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Die Feder eines raren Vogels
Ich sehe den Vogel immer noch vor mir, wie er sich aufbäumt, die Kraft in diesem kleinen Körper, die Bewegungen seiner Flügel, ich müsste nur meine Hand nach ihm ausstrecken, die weichen Federn berühren, so perfekt in Form und Anordnung, die Finger durch das biegsame Kleid gleiten lassen, bis tief zu den Daunen und weiter zum Brustbein, unter dem das Herz schlägt, es schlägt mehr als tausend Mal in der Minute. Wenn du eine Feder nimmst und sie gegen das Licht hältst, siehst du Vollkommenheit; die Feder macht das Geschöpf, trägt es durch die Lüfte in die Weite, elegant, in Balance, atemberaubend sicher.
Wir befreien ihn aus dem Netz, sagte mein Vater. Und dann wirst du sehen, das wird wieder, er wird wieder fliegen, warts ab.
Den Vogel, es war eine junge Amsel, holten eine halbe Stunde später die Katzen.
Es war seine Schuld. Er hatte das Netz gespannt. Er hatte das Netz über das Beet gespannt, nicht wegen den Vögeln, sondern wegen den Katzen.
An diesem Tag trank ich das erste Mal Alkohol.
Es war gut.
Viele sagen, der erste Schluck schmecke bitter oder scharf.
Ich mochte es.
Es war der Rest aus dem Glas, das mein Vater auf dem Küchentisch stehen gelassen hatte.
Glatt wie Öl.
Ich fand die Federn am Abend unter einem Holunderbusch.
Mein Vater schüttelte den Kopf.
Nein.
Nein, wiederholte ich und steckte mir eine Feder in die Hosentasche.
Etwas verschmolz an diesem Tag zu einem neuen Element in mir, zwei voneinander getrennte Dinge wurden eins, wurden zu einem Wesenszug, einer Eigenschaft, zu einem bestimmenden Teil meines Charakters: die dunkelbraune, klare Flüssigkeit, so warm in meinen Eingeweiden, die von dort das Gefühl der Benommenheit, der sanften Auflösung in mir entfachte, dann die Berührung der Feder, kaum spürbar, nur ein Hauch, eine ungeahnte Zärtlichkeit, Freiheit versprechend.
Die Sonne brennt heute schon am Vormittag. Doch die Hitze macht mir seit Angola nichts mehr aus. Ich sitze auf der Veranda und lese Annoncen in der Tageszeitung. Das ist alles, was ich im Moment tun kann. Nach drei Malariainfektionen lassen sie mich nicht mehr zurück. Die Verantwortlichen überlegen sich gerade eine neue Position für mich. Sie lassen sich Zeit dabei. Irgendwann werden sie mir ihre Entscheidung mitteilen. Ich kann mir schon vorstellen, was sie vorhaben, doch ich will auf keinen Fall an einem Schreibtisch sitzen.
Mein Vater züchtete in seinen Beeten Kürbisse, nichts anderes. Er wollte die größten Kürbisse der Siedlung züchten. Er befand sich in einem ständigen Wettstreit mit einem Nachbarn. Die letzten Jahre hatte mein Vater den größten Kürbis der Siedlung gezüchtet, und er tat alles dafür, dass es auch so blieb. Er düngte und wässerte und spannte Netze über die Beete, damit die Katzen dort nicht ihren Kot vergraben. Ich habe nie darauf geachtet, auf die Beete und die Netze, bis sich die Amsel darin verfangen hatte.
In Angola habe ich in einem alten Gefängnis gearbeitet, das man zu einem Krankenhaus umgebaut hat. Sie nennen es das Gefängnis des Doktor Igi. Sie sagen, es ist ein gutes Gebäude, denn es hat vier Wände und ein Dach. Dächer sind selten in Mussende. Damals gab es keine vernünftigen Straßen mehr, Straßen, die befahrbar waren. Der Bürgerkrieg dauerte fast dreißig Jahre. Den letzten Rest des Weges zur Klinik mussten wir mit dem Fahrrad bewältigen, es ging nicht anders. Die Tage begannen gleich nach Sonnenaufgang. Wir haben uns im Bach gewaschen und rasiert. Wir haben niemals den Trampelpfad verlassen. Keiner wusste, ob und wo noch Minen liegen. In Angola gibt es viele seltene Vögel. Das mit den Netzen funktioniert überall. Manchmal dauert es etwas. Ich töte sie nicht dabei, das habe ich nie getan. Natürlich sind einige umgekommen, gestorben, doch nicht durch meine Hand. Es ist auch nicht oft vorgekommen. In all den Jahren vielleicht zehn, elf Mal. Ich nehme nur die Feder, eine einzige Feder. Es muss eine schöne Feder sein, mit all den Farben. Ich gebe zu, ich bin nicht alleine wegen der Federn nach Afrika gegangen, sondern vor allem wegen der anderen Sache. Ich dachte, die Entfernung und all das … und ich habe es die meiste Zeit geschafft, aber eben nicht immer. Ich denke, das ist nur menschlich. Ich habe nie betrunken operiert. Nach der ersten Malaria hatte ich mich nicht im Griff, danach wurde es wieder besser.
Wenn man wartet und nichts tun kann, dann trinkt man. So ist das. Ich trinke drei Gläser am Tag, nicht mehr. Mehr erlaube ich mir nicht. Ich habe niemanden, und ich denke, das wird sich auch nicht mehr ändern. Ich werde auch nicht mehr nach Angola zurückkehren. Mir könnte es also egal sein, aber das ist es nicht. Ich warte auf etwas Großes. Ich spanne die Netze so locker es geht. Ich wohne ziemlich weit draußen, und manchmal verirrt sich ein Eichelhäher in die Gegend. Natürlich besitze ich bereits die Federn dieses Vogels, aber wer weiß? Eine Sammlung ist nie beendet.
Romina war sechs Jahre alt. Sie wurde in der Baumsavanne Angolas geboren, noch während des Bürgerkriegs. Die Knochentuberkulose hatte ihre Wirbelsäule angegriffen, sie war unterhalb der Hüfte gelähmt. Sie spürte den Schmerz nicht, als die glühende Holzkohle ihre Beine verbrannte. Sie weinte jedes Mal, wenn ich sie wenden musste, um sie zu versorgen, trotz der starken Medikation. Der Schmerz kam durch die Wunden, die durch das lange Liegen entstanden sind, sie hatten sich bereits bis zum Knochen durchgefressen. In Angola gibt es einen sehr seltenen Vogel, den Vanga, er gehört zur Familie der Brillenwürger. Er wird nur sporadisch gesichtet und man weiß wenig über seine Lebensweise. Erst vor ein paar Jahren gelangen einer Gruppe Forscher die ersten Fotografien. Sein Gefieder ist schwarz, der Körper so grau wie nasses Schiefer, die Schwanzspitzen schneeweiß. Um die Augen besitzt er eine kreisrunde rote Falte, die ihm seinen Namen gibt.
Ich habe ihn aus dem Netz befreit und zwei seiner Federn behalten. Ich hatte das Netz unten am Bach aufgespannt, mitten im Busch. Ich wusste, es war gefährlich, aber ich habe den Boden vorher mit einem Stock nach Minen abgesucht.
Ich habe Romina später gesagt, dass dies die Feder eines sehr seltenen, eines raren Vogels ist, den kaum jemand jemals gesehen habe, dass der Vogel nur wegen ihr gekommen sei und einen Teil von sich dagelassen habe, als ein Versprechen, dass sie bald wieder gesund wird.
Hier im Garten spanne ich meine Netze über Beete, in denen ich nichts anpflanze. Ich züchte keine Kürbisse wie mein Vater. Doch in guter Erde gedeihen Würmer. Man muss warten können, man muss Geduld haben. Mein Vater züchtete zwanzig Jahre lang die größten Kürbisse der Siedlung. Bis der Nachbar starb. Dann zog eine Familie aus der Stadt neben uns ein und die jüngste Tochter zeigte Interesse. Mein Vater brachte ihr alles bei, wie man die Samen richtig anzüchtet, die Pflanzen abhärtet, den Boden vorbereitet. Sie brauchte nur ein paar Wochen. Nach dem Sommer hörte mein Vater mit den Kürbissen auf.
Ein Mädchen, sagte er zu mir. Fast noch ein Kind. Endlich, nach all den Jahren.
Danach ging er nie wieder zu den Beeten. Er blieb alleine in der Küche. Er trank jeden Tag eine halbe Flasche Courvoisier für den Rest seines Lebens.
Ich sagte, ich kümmere mich ab jetzt um die Beete.
Romina starb ein paar Wochen später. Ich weiß nicht, was mit der Feder geschehen ist. Ich lag mit meiner zweiten Malariainfektion in einem Bundeswehrkrankenhaus. Ich hatte die Fieberschübe ignoriert, solange es ging. Sie mussten mich ausfliegen. Sie sagen, dass man wahnsinnig werden kann, wenn man es zu lange unbehandelt lässt. Vielleicht ist es das, was passiert ist.
Gestern hat sich eine Amsel in meinem Netz verfangen. Ich habe sie schon morgens gesehen, vom Küchenfenster aus, aber ich habe noch gewartet. Man muss Geduld haben. Da ist etwas Unschuldiges an ihnen, wenn ich sie aus dem Netz befreie. In diesem Augenblick war es die gleiche Amsel wie damals, als mein Vater die größten Kürbisse der Siedlung gezüchtet hat. Wie wenn man einen dünnen Bleistift zerbricht, so hat es sich angefühlt. Danach bin ich wieder in die Wohnung gegangen und habe mir meine Sammlung angesehen, jede Feder ordentlich hinter kleinen, quadratischen Glasscheiben sortiert, mit Name, Ort und Datum.
Das war das erste Mal, dass ich dachte, es wäre Zeit zu sterben.