Die Fliegen
Martha knipste, etwas genervt, die Nachttischlampe an und weckte Josef, ihren Ehemann – nun, Josef war schon wach, wie sie erkannte. Sie hatten die siebzig Jahre beide bereits überschritten und konnten jedes bisschen Schlaf gebrauchen, bei dem großen Bauernhof, den sie zu führen hatten.
„Die Kühe muhen schon wieder!“, bemerkte Martha. In ihrem faltigen Gesicht zeigten sich nun noch mehr Falten – Sorgenfalten, wahrscheinlich, aber in dem Halbdunkel war das nicht besonders gut zu sehen.
Josef seufzte. „Ich weiß.“, sagte er müde, richtete sich im Bett auf und blickte kurz auf den Wecker. Die Zeiger standen beide etwa senkrecht nach oben. Der Bauer rieb sich den Schlaf aus den Augen. Immerhin ein wenig geschlafen hatte er. Josef verließ mürrisch das warme Bett und begab sich an dem großen Schrank vorbei zur Tür und beobachtete sich dabei noch kurz im Kommodenspiegel. Leise schlich er die Treppe hinab, um nicht seine Tochter, ihren Mann und seinen Enkel zu wecken, wenn sie nicht ohnehin schon wach waren, denn das laute Muhen krachte an das Haus wie eine stürmische Welle an die Kaimauer.
Diese verdammten Viecher!
Josef zog sich seinen grauen Arbeitsmantel an und schlüpfte in seine quietschenden Gummistiefel, um dann durch die Haustür auf den Hof zu eilen.
Als er hinausging, schlug ihm die warme Luft dieser Sommernacht entgegen, als würde er gegen eine Wand laufen – trotz der späten Stunde. Etwas überrascht schnupperte er... und wich wieder ins Haus zurück. Ein scheußlicher Gestank stieg ihm in die Nase, von Verwestem, von Exkrementen, und die Quelle war ganz sicher der Stall, aus dem weiterhin die Kühe brüllten.
Na ja. Wir werden sehen., dachte Josef verwirrt. Er marschierte auf den Stall zu – durch den Mund atmend – und machte an dem außen installierten Schalter das Licht im Stall an, das etwas flackerte und dann ganz ansprang... bis es schließlich ein elektrisches Knistern gab, das von drinnen kam, und dann knallte es und Splitter krachten klirrend auf den Boden. Erschrocken wich Josef wieder zurück und konnte einen überraschten Ruf nicht unterdrücken. Er sammelte seinen ganzen Mut und wollte gerade die Stalltür öffnen, als er die Ohren spitzte. Was war das?
Ein beständiges Summen drang aus dem Stall, wie von Fliegen, aber nicht die paar hundert Fliegen, die sich sonst auch im Stall tummelten. Wie von einer ganzen Millionen Fliegen, und Josef konnte sich die schwarze, undurchsichtige Insektenwand direkt vorstellen, die da möglicherweise im Stall ihr Unwesen trieb, ein wogender, fliegender Ozean, der hin und her schwappte, aber doch nie zu weit auseinander schwirrte, sondern eine mehr oder weniger geschlossene Gruppe bildete...
Ungläubig schüttelte er den Kopf und vertrieb den Gedanken aus seinem Kopf. Etwas hatte die paar hundert Fliegen und die Kühe erschreckt – und zwar sehr erschreckt – und jetzt schwirrten die wenigen Fliegen aufgeregt umher und das hörte sich eben so an, als ob es viel mehr wären... ja, es hörte sich auch nach sehr vielen Kühen an. Was diese Tiere so verängstigt haben konnte, wusste er nicht, wollte es aber gleich herausfinden. Und so betrat er den Stall.
Josef konnte nicht mehr atmen. Ungläubig starrte er um sich, bemüht, alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Die Kühe klangen nun nur noch ganz leise an sein Ohr, denn er konzentrierte sich einzig auf die unzähligen Fliegen, die auf jedem freien Stückchen im Stall und aufeinander saßen, um sich mit den kleinen dürren Beinchen über die Augen zu fahren. Normalerweise wurden die Kühe still, sobald jemand den Stall betrat, aber sie brüllten nach wie vor herum. Und Josef entdeckte den Grund in einer Ecke des Gebäudes: Ein schwarzer Klumpen – eigentlich war der Klumpen rot und fleischig und blutig, die krabbelnden schwarzen Leiber ließen ihn nur schwarz erscheinen, nur hin und wieder schien ein Stück Fleisch durch, ansonsten drängten sich die Fliegen um den Brocken. Josef ging gebückt auf den Fliegenhaufen zu, ständig in dem Glauben, dass die Fliegen, die überall saßen, ihn beobachten und nur darauf warteten, anzugreifen, und sich weiteres Futter zu beschaffen.
Was geht hier vor sich?, fragte er sich immer wieder. Dann sah er die kaputte Halterung, die die Kühe normalerweise daran hinderte, sich von der Stelle zu bewegen. Sie war durchgebissen. Durchgebissen!
Was diese Insekten da abnagten, war wohl seine Kuh Elsa. Die arme Elsa. Mit Tränen in den Augen schlich er auf die tote Kuh zu, die nach wie vor von den kleinen, schwarzen Körpern bedeckt wurde. Die Fliegen, die überall saßen, schienen ihn tatsächlich anzustarren, aber vielleicht irrte er sich auch. Als er etwa auf zwei Meter an die tote Kuh herangerückt war, fuchtelte er wild mit den Armen, um die gefräßigen Insekten zu vertreiben. Und auf diese plötzliche Bewegung schienen die Fliegen überall im Raum nur gewartet zu haben. Nahezu gleichzeitig schwirrten alle los und griffen Josef an.