Die Fahrt
Die Fahrt
Ich habe alles bei mir, was ich zum Leben brauche. Oder besser gesagt, zum Überleben. Denn ich lebe nicht. Ich sitze in einem Bus, der alle Stationen der Welt abfährt. Ich kann nicht sagen wie lange ich schon in diesem Bus sitze und wie lange ich noch in ihm sitzen werde. Es ist als existiere garkeine Vergangenheit oder Zukunft. Ich habe auch nicht das Gefühl, zu altern oder besonders jung zu sein. Mein Körper weißt alle Merkmale eines männlichen Menschen auf und das ist alles, was zählt. Alles, was mein Erdendasein bestätigt.
Irgendwann muss ich wohl in diesen Bus gestiegen sein, da gibt es keinen Zweifel. Aber ob ich dazu gezwungen wurde oder ob es wirklich mein eigener Entschluss war, kann ich nicht sagen. Es fühlt sich aber richtig an, hier zu sitzen. Ich kann es mir nicht anders vorstellen.
Wenn ich die Menschen sehe, die da draußen ihr Leben leben, außerhalb meines Busses, dann weiß ich, dass ich nicht zu ihnen gehöre. Dass ich da draußen nicht zurechtkommen könnte. Ich mich einsam fühlen würde und ausgeschlossen. Vielleicht war ich ja einmal einer dieser vielen Menschen und habe es nur vergessen. Doch es bringt nichts, mir diese Fragen zu stellen denn die Gegebenheiten sind ausschlaggebend. Ein Bus, der von irgendwem gefahren wird, der jeder und gleichzeitig niemand sein könnte. Und ich, der ganz hinten seinen Platz hat und darauf wartet, irgendwann aussteigen zu können.
Begleitung hatte ich bisher noch nie auf meiner Reise. Oder ich kann mich nicht daran erinnern. Ich überlege und suche nach irgendeinem Anhaltspunkt meines Daseins doch da ist nichts, was mich an ein Vorher oder ein Nachher erinnert. Gibt es keine Menschen, die mich kennen? Keine Menschen, die mich vermissen oder auf meine Rückkehr warten? Ich weiß es einfach nicht. Doch die Leere in meinem Inneren gibt mir das Gefühl als gäbe es da tatsächlich etwas. Eine kleine Hoffnung, eine kleine Aussicht auf ein kleines Ziel. Ich erwarte nichts Bahnbrechendes, nur eine Kleinigkeit, wo ich mich wohl fühlen kann, wo ich mich ausruhen kann. Wo ich endlich leben kann.
Ich schlafe ein. Mein Schlaf ist stets ruhig und gelassen, ohne Träume. Ich nicke einfach ein und irgendwann wache ich wieder auf, ohne irgendeinen Unterschied feststellen zu können. Es ist wie vorher und wie nachher und mittendrin.
1.
Als ich aufwache, sitzt ein Mann auf der Bank mir gegenüber. Er hält einen Zeichenblock und zeichnet mit einem Bleistift irgendwas. Für einen Augenblick glaube ich, doch zu träumen und reibe mir die Augen. Doch der Mann sitzt noch immer da und zeichnet. Ich sehe ihm ins Gesicht und da treffen sich kurz unsere Blicke, ehe er seinen Kopf wieder senkt und ungerührt mit seiner Arbeit fortfährt. Zeichnet er mich? Unmöglich… Das MUSS ein Traum sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine Begleitung auf meiner Reise gehabt zu haben und auf einmal sitzt ein junger Mann mit mir im Bus, der mich tatsächlich zu zeichnen scheint.
Immer wenn er kurzzeitig aufsieht um mein Gesicht zu mustern, blicken wir uns an. Doch sein Blick ist beobachtend, forschend und konzentriert als wolle er meine Gedanken zu Papier bringen. Ich dagegen sehe ihn fragend an. Ich will wissen, was er hier tut, weshalb er in diesen Bus gestiegen ist, weshalb er mich als Modell zum Zeichnen verwendet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir Sorgen machen sollte. Ob er mir die Seele stiehlt indem er meinen Blick auf seinem Papier verewigt. Meine Gesichtszüge und meinen Ausdruck. Das Gesicht, das mich ausmacht. Ich möchte nicht kopiert werden, ich möchte einfach nur ich selbst sein. Ich will nicht schöner oder hässlicher werden oder mich auf eine Art und Weise sehen, wie ich mich noch niemals zuvor gesehen habe.
Und ganz plötzlich schlage ich die Hände vor mein Gesicht um dem Blick des Künstlers auszuweichen. Ich habe Angst vor dem, was er aus mir macht.
Nach einigen Minuten bleibt der Bus stehen. Ich wage einen Blick durch meine Finger und sehe, dass der Künstler aussteigt. Seinen Zeichenblock und seine Stifte nimmt er mit. Er bewegt sich völlig natürlich, ohne mich noch einmal anzusehen. Ich nehme die Hände von meinem Gesicht und sehe aus dem Fenster, wie er eine Frau umarmt, die draußen offensichtlich auf ihn gewartet hat. Die beiden halten sich lange Zeit im Arm und als sie ihre Umarmung lösen, küsst die Frau ihn auf den Mund. Der Künstler lächelt und legt seinen Arm um ihre Hüfte. Dann spazieren sie einfach davon. Ich beobachte sie, wie sie die Straße entlanggehen, vorbei an einem Schild. Mein Blick wandert empor. Ich möchte lesen, was auf dem Schild steht.
„Stadt der Muse“
Der Bus schließt seine Türen. Ich bin alleine und meine Reise geht weiter. Ich sehe weiter aus dem Fenster und sehe mich neugierig um. Überall stehen altmodische schöne Häuser. Einen Fluss sehe ich auch, auf dem kleine Boote fahren. In den Booten sitzen meist ein Mann und Frau, die sich Arm in Arm von der Strömung treiben lassen. Sie rudern nicht, sie steuern nicht, sie kontrollieren nicht. Sie sitzen bloß da und haben sich lieb, ohne darauf zu achten, wohin sie getrieben werden.
Ich sehe auch Frauen, die sich auf Bänken von der Sonne bescheinen lassen und ein Buch lesen oder Briefe schreiben. Vermutlich Liebesbriefe. Und ich sehe Künstler, die Bilder malen oder Musiker, die ihr Instrument spielen.
Manche gehen auch einfach alleine spazieren und genießen den Tag. Ohne jedes Ziel, einfach immer weiter. Beinahe so wie ich. Aber doch nicht genauso. Ich habe niemanden bei mir und lasse mich im Ungewissen treiben.
Auf einmal bin ich unzufrieden. Ich möchte mich irgendwo wohl fühlen können. Hier in dem Bus macht nichts einen Sinn. Nichts beeindruckt mich oder gibt mir das Gefühl, das es gut ist wie es ist. Ich warte schon so lange.
Wir verlassen die „Stadt der Muse“. Vielleicht hätte ich aussteigen sollen. Aber wer weiß ob es mir dort tatsächlich gefallen hätte. Wer weiß ob mich die Leute dort überhaupt aufgenommen hätten. Und selbst wenn sie mich empfangen hätten, ich weiß nicht, ob ich mich wohl gefühlt hätte. All die Arme, die meine Schulter tätscheln, all die lächelnden Gesichter und lieben Gesten. Einladungen und Freundschaften. Ohne jeden Grund. Ich hätte das nicht verdient. Ich bin weder Künstler noch schön genug um ein Modell zu sein. Eine Muse würde mir nichts bringen, denn ich weiß nicht, was mich dazu inspirieren könnte, etwas Einzigartiges zu schaffen. Ich kann das nicht. Ich bin nicht so weit. Ich will weiterfahren. Ich habe Angst davor, jemand zu sein, der seinen festen Sitz hat. Ich will nicht, dass die Leute auf mich zeigen und erzählen, wer ich bin. Ich fahre weiter. Irgendwo gibt es einen Platz für mich, wo alles möglich ist, was ich mir wünsche. Hoffentlich.
Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme. Ich möchte schlafen. Doch da fällt mir auf, dass etwas auf dem Boden zu meinen Füßen liegt. Es ist ein Papier. Es ist die Zeichnung des Künstlers. Er muss sie fallen gelassen haben als er aufgestanden ist um den Bus zu verlassen. Oder hat er sie absichtlich dort liegen lassen? Hat er gewollt, dass ich sie finde?
Ich beuge mich hinab und will nach dem Papier greifen. Irgendwas hält mich zurück. Meine Finger verweilen in der Luft. In der Leere. Ein Ziel. Eine Möglichkeit. Eine Furcht. Ich möchte die Zeichnung sehen, habe aber Angst davor, was ich wohl zu sehen bekommen werde. Wird sie mir gefallen? Werde ich in Angst geraten und mein Dasein verfluchen? Ich habe Angst vor dem, was mein Anblick auslösen könnte. Was mit mir geschieht wenn ich mich sehe. Ich lasse das Blatt Papier liegen und lehne mich wieder zurück. Mache es mir gemütlich in meiner Ratlosigkeit. Dann schlafe ich ein. Traumlos.
2.
Als ich wieder erwache, ist es draußen dunkel. Nicht das Geringste ist zu sehen. Nur eine Ahnung von einem Spiegelbild, das sich im Fenster abzeichnet. Ich weigere mich jedoch, genau hinzusehen. Es sind bloß grobe Siluetten und verschwommene Abdrücke meiner Befürchtungen, nichts weiter. Wieder schließe ich die Augen. Einfach nur um nichts zu sehen. Eine blinde Fahrt ins Ungewisse. Zur nächsten Station.
Als ich die Augen wieder öffne sitzt mir jemand gegenüber. Zuerst erscheint die Person wie ein verwaschenes Trugbild, eine Einbildung. Als ich jedoch einige male blinzle, stelle ich fest, dass da wirklich jemand sitzt. Schon wieder. Ich werde mich wohl langsam an den Gedanken gewöhnen müssen, hin und wieder begleitet zu werden. Völlig einsam kann ich nicht sein. Doch warum werde ich begleitet? Naja, sofern man es so bezeichnen kann. Womöglich sitzt diese Person bloß in meinem Bus um weiterzukommen. Ein paar Städte weiter, um mich dann wieder allein zu lassen. Aber ich bin es gewohnt. Es ist meine Entscheidung und ich bitte nicht um Gesellschaft auf meiner Reise.
„Hallo. Ich bin Delta… Und bevor du fragst, diesen Namen habe ich mir selber ausgedacht. Klingt doch toll, oder?“, fragt mich die junge Frau, die mir gegenüber sitzt.
Ich blicke sie einfach nur an. Nach einiger Zeit versuche ich zu lächeln und damit meine Sprachlosigkeit zu überdecken. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Mir fällt kein Grund, zu sprechen ein und genausowenig irgendwelche Worte. Was nun?
„Was ist? Wächst mir eine Karotte aus der Nase oder warum stierst du mich so an?“
Ich muss lachen. Sie hat Humor. Das gefällt mir.
„Na, lachen kannst du wenigstens. Woher kommst du?“
Ich überlege kurz, was ich darauf antworten soll. Natürlich fällt mir nichts Passendes ein aber ich möchte nicht unhöflich sein…
„Ich weiss es nicht.“
„Wie, du weißt es nicht? Du wirst doch wohl wissen, woher du kommst? Wie heißt du? Wo fährst du hin?“
Das sind die schwierigsten Fragen, die man einem Menschen bloß stellen kann. Für einen Augenblick bin ich so ratlos, dass mir der Atem stockt. Ich fühle, dass sich eine bedrückende Leere in meinem Brustkorb ausbreitet und beginnt, meinen Hals hinaufzukriechen. Ich habe einfach nicht die geringste Ahnung. Irgendwie bin ich erleichtert, jemanden bei mir zu haben, der mir diese Fragen stellt aber gleichzeitig tut es weh, sich einzugestehen, dass man nichts hat, dass man niemand ist und dass man von nirgendwoher kommt und voraussichtlich nirgendwo hingeht.
„Willst du mir nicht antworten? Du scheinst mich aber nicht sonderlich zu mögen…“, sagt Delta.
Sie versteht das völlig falsch. Ich bin nicht einmal in der Lage zu entscheiden, wen ich mag und weshalb. Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich sie mag. Sie bringt Abwechslung in den dunklen Bus. Sie haucht mir etwas Leben ein. Ja, eigentlich bin ich froh, dass sie da ist, auch wenn es nicht unbedingt angenehm ist, mit seiner Leblosigkeit konfrontiert zu werden.
„… Doch, ich denke schon, dass ich dich mag. Aber ich kann dir einfach nicht antworten. Ich sitze bloß in diesem Bus und fahre alle Städte ab.“
„Aha, interessant. Du bist also ein Niemand oder was? Naja, ich bin gerade auf der Durchreise. Dein Bus kam mir ziemlich gelegen denn mein Freund hat mich gestern verlassen und ich will mich jetzt einfach mal in einer anderen Stadt umsehen. Mal was Neues versuchen, weißt du? Die traurige Vergangenheit hinter sich lassen und so weiter.“
Beeindruckend wie einfach Delta mit ihrem Leben umgeht. Probieren, bleiben lassen, weitermachen, neu anfangen und immer so weiter.
Einige Minuten lang schweigen wir einfach. Wir sehen aus dem Fenster und manchmal treffen sich unsere Blicke, ohne, dass wir es wirklich wollen. Es wundert mich nicht. Vermutlich weiß sie einfach nicht, wie sie mit mir umgehen soll aber ich kann ihr dabei auch nicht weiterhelfen. Der Bus fährt, ohne dass ich viel davon mitbekomme. Delta riecht gut und ihr Gesicht spricht eine Sprache, die ich zu entschlüsseln versuche. Nach einer Weile wird aber auch das zu schwer und ich gebe auf. Wieder einmal will ich versuchen, die Augen zu schließen. Ich will darauf warten, dass Delta nicht mehr da ist. Oder könnte es vielleicht ganz einfach sein, sie bei mir im Bus zu behalten? Nein… Sie ist ja nur auf der Durchreise. Mein Bus kann ihr nicht viel bedeuten. Wie auch? Er kann ja nichts als Fahren. Das ist sein einziger Zweck und ich bin in ihm gefangen. Ja, ich könnte vielleicht rausgehen. Vielleicht mit ihr zusammen den Bus verlassen. Ein bisschen Glück erfahren, egal wo, egal wie, egal weshalb.
Mein Augen werden immer schwerer und langsam vergesse ich, weshalb ich sie zumachen will. Genauso wie ich mich bei jedem Erwachen nicht daran erinnern kann, weshalb ich meine Augen öffne. Es geschieht ohne jede Kontrolle. Delta verschwindet hinter einem dunklen Vorhang und ich kann nichts dagegen tun.
3.
Die Augen werden wach. Ein wenig Licht gerät an mein Bewusstsein. Ich höre den Motor des Busses und denke an so etwas wie Zeit. Ein kleiner Beweis dafür, dass etwas geschieht. Dass etwas geschehen muss um weiterzumachen. Die Augen zu öffnen.
Delta sitzt nun dicht neben mir. Unsere Beine berühren sich. Ihr Kopf liegt ruhig auf meiner Schulter und sie scheint tief zu schlafen. Ich bin beruhigt und das ist wahrhaftig ein besänftigender Zustand. Ich möchte etwas sagen. Irgendwie reagieren um diesen Moment so lange wie möglich anhalten zu lassen. Aber dann verfliegt das Gefühl. Ein Gefühl auf der Durchreise, genau wie Delta. Ich habe niemanden sonst, der mir so eine Ruhe schenkt aber vielleicht macht es auch nur auf diese Weise Sinn, dass ich in diesem Bus sitze. Aber ich kann mich nicht erinnern. Ich möchte eigentlich ganz woanders sein aber ich komme nicht an. Vielleicht ist Delta ein kleiner Zwischenstop, der mir zeigt, wo ich ankommen möchte. Für was ich immer so alleine bin.
Vor dem Fenster ist alles leer. Genauso wie dahinter. Es macht beides keinen wirklichen Sinn. Ich versuche, mich auf meine Gefühle einzulassen, denn sie sind das einzige, was mich am Leben hält.
Delta erwacht. Ihr Kopf hebt sich von meiner Schulter und für einen Moment ist mir so als würde ich aus einem Bett fallen. Kilometer tief. Ins nirgendwo. Um schließlich in einem Bus zu sitzen, der mich ins Ungewisse befördert. Delta gähnt ausgiebig und rutscht einige Zentimeter weg um sich zu strecken.
„Habe ich lange geschlafen?“, fragt sie.
Ich sehe sie kurz an und sie sieht mich an. Eine Antwort erübrigt sich denn es gibt einfach keine. Ich kann die Zeit nicht bemessen und selbst wenn ich es könnte, welche Rolle spielt es schon? Ich blicke aus dem Fenster und merke, dass wir uns einer neuen Stadt nähern. Normalerweise stimmt mich die Ankunft in einer neuen Stadt euphorisch. Doch diesmal bin ich nicht neugierig denn ich weiss, dass Delta mich nun verlassen wird. Mich interessiert die Stadt nicht aber ich merke, dass Delta ganz gespannt aus dem Fenster sieht. Sie nimmt mich nicht einmal mehr wahr. Alles worauf sie erpicht ist, ist etwas Neues zu erleben und ich kann ihr das nicht mal verdenken. Ich sollte mir nichts einbilden. Am besten wird es sein, wenn ich stumm bleibe und darauf warte, dass sie verschwindet. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig.
„Hui, das sieht aber toll aus! Schau mal raus!“, sagt sie, ohne mich anzusehen. Sie steht auf und nähert sich dem Fenster um besser sehen zu können. Ich dagegen sehe nirgendwohin.
Der Bus hält. Mein Blick ist gesenkt und nun will ich bloß noch, dass Delta aussteigt. Doch so schnell gibt sie nicht auf. Sie nimmt meine Hand und versucht, mich hochzuziehen.
„Los, komm schon! Sieh’s dir doch mal an. Schau mal, was das für Leute sind, die hier wohnen! Abgefahren!“
Ich tue ihr den Gefallen und sehe hinaus. Ich lese, was auf dem Schild steht.
„Stadt der Träume und Begierden“
Die Stadt ist enorm. Einfach riesengroß. Überall kommen Menschen aus Gebäuden gelaufen und noch mehr Menschen, die wiederum andere Gebäude betreten. Sie halten Mappen unter den Armen. Manche gehen in Gruppen und ich erkenne schnell, dass sie etwas Tollem hinterherjagen. Ihre Augen funkeln. Sie haben ein Ziel. Sie streben ihrer Lust entgegen, etwas zu vollbringen. Es ist ein einzigartiger Anblick. Ein Gefühl von Sicherheit geht von dieser Stadt aus denn offensichtlich scheint hier alles zu funktionieren, was man sich wünscht. Jeder Mensch scheint einen Traum zu haben, dem er bedingungslos nachzukommen versucht. Besonders die Gruppen von Männern und Frauen, die mit strahlenden Gesichtern ihrer Arbeit zustreben, beeindrucken mich. Sie planen untereinander ihre nächsten Schritte und lassen sich durch nichts aufhalten. Leider ist es genau das, was mich auch erschreckt. Jemand wie ich würde diese Menschen bloß aufhalten. Ich kann mir kein Ziel vorstellen, dem ich derart vorbehaltlos begegnen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, mit Menschen, die alle nach etwas anderem suchen als ich, so gut auszukommen.
In Deltas Gesichtszügen regt sich eine Euphorie, die ich nicht nachempfinden kann. Ihre Zähne blitzen aus einem erwartungsvollen Lächeln hervor und ihre Augen suchen nach einem neuen Reiz. Einem neuen Traum. Einer neuen Begierde. Für einen Augenblick bin ich darüber erzürnt, dass ich diesen Reiz nicht in ihr hervorrufen kann. Aber als ich sie noch ein wenig länger beobachte, beginne ich mich für sie zu freuen. Ich bin besänftigt und lächle ihr zu. Auch sie lächelt mich an aber ich weiss, dass sie in Wahrheit nicht mich anlächelt sondern bloß die Hoffnung auf ein neues Wagnis. Ich bin nicht mehr als ein Spiegel für sie, in dem sich ihr Potenzial widerspiegelt. Ich versuche, dieser Rolle gerecht zu werden und sage kein Wort. Was sollte ich auch sagen? Sie ist die einzige, die es jetzt noch nötig hat, zu reden aber ich bin nicht derjenige, der ihr weiterhelfen kann. Sie muss meinen Bus nun verlassen. Sie muss mich nun verlassen und vergessen, dass ich jemals hier war. Ich kann es nicht verhindern. Ich wünschte, ich wäre Teil dieser großen Stadt oder irgend etwas anderem, das Delta glücklich machen könnte aber es bringt nichts, mir etwas einzureden.
Ehe ich es wirklich realisieren kann, küsst mich Delta auf die Wange und steigt aus. Die Türen des Busses schließen sich und sie ist fort. Vielleicht nur auf Zeit, vielleicht auch für immer. Ich erwarte nicht, sie jemals wieder zu sehen aber ihr Kuss brennt auf meiner Wange. Ich würde diesen Kuss gerne wegwischen aber er schmerzt und liebkost mich zugleich. Ich möchte vergessen, dass ich Delta während dieser kurzen Zeit sehr gern mochte. Aber nein… Der Kuss erinnert mich an etwas, dass ich wieder haben möchte… Ich möchte es aber nicht wieder haben…
Ich wische den Kuss weg und der Bus fährt weiter. Delta winkt mir nicht einmal hinterher.
4.
Vor meinen Füßen liegt ein Blatt Papier. Ich versuche mich, zu erinnern, woher es kommt aber mein Gedächtnis weißt zu viele Lücken auf. Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass ich die Dinge mit Absicht vergesse oder sie bloß in meiner Fantasie stattgefunden haben. War dieser Jemand, der mir das Papier hinterlassen hat jemals in diesem Bus? Hat er mir jemals gegenüber gesessen und mich gezeichnet? Oder war das alles bloß ein Traum? Es fällt mir zunehmendst schwer, zu beurteilen, was die Wahrheit ist oder war. Vielleicht kann ich mich besser von der schmerzenden Realität abschotten wenn ich alles als Fantasie abhake, woran ich mich erinnere. Die Erinnerungen sind es, die mir alles bedeuten. Die mich wirklich etwas empfinden lassen und mich zugleich quälen. Sie erwecken den Wunsch nach Erlösung in mir. Ich stelle mir vor, wie die Rückseite des Papiers wohl aussehen mag. Aber ich bin nicht imstande, es einfach aufzuheben und nachzusehen denn dann wäre jede Hoffnung vergeudet. Es würde mich bestimmt nicht glücklich machen. Einzig und allein der Reiz ist es, was mich gefangen nimmt.
Ich strecke die Hand nach dem Blatt aus. Meine Hand bleibt in der Luft. Ich fühle eine unsichtbare Kraft, die mich aufhält, mich bremst. Ich wage es nicht, weiterzugehen. Ich lehne mich zurück und blicke hinaus. Es gibt nichts zu sehen. Es ist alles schwarz. Ist es Nacht? Oder fahre ich durch ein Gebiet in dem kein Licht existiert? Für einen Augenblick erschüttert mich die Panik, dass ich niemals aus dieser Nacht finden werde. Aber die Panik verfliegt genauso schnell wie die Hoffnung. Meine Empfindungen werden durch mein Bedauern gezügelt und ich werde schwach. Sehr schwach. Meine Lider sind schwer und ich muss die Augen schließen. Muss mich fallen lassen in eine Welt, die völlig dunkel ist.
Als ich wieder erwache sehe ich draußen nach wie vor nichts als schwarze Unendlichkeit. Vielleicht muss ich erst richtig aufwachen. Vielleicht träume ich auch noch oder befinde mich in einer Welt in der Traum und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Ich versuche, die Dämmerung von meinen Augen zu wischen und sehe erneut aus dem Fenster. Das gleiche trostlose Bild. Nein, Moment. Es ist nicht mehr ganz so schwarz. Da schwirren kleine weiße Punkte in der Luft. Je weiter der Bus fährt umso mehr Punkte werden es. Ganz allmählich verwandelt sich die Dunkelheit in einen weißen Schimmer, der meine Augen erleuchtet. Ich merke, dass wir uns einer Stadt nähern. Mit einem mal sehe ich die Gebäude hell vor mir erstrahlen. Jetzt sind es bloß noch vereinzelte schwarze Schneeflocken, die das Bild trüben. Sie wehen willkürlich umher ohne jede Richtung und tauchen die Stadt in einen fließenden Kontrast. Der Bus hält ganz unvermittelt an und öffnet seine Türen. Die schwarzen Flocken wehen sachte in den Bus. Fast so als wolle die Stadt nach mir greifen. Ich sehe wieder hinaus. Vor dem Bus liegt eine Gestalt, die in eine schwarze Decke gehüllt ist. Es sieht fast so aus als lösten sich schwarze kleine Fetzen von der Decke und verwandelten sich in geschmeidige Flocken. Die Gestalt sieht jetzt zu mir auf. Das Gesicht ist trübe und leblos. Ich kann nicht sagen ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es ist einfach bloß eine Gestalt. Sie greift nach mir. Ich kann ihren Arm sehen. Er ist mit schwarzen Linien überdeckt. Schwarze Schnitte. Narben. Ich weiß nicht, ob ich Mitleid oder Furcht vor diese bedauernswerte Gestalt empfinden soll. Ihre Finger sind lang und geschmeidig und greifen immer höher zu mir. Schwarze Augen suchen nach meinem Blick. Ich kann sie nicht länger ansehen. Es verwirrt mich zu sehr. Ich kneife die Augen zusammen und sehe woanders hin. Auf dem Schild der Haltestelle steht etwas, das ich zuerst nur unschwer entziffern kann. Doch je länger ich hinsehe umso klarer wird das Bild, beinahe so als dimme sich das Licht nur für meine Augen.
„Stadt der Bedürftigen“.
Und als ich meinen Blick wieder senke, sehe ich hunderte von schwarzen Gestalten, die sich langsam meinem Bus nähern. Manche gehen etwas schneller, manche zögern auch noch. Eine Gestalt schafft es bis zum Eingang des Busses und für einen Augenblick hege ich die Hoffnung, das ich wieder Begleitung bekomme. Oder soll ich lieber aussteigen? Aber weshalb ist alles so farblos und hell hier? Weshalb wissen diese Gestalten nicht, was sie wollen? Sie können sich nicht entscheiden, ob sie den Bus betreten sollen oder nicht. Sie kommen und gehen und machen dann doch wieder kehrt. Sie sind ohne jede Orientierung. Und doch scheinen sie lieber in der Stadt bleiben zu wollen. Mehrere Gestalten gehen wieder fort und werden vom schwarzen Schnee verschluckt. Ihre Decken schleifen sie hinter sich her als seien sie ihr einziger Schutz. Ich bin mir nicht sicher, wogegen sie sich schützen aber vermutlich sind sie sich selber nicht sicher. Für einen Moment zieht es mich regelrecht zu dieser Stadt. Ich fühle mit diesen Gestalten. Aber gleichzeitig fürchte ich mich vor diesem Leben. Ein ewiges Hin und Her ohne jede Freiheit, dahin zu gehen, wohin es einen zieht. Die Türen schließen sich und der Bus setzt sich wieder in Bewegung. Langsam fahre ich davon und die dunklen Geschöpfe ziehen sich wieder in die Stadt zurück. Sie warten. Sie warten auf die nächste Gelegenheit, zu zögern. Nicht zu wissen, was sie wollen angesichts einer Chance, einer möglichen Entscheidung. Fast so wie ich aber nicht genauso. Ich fahre weiter. Vor meinen Füßen liegt ein Blatt Papier, an das ich mich vage zu erinnern zu versuche. Doch die Bilder verblassen und verlieren sich in der Dunkelheit. Meine Lider werden schwer. Ich schlafe ein, noch bevor mich meine Neugierde zu irgendetwas bewegen kann. Die Grenze zwischen Realität und Traum löst sich langsam auf. Kurz bevor ich vollends einschlafe erscheinen mir all meine Wünsche genauso wertlos, wie meine Träume.
5.
Noch bevor ich meine Augen wieder aufschlage, spüre ich die Gegenwart eines Menschen. Ich stelle fest, dass es mir ein willkommenes Gefühl ist. Und ich spüre, dass ich diesen Menschen kenne, der mir gegenüber sitzt. Es ist der junge Künstler. Ich mustere ihn ausgiebigst aber er sieht mich nicht an. Sein Skizzenblock und seine Stifte liegen auf dem Platz neben ihm. Ich frage mich, ob er mich wieder gezeichnet hat, während ich geschlafen habe. Er sieht aus dem Fenster aber dort ist nichts als Dunkelheit zu sehen. Auch als er zu sprechen beginnt, sieht er mich nicht an.
„Diese Fenster… Ich weiß nicht ob es Fenster oder Spiegel sind. Sehen sie hinaus. Es ist alles völlig dunkel. Kennen sie dieses leere Gefühl, wenn sie nur Dunkelheit sehen? Natürlich… Sie müssen dieses Gefühl nur all zu gut kennen. Ich persönlich mag dieses Gefühl nicht besonders aber dennoch interessiert es mich, die Leere in mir zu spüren.“
Ich folge seinem Blick. Die Fenster sind völlig schwarz. Kein Licht dringt nach innen. Bloß das dumpfe Glimmen der Innenbeleuchtung lässt mich die Dinge erkennen. Jetzt sieht mich mein Begleiter an. Sein Blick ist müde und nicht sonderlich interessiert. Ich habe das Gefühl, seine Augen werden nur beim Zeichnen wirklich lebendig. Wenn er etwas erschafft.
„Sie haben meine Zeichnung nicht einmal angesehen. Ich habe schon viele Menschen gezeichnet und alle haben sie meine Bilder angesehen und gesagt, wie wundervoll meine Kunst sei. Ich habe keinem von ihnen jemals geglaubt. Ich denke, das ist das Dilemma eines jeden Künstlers. Sie können sich selbst nicht zufrieden stimmen und andere können es genausowenig. Jedes Bild ist nur ein weiterer Schritt, der uns entweder frustriert oder für einen kurzen Augenblick befriedigt. Aber kein Bild ist das Ziel. Kein Mensch ist das Ziel. Keine Stadt ist das Ziel. Nichts, was wir uns erschaffen, kann uns erlösen.“
Ich sehe ihn an aber sein Gesicht bleibt völlig leer. Nur seine Augen drücken ein mir unbekanntes Gefühl aus. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Seine Worte klingen rätselhaft und aufschlussreich zugleich. Doch die Wahrheit ist bloß das, was wir uns darunter vorstellen.
„Es war eine sehr angenehme Erfahrung, sie zu zeichnen. So viele Menschen wissen einfach nicht, wie sie aussehen wollen. Ständig verändert sich ihr Ausdruck, ihre Gefühle verändern sich und mit ihnen ihre Menschlichkeit. Auf der Suche nach ihrem tiefsten Selbst verirren sie sich immer wieder in genau die Dinge, die sie aufhält und bremst. Sie wollen es nicht anders… Sie dagegen sind einfach so wie sie sind. Ihre Natur ist ihre Orientierungslosigkeit und Hoffnung. Sie verstecken sich nicht vor den Dingen, die sie antreiben. Sie fahren immer weiter und weiter. Sie wollen niemand sein. Und deswegen liegt meine Zeichnung unbeachtet auf dem Boden.“
Dann steht er einfach auf, lässt seinen Skizzenblock und seine Stifte liegen und bewegt sich auf den Ausgang zu. Er drückt die Haltewunschtaste und blickt mich an. Mit einem mal kommt er mir sehr schwach vor. So als wäre er während der Fahrt um ein vielfaches gealtert. Seine Lieder hängen schlapp herab und seine Mundwinkel drücken eine Traurigkeit aus, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.
„Was haben sie vor?“, frage ich.
Er sieht mich mit seinen trägen Augen an und ich sehe wie sich Tränen ihren Weg über seine Wangen bahnen.
„Wer sich seinen Illusionen nicht hingibt, wird niemals aussteigen können.“
Die Türen gehen auf und von außen strahlt die Dunkelheit wie schwarzes Licht in den Bus hinein. Der Künstler wird von den leeren Strahlen zugedeckt bis er nicht mehr zu sehen ist. Ich bin geblendet und verängstigt und schlage die Hände vor meine Augen. Nach einiger Zeit höre ich wie sich die Türen wieder zu schließen beginnen. Langsam senke ich meine Hände und öffne die Augen. Der Bus setzt sich wieder in Bewegung und der Künstler ist verschwunden.
Außerhalb des Busses ist immernoch alles in dunkles Nichts getaucht. Die Zeichnung auf dem Boden wartet darauf, von mir betrachtet zu werden. Sie wartet auf meine Hand, auf meine Augen, auf meine Zustimmung. Sie will zu einer akzeptierten Illusion werden, genau wie ich.
ENDE