rutscht dir irgendwann doch aus den Fingern und zerquetscht dir den Hals, den Adamsapfel, die Luftröhre, eine fein geriffelte Guillotine, deren Seil du selbst gekappt hast. Alles, was dir bleibt, ist ein kurzes Röcheln. Wolltest du es? Oder wolltest du es nicht? Niemand wird es wissen und neben dem Rattenskelett liegen bald weitere Knochen.

 

@Woltochinon @Salatze @MRG @lakita

Hallo in die Runde,

ich bedanke mich für eure Zeit und eure Kommentare, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Wie ich oben schon einmal erklärt habe, möchte ich den Text von meiner Seite eigentlich nicht weiter kommentieren, da ich denke, dass das in diesem Fall unfruchtbar ist. Ich sehe darin einfach keinen Text, den man im Kollektiv besprechen und bearbeiten kann, das zeigen ja schon die Kommentare, die ein sehr weites Spektrum in Sachen Auslegung aufweisen.

Bitte seht es mir deshalb daher nach, wenn ich auf eure Kommentare nicht gesondert eingehe. Bei einer etwaigen späteren Bearbeitung werde ich sie aber natürlich im Blick haben.

Freundliche Grüße

Henry

PS: Nur zwei Worte zu dir, liebe @lakita ...

Und wenn dies hier nicht unsere Challenge wäre, bei der ich es mir zur Ehre gereichen lasse, jedem mein Feedback zu hinterlassen, hätte ich deinen Text nicht weiter mit meinen Worten bedacht.
Ich fühle mich durch ihn eher wiederum darin bestätigt, dass mir einfach gut erzählte Geschichten gut tun und liegen und davon gibt es ja zum Glück genügend auf diesem Planeten.

... Also für mich musst du dir nicht die Mühe machen, sozusagen pro forma zu kommentieren. Ich denke, das bringt keine Seite weiter: Du fühlst dich offensichtlich nicht wohl mit dem Text – und ich kann mit deinem inneren Ringen um Sinn nur bedingt etwas anfangen, muss ich gestehen. Es ist ja ein sich nicht recht einlassendes Ringen, bei dem ich dir nun mal nicht weiterhelfen kann.

Es hat allerdings schon eine komische Note, wie dieser Text – so auch in deinem Fall – eine Reaktion auslöst, die seinen Inhalt unterstreicht :lol: Der Text fleht ja geradezu darum, ihn nicht erklären zu wollen, nicht nach klärenden Worten zu suchen. Und dennoch steigen die Leser sofort in den Brunnenschacht hinab, um sich selbst ein Bild von der Leere zu machen. Ich kann nicht sagen, dass mir diese Reaktion nicht höchst willkommen ist, womit ich dich denn auch beruhigen kann:

Neben all dem, was ich eben geschrieben habe, blitzte aber auch so ein Gedanke in mir auf, der mich höchst beunruhigt hat, nämlich der Gedanke, dass da automatisch jeder Autor auch hinter seinem Text steckt, es vielleicht dir grad so überhaupt nicht gut geht und du deswegen so einen insgesamt düsteren niederschmetternden Text aufgesetzt hast.
Ich fühle mich insoweit in der Verantwortung, dich danach zu fragen, ob das alles nicht ein geschickt verpackter Hilfeschrei deinerseits ist?
Du siehst, auch das löst dein Text aus.

Ein verpackter Hilfeschrei liegt hier keineswegs vor – im Gegenteil: Der Autor hatte selbst beste Laune beim Schreiben dieses Textstücks. Es ist doch fast ein heiterer Text, der von Lösungen erzählt, vom Überkommen und vom Anerkennen.

 

Hallo @H. Kopper

kein Text für eine Depressionsstation einer Psychiatrie. Sehr kompromisslos, sehr klar, deine Schreibe erinnert mich - wenn auch überladener und ausschöpfender - an Knausgaard. Nie verlierst du mich als Leser, der Text ist überzeugend hart und deutlich formuliert. Der Kraftsport und eine damit einhergehende Identitätskrise als Symptome einer lavierten Depression bzw. depressiven Weltwahrnehmung. Die symbolbeladene Einführung über ein Rattenskelett etc. zwingt mich jedoch, den Realitätsgehalt der Hanteln anzuzweifeln - sind sie Symbole, sind sie echt? Bedeutet: Lese ich deinen Text als Monographie einer affektiven Störung oder lese ich ihn als emotionale Verzweiflung über den Kraftsport? Oder beides?

Aber nein, von schönen Träumen ist nicht schön zu träumen.
guter Satz
Mit einem lauten Knall.
Das würde ich streichen. Lautes Knallen passt nicht in diese hoffnugslose Weltsicht.

Ein Versager da auf der Anklagebank.
Sind ja nur Kleinigkeiten, aber solche kleinen Wörter verdeutlichen den Selbsthass deines Erzählers.
Nichts gibt dir so viel Kraft wie nackte Angst. Es gibt diesen einen Moment, wenn sich das Gewicht scheinbar übermächtig und steinern auf deine Brust legt.
Die Frage nach dem Wollen als weiteren Punkt. Will er die Angst, weil er glaubt, sie spornt ihn an? Die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Erzählers: Ist er handlungsfähig, ist er es nicht, ist er Opfer einer Störung oder nicht?

Insgesamt ein starker Text, der hoffungslose Wucht von Depression und Kraftsport in einer eingehend deutlichen Sprache formuliert. Nun das subjektive Urteil: Würde ich einer solchen Textanlage in längerer Form folgen? Defintiv, aber klar, da müssten mehr Eindrücke, mehr Erlebnisse hinein. Vielleicht ein bisschen wie "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle, der über seine bipolare Störung schreibt.

lg
kiroly

 

Hallo @kiroly,

ich danke dir für deine Kritik. Wie immer sehr prägnant und überlegt!

kein Text für eine Depressionsstation einer Psychiatrie.

Weiß ich gar nicht. Hat man nicht oft lieber ein Spiegelbild als einen Kontrast?

Sehr kompromisslos, sehr klar, deine Schreibe erinnert mich - wenn auch überladener und ausschöpfender - an Knausgaard.

Dieser verdammte Knausgard! Ich arbeite in letzter Zeit sehr viel mit ChatGPT als Analyse- und Lernwerkzeug für meine (und anderer Leuts) Texte und ChatGPT fühlt sich auch immer an Knausgard erinnert. Ich habe mir jetzt "Sterben" gekauft, auch wenn mich ein tausende Seiten langer, mäandernder Romanzyklus abschreckt wie sonst was – zumal ich da noch seit Jahrzehnten einige Kawenzmänner auf meiner Liste habe und vermeide: "Berlin Alexanderplatz", "Der Mann ohne Eigenschaften", "Das Buch der Unruhe" und – Rekurs auf oben: "Der Zauberberg". "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nehme ich mir nicht mal hypothetisch vor ;-)

Nie verlierst du mich als Leser, der Text ist überzeugend hart und deutlich formuliert.

Sehr schön, freut mich natürlich!

Die symbolbeladene Einführung über ein Rattenskelett etc. zwingt mich jedoch, den Realitätsgehalt der Hanteln anzuzweifeln - sind sie Symbole, sind sie echt? Bedeutet: Lese ich deinen Text als Monographie einer affektiven Störung oder lese ich ihn als emotionale Verzweiflung über den Kraftsport? Oder beides?

Das kann ich dir nicht sagen? :-)

Sind ja nur Kleinigkeiten, aber solche kleinen Wörter verdeutlichen den Selbsthass deines Erzählers.

Deine These!

Nun das subjektive Urteil: Würde ich einer solchen Textanlage in längerer Form folgen? Defintiv, aber klar, da müssten mehr Eindrücke, mehr Erlebnisse hinein. Vielleicht ein bisschen wie "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle, der über seine bipolare Störung schreibt.

Immer wieder spannend, was du für Referenzen nennst – ich bin ja kaum in der Gegenwartsliteratur zu Hause, da sind das immer wichtige und interessante Infos für mich, was es so alles gibt im Buchladen.

Freundliche Grüße

Henry

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @H. Kopper, ich geh einfach mal am Text lang und schildere meinen Leseeindruck.

Das Leben lastet schwer auf mir. Es drückt mich nieder. Seit zwanzig Jahren ist das so. Vielleicht sogar seit fünfundzwanzig Jahren oder noch länger. Kann ich nicht sagen, denn anfangs gab es dafür kein Wort. Heute gibt es ein Wort, doch es ist längst hohl geworden. Was sagen schon Worte über Gefühle aus?
Das Leben, dass einen niederdrückt und schwer auf einem lastet ist im Grunde ein sprachliches Klischee. Für mich ist das alles oben auch reine Exposition, die im Falle des Löschens mMn nicht fehlen würde. Zudem zweifelt die Figur an, dass Worte etwas über Gefühle aussagen könnten, tritt aber genau damit an - Worte finden zu wollen. Die Unzulänglichkeit der Sprache ist doch etwas komplexer als das, oder? Außerdem diskreditiert die Figur hier mal eben sämtliche Literaturerzeugnisse und alle Leser:innen, die sich jemals in irgendeinem Text mit ihren Gefühlen wiedergefunden haben. Dadurch wirkt die Figur etwas unterkomplex und ich vermute, dass das eigentlich nicht dein Ziel ist. Ich verstehe auch nicht, wieso die Figur das Wort, das längst hohl geworden ist, nicht ausspricht. Ich schätze mal, 99% der Leser denken hier an das Wort Depression und das Nichtbenennen ist für mich irgendwie nicht motivisch begründet (also dass es bspw ein Tabu wäre, das Wort, das nicht genannt werden darf), sondern wirkt auf mich nur unpassend ominös.

Wenn ich nachts auf dem Sofa liege oder am frühen Nachmittag über die herbstliche Allee spaziere ...
Ich würde hier anfangen ... das leitet ja dann den Wunsch nach Klarheit ein bzgl des Leidens am Leben oder an der Welt, auch der Wunsch nach Abhilfe wird hier thematisiert. Ich verstehe es so, dass die Suche in der Tiefe, im Brunnenschacht (resp. in seinem Inneren selbst), zu nichts führt. Wenn ich es runterbreche, ist hier die Erkenntnis: Grübeln bringt nichts. Taucht man in die Tiefe, so wirbelt nur den Schlamm auf und alles wird noch viel undurchsichtiger.

Unweigerlich wird man hart.
Der Erzähler mag das so sehen (weil es mglw für ihn gilt), es zeigt ihn aber auch als unreflektierte Erzählinstanz (und das könnte natürlich auch deine Intention als Autor gewesen sein). Da ich diesen Text als so eine Art literarischen Essay lese, verliert der Erzähler für mich hier allerdings an intellektueller Autorität und ist also einer, der eine komplexe psychische Entwicklung in eine monokausale, fatalistische Behauptung presst, deren Beweis er schuldig bleibt (schuldig bleiben muss, weil das ja gar nicht zu beweisen ist). Für mich wird darum unklar, ob es denn nun literarischer Essay ist (d.h. jemand, der sich intellektuell mit Depression auseinandersetzt) oder jemanden zeigt, der wirken soll, als ob er sich intellektuell mit dem Thema auseinandersetzt, aber eigentlich unreflektiert ist.

Also wird man hart. Unweigerlich wird man hart. Und da liegt es doch nahe, aus der Not eine Tugend zu machen, und wirklich hart zu werden. So in etwa muss ich mir das gedacht haben, damals, als ich das erste Mal nach dem Eisen griff, das ich seitdem nie wieder losgelassen habe. Weil es mir erlaubt hat, wenigstens für ein, zwei Stunden das so schwer auf meiner Brust liegende Gewicht der Welt zu lupfen und mich leicht zu fühlen.
Keine Ahnung, das ist jetzt sicher sehr pingelig, wenn ich sage: Hebt er nun die Gewichte, um hart zu werden oder weil sie ihm erlauben sich leichter zu fühlen? Oder soll es am Ende gar das Gleiche sein? Gewichte zu stemmen, um sich leicht zu fühlen, finde ich interessant und nachvollziehbar.

Mit dem nächsten Absatz verlässt der Text die Form des literarischen Essay und tritt ein in eine Art Gerichtssaal mit Richter und Publikum. Hier spricht nicht mehr der reflektierende oder intellektuelle Denker, sondern der sich selbst richtende Mensch. Die Schwere-Metapher wird zum konkreten Gewicht. Am Ende spricht die Hantel das Urteil über den Erzähler bzw gibt der Erzähler der Hantel diese Macht. Er entblößt sich hier vor dem Leser mit seinen vulnerablen psychischen Glaubenssätzen. Psychologisch betrachtet sind ja Leistungsorientierung und Depression oft irgendwie verwandt. Hier haben wir Leistung, Kontrolle, Stärke und Selbstbehauptung und auf der anderen Seite Versagen, Schwäche, Demütigung und natürlich: Scham. Denn wenn Versagen Schwäche ist und Schwäche Demütigung, was bleibt dann anderes als Scham?
Interessant ist auch, dass Angst dann als positiv und aktivierend beschrieben wird, während Scham ja das Allerschlimmste überhaupt ist, nur durch Angst scheint die Scham vermeidbar. Und ich muss mich wohl korrigieren, was den literarischen Essay angeht. Der Text ist doch eher emotionales Bekenntnis und Selbstentblößung, die mMn schon an selbstverletzendes Verhalten grenzt. Es geht nicht um Verstehen, sondern um die Vorführung des ganzen inneren Irrsinns, denn das ganz konkrete, reale Gewicht hat ganze reale und konkrete Konsequenzen für den Körper. Das zeigt der folgende Absatz und idealisiert oder heroisiert diesen Irrsinn geradezu. Also, das ist schon konsequent im Text - Selbstzerstörung oder Selbstverletzung sowohl als Selbstentblößung (vor dem Leser als Publikum) als auch als realer körperlicher Akt - aber ich kann natürlich nicht sagen, dass mir das gefällt. Ich finde es wirklich furchtbar gruselig, also die ganze Figur. Selbstzerstörung als Lebensphilosophie, die ins Licht führt. Ziemlich religiös das Ganze. Erlösung durch Schmerz und Leid, ohne Rücksicht auf Physik oder Biologie. Der Körper wird zwar gestählt und gehärtet, ist im absoluten Zentrum der Aufmerksamkeit und Arbeit, aber eigentlich ist er nichts wert. Nur die Psyche, die Seele, die geistige Erlösung hat Wert, soviel Wert, dass alles andere dahinter zurücksteht.

Der letzte Absatz dann klingt für mich, als würde der Text zum Erzähler sprechen, er gibt einen Ausblick wohin diese Philosophie führt, wobei hier weniger die aktive Selbstzerstörung durch übermäßigen Leistungssport im Zentrum steht, sondern eher so eine Art Leichtsinn, die man in Kauf nimmt, man nimmt das Unfallrisiko in Kauf. Ich finde gut, dass es da am Schluss noch diesen Bruch gibt, andererseits bleibe ich auch etwas unzufrieden zurück und ich kann dir nicht mal genau sagen warum. Vielleicht weil es diesen Bruch gibt und ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll. Der Text zerstört am Ende sich selbst irgendwie. Also formal schließt sich hier ein Kreis. Es gibt eine Klammer aus Depression, Brunnenschächten und Rattenskeletten, die auf den Anfang verweist, der Ton wird auch wieder essayistischer und so mag das Ende vielleicht formal folgerichtig sein, aber es fühlt sich an als würde eine Maschine, die gerade noch sehr hochtourig gelaufen ist, jetzt einfach im Leerlauf austuckern. Nach dem ganzen überhöhten, mystischen Mittelteil, sind wir jetzt wieder bei Sterben und wir alle werden zu Staub und Asche. Wie gesagt, ich finde eigentlich gut (aber vielleicht mehr so aus ideologischer Sicht), dass das alles etwas entmystifiziert wird, aber der Text tut das in meinen Augen nicht auf sehr kraftvolle Weise oder anders gesagt: Ich finde das Ende ein bisschen lahm. Aber vielleicht habe ich ja sowieso total an deiner Intention vorbeigelesen, jedenfalls, das ist, was ich gelesen habe.

Ich fände übrigens "Light weight, baby" einen passenderen Titel.

Viele Grüße
von Katta

PS ich musste übrigens an Daniela Krien "irgendwann werden wir uns alles erzählen" denken, deren Hauptfigur zeigt auch so ein krasses Verhalten, das nirgendwo im Text gebrochen wird. Einige Leser finden darum, dass darin eine missbräuchliche Beziehung romantisiert wird. Das finde ich aber nicht, bei dem Buch allerdings haut der Klappentext tatsächlich gar nicht hin, weil er von Liebe spricht. Jedenfalls sehe ich bei dir auch eine Figur, die das Selbstzerstörerische romantisiert, und darum einen "mündigen" Leser braucht, der Distanz zu Figuren aufbauen kann.
Ein zweiter Roman, an den ich bei Selbstentblößung denken musste, ist Julia Schoch Das Vorkommnis. Das fand ich auch ganz schwer auszuhalten, weil das so autofiktionale Vibes hat und die Figur sich auch total unangenehm vor dem Leser entblößt.

 

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