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Die Flucht
Sie hatte viel Phantasie. Trotzdem hätte sie nie geglaubt, dass so etwas wirklich passieren kann.
Ein Abgang wie in einem schlechten Film. Eben in einer Geschichte, aber nicht im richtigen Leben.
Sie kam gerade zurück. Sie war im Wald um ihre Gedanken zu ordnen. Draußen regnete es.
Sie hatte ihr Diktiergerät dabei.
Sie zog sich Jacke und Schuhe aus, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand setzte sich an den Tisch und überlegte ob sie das Gesprochene anhören sollte.
Sie spulte ein Stück weit zurück.
Nur ein paar Sequenzen.
Sie hörte sich das Gesprochene an.
Nur ein paar Minuten.
Sie spulte wieder weiter vor.
Ihre Blicke schweiften im Raum umher, bis sich schließlich aus der Leere des endlos wirkenden Raumes eine Gestalt herauskristallisierte.
Er steht da.
Mitten im Raum.
Seine Arme um sie geschlungen.
Wortlos.
Er schaut sie endlos in die Länge gezogene Sekunden an. Er versucht etwas zu sagen.
Hält inne.
Versucht es erneut.
Unterbricht sich abermals.
„Sei mir nicht böse, aber ich will nach Hause fahren“.
Er warf die Worte in den Raum.
Der Moment trifft sie wie ein Hammer. Erwartet, nicht wahrhaben wollen und doch real.
„Ich habe es gemerkt“.
Sie schaut ihn an.
Was hat er gemerkt, fragt sie sich.
„Weißt du, ich bin noch nicht so weit für eine Beziehung?“ Ihm bleiben fast die Worte im Hals stecken.
Er tut gerade so als wolle ich ihn Heiraten, schießt es ihr durch den Kopf.
Sie senkt den Blick.
Sie sieht auf seine Hände und sieht, dass er unter einem Druck steht den er nur mit Mühe kompensieren kann. Autoaggressives Verhalten? Die Neigung sich selber zu entschärfen? Die eigenen Krallen stutzen? Angst vor Kontrollverlust?
Sie ist kein Vamp, sie will keinen Besitz, sie will niemanden vereinnahmen. Nach einer erneuten Kaugummi Sekunde redet er weiter.
„Ich wollte dir nicht wehtun, ich wollte nicht spielen“.
Am liebsten würde sie zu ihm sagen, du konntest mir nicht wirklich wehtun. Ich war darauf vorbereitet.
Aber sie sagt nichts. .
Vor ihr türmen sich die Worte: Ich wollte nicht spielen, auf.
Sie wirft sie in ihrem Kopf hin und her. So lange bis sie rund und albern über ihrer Stirn umherzappelten.
„Jetzt habe ich dir doch wehgetan?“
Klar hast du mir wehgetan, denkt sie.
Seine Augen.
Sie schaut lange in seine Augen.
“Nein, du hast mir nicht wehgetan“, erwidert sie.
Äußerlich hatte sie sich im Griff, aber innerlich hatte sie geschrieen.
Sie hatte sich schon zu weit darauf eingelassen. Sie hatte sich eingelassen auf eine Beziehung.
Sie zog das Wort Beziehung so lange, dass es befremdlich wirkte. Unwirklich, unrealistisch, wie ein zu süßer Nachtisch, welcher einem noch nach Stunden zwischen den Zähnen hängt.
Beziehung!
Es klebte ihr förmlich an den Zähnen. Es war fast unmöglich, diesen süßen Geschmack los zu werden.
Sie war sich diesmal so sicher.
Nicht wie die letzte Male.
Man hat zusammen geredet.
Man hat gleich seine Grenzen aufgezeigt.
Sie wollte weder jemanden besitzen, noch besessen werden. Vielleicht wusste sie selber nicht genau was sie wollte, aber eines war ihr sicher, sie wollte jemanden.
Er hatte immer wieder betont was er nicht wollte. Wie sein Leben ausschaut.
Sie hatte ihm zugehört.
Sie hörte wenn er ihr erzählte wie sehr sein Tag ausgefüllt war.
Ihre Tage waren nicht minder ausgefüllt.
Er hatte Angst auf irgendwas verzichten zu müssen.
Die Ziele, das eigene Leben.
Niemand von beiden war bereit etwas aufzugeben.
Für sie keine Frage.
Wieso sollte er auch sein Leben für sie ändern?
Sie hatte nie wirklich Angst gehabt sich auf einen anderen einzulassen.
Trotzdem war sie vorsichtiger geworden. Sie ließ es nicht mehr zu, zu viel von sich Preis zu geben. Einen anderen zu nah an sich heran lassen konnte gefährlich werden.
Dummerweise hatte sie, trotz ihrer Vorsicht angefangen sich zu öffnen. Genug damit er sie verletzen konnte, aber nicht genug um sie aus der Bahn zu werfen.
Beziehung.
Wieder klebte es zwischen den Zähnen.
Etwas woran man sich festhalten konnte, was einen nicht einengte. Vielleicht sollte sie Zähne putzen.
Sie sah in einer Beziehung Freiheit, er Fesseln.
Sie war mit ihm ins Bett gegangen.
Es war guter Sex.
Sie hatte sich hingegeben.
Es war ihr nicht schwer gefallen.
Er war ein erotischer Mann.
Ihre Gedanken schweiften zurück.
Sie ist an dem Tag angelangt, als er sie das erste Mal in seinen Armen hielt.
Zärtlich berühren sie seine Lippen.
Immer weiter lässt sie sich fallen.
Sie wehrt sich nicht als sich seine Hand vorsichtig unter ihren Pullover schiebt. Wie elektrisiert vibriert die Haut an jeder Stelle welche er berührt.
Sie will diesen Mann in diesem Moment. Und sie will mit ihm schlafen. Behutsam schiebt sie nun ihre Hände unter seinen Pullover. Sie zieht sein T-Shirt aus der Jeans und berührt, mit zitternden Fingern seine nackte, samtweiche Haut.
Langsam wurde der Kaffee in der Tasse kalt. Sie kippte ihn ins Spülbecken. Vielleicht sollte sie endlich die Betten abziehen. Sein Geruch hing noch in den Kissen.
Sie stand endlos lange im Schlafzimmer und starrte auf das zerwühlte Bett.
Sie gab sich einen Ruck und riss die Laken von den Matratzen.
Honig süß sind noch die Spuren der letzten Nacht darauf zu sehen. Sie hielt das Laken in der Hand. Vielleicht ist es besser wenn ich es entsorge, dachte sie.
Sie ging an den Küchenschrank, holte eine Plastiktüte heraus und stopfte dass Laken mit der Erinnerung und dem Duft von Karamellbonbons in den Sack.
Neben dem Bett hatte sich ein ungeordneter Haufen Klamotten angesammelt.
Sie bückte sich und begann zu sortieren.
Wieder schweiften ihre Gedanken ab.
Dann sind es seine Hände welche ihr schnell die Kleider vom Leib reißen.
Ohne Worte zu wechseln ziehen sie sich gegenseitig aus.
Schnell!
Alles fällt zu Boden.
So steht er vor ihr.
Nackt!
Wie in Trance betrachtet sie seinen Körper.
Samtbraune Haut.
Weich wie Seide.
Wieder klebte dieser süße Geschmack zwischen ihren Zähnen.
Beziehung!
Sie bekam dieses verflixte Wort nicht aus ihrem Gedächtnis. Je mehr sie darauf herumkaut, desto unwirklicher, unlogischer und fremdartiger kam es ihr vor.
Überall klebte noch sein Duft.
Wie süßer Karamell zog er sich übers Bett, hing am Vorhang, klebte an den Kissen und krallte sich erbarmungslos in ihre Sinne.
Ihr Blick fiel erneut zurück auf das zerwühlte Bett. Sie hatte es immer noch nicht fertig bezogen.
Seine Zahnbürste steht noch im Bad.
Sie überlegte ob es nicht einfacher wäre sie gleich mit der Bettwäsche im Müll zu entsorgen.
Kurzschlussreaktion?
Was konnte die Bettwäsche dazu?
Sie wird sie waschen und irgendwo in einer Ecke im Schrank verstauen. Drinnen schlafen würde sie in der nächsten Zeit nicht mehr.
Wie eine Feder trägt er sie ins Schlafzimmer und legt sie aufs Bett. Seine Nähe hat etwas Vertrautes.
Langsam und tief dringt er in sie ein.
Sie hob den Kissenbezug auf und es entstand sein Gesicht in ihren Händen.
Gestern Abend beim Italiener.
Der letzte Abend!
Sie hatte eigentlich keinen Hunger. Trotzdem bestellt sie sich eine Pizza. Lustlos stochert sie darin herum. Er erzählte ihr, wie seine kommende Woche aussehen wird.
Sie hörte ihm zu.
Dann wechselte er das Thema.
Er bemerkte ihr Desinteresse.
Konnte es nicht richtig einsortieren.
Wollte gehen.
Sie warf das Kissen mit wucht in die Ecke.
Vielleicht ist ein Kissen nicht das richtige wenn man etwas in die Ecke werfen will, dachte sie. Sie ließ alles im Schlafzimmer liegen.
Im Wohnzimmer zündete sie sich eine Zigarette an. Sie hatte in den letzten Tagen zu viel geraucht. Aber jetzt war die Schachtel fast leer, und draußen regnete es immer noch.
Sie ließ noch einmal eine letzte Erinnerung zu, bevor sie ihn aus ihrem Leben und aus ihrer Wohnung verbannte. Diese Erinnerung drehte sie wie einen süßen Karamellbonbon.
Sie schob ihn von der einen auf die andere Seite.
Danach entließ sie die Erinnerung mit ihm in die Ewigkeit.
Ein letztes Mal hatte sie Tränen in den Augen als sie seine Gestalt langsam vor sich zum leben erweckte.
Er steht im Wohnzimmer und hält sie im Arm.
Die Erinnerung schmeckte salzig.
Immer noch hält er sie im Arm.
Die Tränen der Erinnerung trockneten langsam.
Es ist alles gesagt.
Unaufhörlich begannen die Farben zu verblassen.
Er wird gehen.
Sie wird bleiben
Warum steht er noch hier rum?
„Am besten verschwindest du gleich“. Sie schaut ihn an. „Ich mag keine theatralischen Abschiedszenen, das ist nicht mein Ding“.
Er nickt und sucht seine Sachen zusammen.
„Soll ich dir noch einen Kaffee für die Fahrt kochen?“
„Danke, dass wäre nett“.
Er zieht seine Jacke an, nimmt seinen Koffer, seine Thermoskanne und verlässt ihre Wohnung.
„Ich ruf dich an wenn ich zuhause bin“.
Was soll diese Farce? Denkt sie und sagt: „Ja, aber lass es lange klingeln“.
„Wenn nicht, dann werde ich dir eine SMS schicken“.
Er muss weder anrufen noch mir eine Nachricht schicken, denkt sie, es interessiert mich im Moment nicht. Trotzdem sagt sie:
„Mir wäre es lieber wenn du anrufst“.
Dann schließt sie die Türe hinter ihm.
Sie schaut ihm nicht nach.
Sie schließt einfach nur die Türe.
So wie den Deckel eines Buches wenn nach dem letzten Satz in einigem Abstand das Wort „ENDE“ steht
Kurze Zeit steht sie noch da. Sie steht im Zimmer als ob sie nicht hier hin gehörte. Dann schenkte sie sich ein Glas Sekt ein. Legt Musik auf und raucht in aller Ruhe eine Zigarette.
Langsam, ganz vorsichtig zieht sie den Stecker vom Telefon aus der Wand.