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Die Flut
Dieser Regen will nicht aufhören. Die Wolke über mir bricht zusammen. Keiner fängt sie auf. Stürzt einfach runter. Ich steh auf dem Balkon, lass es mir gefallen. Bin im Pyjama. Warte auf das Bad. Sie duscht zu lange. Es kratzt mich am Nacken. Ich lass es kratzen. Nie kratzen, wenn es juckt, hat sie mir mal gesagt. Wenn du kratzt, machst du`s noch schlimmer. Aus dem Bad das Radio. Zu laut. Wenn sie denkt: was Wichtiges!, macht sie`s zu laut.
„Die Lage hat sich verschärft. In weiten Teilen Deutschlands, Österreichs und der Tschechischen Republik herrscht Ausnahmezustand. Bisher starben mindestens fünfzehn Menschen, neun werden derzeit allein in Deutschland vermisst. Zigtausende mussten ihre Häuser verlassen, viele haben alles verloren. Zum Teil sind es die schlimmsten Hochwasser seit mehr als hundert Jahren. Schauen wir zuerst nach Sachsen: hier hat die Elbe die Landeshauptstadt Dresden unter Wasser gesetzt. Und Teile von Glashütte sind nach einem Dammbruch von der Außenwelt komplett abgeschnitten.“
„Spielst du mit mir?“ hat der Zwerg immer gerufen. Hat meine Finger umfasst. Ich ließ ihn daran ziehen. Hab gegrinst. „Spielen!“ hat er gerufen. „Eisenbahn!“
„Heut nicht, mein Süßer“, flüstere ich. „Heut ist alles anders.“
Ich gehe am Gemälde vorbei, das ihre Eltern geschenkt haben. Wertvoll, sie hatten keine Verwendung dafür. Haben wir die denn? Ein berühmter Künstler. Ich suche mir einen Punkt darauf und sehe ihn an. Betrachte den Elch, der Anlauf nimmt, ein Wiesel zu fangen. Dynamik, so nennen die das doch. Es ist Dynamik drin. Und was noch? Hergottverdammtnochmal was noch? Ich gehe am Kocher vorbei, am Herd, überlege, ob ich mir einen Kaffee machen soll. Würde der mich aufwühlen? Oder stillen? Meine Wut stillen? Habe ich die überhaupt? Ich mach den Kühlschrank auf und wieder zu. Drei, viermal. Das Eis. Halte es mitsamt der Schale vor meine Stirn. Und schnaufe. Und schnaufe. Schließ die Augen. Aus dem Kinderzimmer der Kleine. Als sei er noch da. Bei seinen Holzschienen. Ich lehne an seiner Tür. Er kniet in meinem Kopf, spielt mit der Lok. „Der Waggon ist im Ententeich“, verkündet er. „Ziehst Du ihn raus?“
„Ich versuch`s ja, mein Kleiner. Ist nicht so leicht.“
Ich wende mich um und gehe ins Bad. Sie steht vor dem Spiegel. Betrachtet sich, als wüsste sie es. Das Radio läuft.
„Fünfzigtausend Kubikmeter Wasser. Als die Dämme des Rückhaltebeckens der Müglitz nicht mehr halten, als die Fluten losbrechen, da hat Glashütte keine Chance mehr. Autos wie Spielzeuge weggerissen, Laternenmasten, Bäume, umgeknickt wie Streichhölzer. Den ganzen Tag über hatte es in Glashütte geregnet. Die Flut selber dauerte eine gute halbe Stunde, eine Katastrophe, mit der hier niemand gerechnet hat. Kurzes Sirenengeheul gab es noch und Lautsprecherdurchsagen, die Wohnung nicht zu verlassen.“
Die Zahnpastatube liegt am Boden. Ich will sie aufheben, doch sie ist schneller. Unsere Fingerspitzen berühren sich. Mehr nicht. Sie lächelt. Als wüsste sie`s. Ich lächle zurück. Stehe hinter ihr, betrachte ihr Gesicht im Spiegel. Sie riecht nicht gut, obwohl sie geduscht hat. Ihr Haar türmt sich, als hätte sie von einem Orkan geträumt. Die Augen, so matt. Die Nase hängt runter und auch ihre Lippen. Ihr Gesicht: ohne Ausdruck. Steif, gedankenlos. Ich schaue auf meins. Einfach nur leer. „Ist was?“ fragt sie. Wir sehen uns an, durch uns hindurch. Nichts als geputzter Spiegel. Sie klebt Zahnpasta auf die Bürste. Ich schaue ihr zu. Sie klebt langsam, um nichts zu verpassen. Ich schaue auf den Bürstenkopf.
„O-Ton Frau: Telefone, alle tot, kein Strom da, Handynetze zusammengebrochen, weiß nicht wie es meinen Kollegen geht, meinen Freunden...
O-Ton Mann: Mich hat fast der Schlag getroffen, also. Kein Strom, gar nischt. Grauenvoll, wenn ich mir das angucke, irgendwie, wie ne Wüste...“
Der Bruchteil eines Augenblicks, als wäre davor nichts gewesen. Sie gurgelt noch. Sonst nichts. Bei uns beiden nichts. Nur beim Zwerg im Spiegel. In meinem Kopf. Er schaut. Weiß nicht, wie er blicken soll. Tut´s einfach.
Er flüstert: „Warum hast du mich allein gelassen?“
Ich geh ins Spielzimmer. Man kann die Ruhe mit den Fingern fassen. Nur das Radio im Bad. Ich denke: Das bisschen Tod. Setz mich an den Rand seines Bettchens. Auf dem Fußboden das Bild, das er gemalt hat. Das letzte vor der Flut. Eine Sonne. Drei schwarze Menschen. Versuche zu lächeln. Vielleicht wäre ein Künstler aus ihm geworden.
„Der Tag danach in Glashütte. Zerstörung wie nach einem Krieg. Zerstörte Autos, weggerissene Straßen. Und das sind nur die Randgebiete. Das Zentrum selbst: auch heute nicht erreichbar. Doch es ist nicht die einzige Krisenregion in Sachsen. Pockau im Erzgebirge: Ganze Häuser haben die völlig außer Rand und Band geratenen Flüsse weggerissen. Möbel treiben frei durch die gute Stube. Wer nur Wasser im Keller hat, der kann noch von Glück reden. Die Einwohner werden jetzt von Hilfstrupps versorgt, Brot und Erbsensuppe per Schlauchboot. Den Dresdner Raum und das Erzgebirge hat es besonders schlimm getroffen. Dreißigtauend Menschen werden hier evakuiert. In Dresden Katastrophenalarm. Die Elbe führt jetzt sieben statt drei Meter Wasser. Siebzigtausend Telefonleitungen sind tot. Der Bahnhof steht unter Wasser. Katastrophenarlarm. Aus dem Krankenhaus Friedrichstadt werden die Patienten evakuiert, ebenso im benachbarten Freital. Dort ist die Talsperrung übergelaufen. Das Wasser schwappt bereits durch die Kliniktür. Und obwohl das Wasser überall ist: jetzt wird auch noch sauberes Trinkwasser knapp. Abkochen, raten die Behörden. Sachsen im Chaos. Es ist die größte Naturkatastrophe in der Geschichte des Landes.“
Wasser klatscht ans Fenster. Ich öffne es, lass Tropfen gegen Gesicht und Pyjama knallen. Versuche, meine Augen zu schliessen. Sie lassen es nicht zu. Versuche, zu schreien. Ich lasse es nicht zu. Streichle den Sims. Tropfen kitzeln meinen Nacken, es kribbelt und juckt. Meine Hand stützt sich auf den kalten Stein. Aus dem Bad das Radio. Der aufgedrehte Wannenhahn. Dampft zu mir ins Kinderzimmer.
„Und in Dresden ist jetzt zugeschaltet mein Kollege Mark Rücksen: Mark, es sind die schlimmsten Unwasser seit einhundertsechzig Jahren. Die halbe Stadt steht bereits unter Wasser, und jetzt ist auch noch der berühmte Zwinger gefährdet. Aber die Pegel der Elbe sollen weiter steigen, was wird denn erwartet?“
Ich rutsche aus auf einem Spielzeugauto. Scheiße. Lande auf dem Teppich. Dem mit Straßen, Häusern und Wäldern. Denke kurz: Ist der Zwerg wirklich weg? Rapple mich auf. Immer weiter. Der Dampf im Bad. Sie ist nicht mehr da. Endlich frei. Verbrenne den kleinen Finger, den ich unter den Strahl halte. Tut gut. Ohja, tut gut.
„Rücksen: Also die ganze Dramatik ist hier noch gar nicht klar, denn in den nächsten Stunden kann der Pegel um 1,50 m, sogar 2 m steigen...“
Soll ich nackt in die Wanne? Ich stelle den Fuß hinein. Es kribbelt, dampft, es schmerzt. Ein Messer, das meinen Fuß abscharbt. Die Haut pellt, lass den Körper nachplumpsen. Ich schwimme, der Pyjama bläht sich. Ich löse Knöpfe und versinke.
„... Die Flüsse können einfach diese ganzen Wassermassen, dieses ganze Geröll überhaupt nicht mehr aufnehmen, die Flüsse sind einfach so vollgesogen, die Wasserbetten, die Straßen, da droht hier wirklich eine Katastrophe...“
Das Wasser sticht. Nebelt ein. Mein Kopf sinkt in Matsch, der sich Wasser nennt. Es quält, dampft, es brennt. Mein Scheiterhaufen, so nass. Starr auf meine Hand, die ich hebe, rot, himbeergeleefurchtbar rot, ich lache, wie das Gesicht wohl ausssehen muss, so heiß, es tut weh, endlich mal weh, es wird mich fressen wie einen Balg, der ertrunken ist, den es abstößt, im Kot wabern lässt. Im brühenden Kot. Ich tauche. Es ist soweit.
„...Man muss abwarten, was hier in den nächsten Stunden passiert. Experten sagen, das sind wirklich die höchsten Pegelstände seit 1845, ja, und als Folge davon müssen wahrscheinlich noch weitere Talsperren aufgemacht werden, dann kommen hier noch einmal mehr Wassermassen...“
Die Flut greift über den Rand, über den Zwerg in meinem Kopf, sehe, wie sie ihn bringen, eine nasse Puppe, wie nie gelebt. Meine Augen beginnen zu platzen, Lachen wird zum Falsett, Schlieren heller, Hass, Atmung lauter, hör sie in meinen Gedärmen, die explodieren. Ihre Schreie, so dumpf im Trommelfell von Flut und Flammen, muss es doch einfach nur nicht überleben, dann ein Knall und noch einer, ein Windhauch der Tür, Kopf zerspringt, Herz im Feuer, bald hast Du`s geschafft.
„...Es gibt Zuflüsse aus dem Erzgebirge, aus Tschechien, also wenn sich das bewahrheitet, was hier in den nächsten Stunden noch befürchtet wird, dann wird hier aus dem Wetter- und Flutenchaos wahrscheinlich ein reines Flutengau...“
Sie kniet über mir, in der anderen Welt. Der Nichtwasserwelt. Wabernd, unscharf, nicht vorhanden. Ich lächle. Lasse die Flut in meine Zunge rinnen: „Gib ihn mir zurück!“