DIE FOTOGRAFIN und der Mord am Pier
Es war bereits später Abend. Die Dunkelheit hatte sich längst herabgesenkt, als eine Frau am Pier 59 von Schatten zu Schatten wanderte. Das Hafengelände war spärlich beleuchtet. Liebespaare hätten es romantisch gefunden, einsame Wanderer hätten es bedrückend empfunden. Die Frau im Schatten hielt eine Kamera in ihren Händen. Für sie war dieser Ort magisch und inspirierend.
Abwartend hielt sie Ausschau, während das Wasser ruhig, aber trotzig gegen künstlich erbaute Mauern schlug, immer und immer wieder. Plötzlich drangen von irgendwoher aufgeregte Stimmen, die sich mit nächtlichen Geräuschen mischten. Worte konnten nicht verstanden werden, noch nicht, doch die Stimmen wurden lauter, sie kamen näher. Vorfreude spiegelte sich auf dem Gesicht der Fotografin, als sie ihr Versteck verließ, um ein besseres zu finden. Dann traten eine Frau und ein Mann ins Licht. Sie stritten sich. Das erste Foto wurde geschossen.
«Was hast du dir dabei gedacht», schrie die Fremde den Fremden an, «du hättest ihn töten können.»
«So war es ja auch gedacht.»
«War es nicht, du Trottel. Du solltest ihm Angst einjagen, ihm mit ein paar Schlägen auf die Sprünge helfen.» Sie fluchte: «Du bist echt zu nichts zu gebrauchen.»
«Pass auf, was du sagst», drohte er, «du sprichst hier nicht mit einem deiner Spielzeuge.»
«Dann benimm dich auch nicht wie sie», erwiderte die Unbekannte und drehte ihm den Rücken zu.
Die Fotografin sah, im Gegensatz zu dem Pärchen, wie ein weiterer Mann ins Bild trat. Er schwankte ein wenig und ging leicht gebückt. Er hinterließ eine Spur, wahrscheinlich aus Blut. Er war verletzt, doch sein Gesicht war verzerrt von Hass. Mit der linken Hand hielt er sich den Bauch.
«Du Miststück», flüsterte er so leise, dass der Wind die Worte fast verschluckte, dann kam seine rechte Hand zum Vorschein. Er hielt eine Pistole darin, die auf die fremde Frau zeigte, die nun, wie auch ihr Begleiter den Angreifer bemerkten. Erschrocken rissen beide die Augen auf. Ein Schuss fiel. Unerwartet stürzte sich der Mann ins Schussfeld. Er fing die für die Frau bestimmte Kugel mit seinem Brustkorb ab und sank getroffen zu Boden. Sie hatte sich wieder gefasst, bückte sich zu dem Toten, griff unter seine Jacke und nun ebenfalls bewaffnet zielte sie geübt und traf den Blutenden punktgenau am Kopf. Wie ein gefällter Baum fiel der stattliche Mann und war tot. Im Schatten erklangen die leisen Geräusche des Fotoapparats. Die Überlebende wischte seelenruhig die Waffe ab, steckte sie in die Hand des früheren Partners, murmelte noch ein paar Worte des Bedauerns, stand auf und ging. Die Frau im Schatten schoss das letzte Foto, nahm anschließend ihr Handy zur Hand, rief die 110 an, meldete mit verstellter Stimme einen Mord am Pier, legte auf und verschwand ebenfalls.
Gegen Mitternacht erreichte die Fotografin ihr zu Hause, eine kleine Bruchbude, am Rand der Stadt. Sie war nicht schockiert, war nicht verwirrt, obwohl sie einen Mord gesehen hatte. Sie war ganz und gar nicht außer Rand und Band. Sie war ruhig, irgendwie wirkte sie sogar zufrieden, als sie ihre Schlüssel fand und hinter sich die Haustür schloss. Auf den ersten Blick schien ihre Wohnung aus einem totalen Chaos zu bestehen, überall lagen Zeitschriften, Bücher und Papierstapel herum, doch dann erkannte man die ungewöhnliche Ordnung, die hinter allem stand. Sie besaß 3 Zimmer, eines zum Wohnen, das sie zum Schlafen benutzte. Eine Matratze lag auf dem Boden, eine Decke ohne Bezug lag darauf. Schwarze Laken verbargen den Blick nach draußen. Ein weiterer Raum war als Abstellraum gedacht gewesen, wurde nun als Dunkelkammer verwendet. Rotes Licht beleuchtete grausam faszinierende Bilder, die an Wäscheklammern auf der Leine hingen. Das letzte Zimmer war am seltsamsten anzuschauen. Die längste Wand, war bis auf 3 kleine Stellen mit Fotos übersäht. Ihre Motive, das was sie zeigten ließ jedem Normalen einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Weinende und schreiende Frauen und Kinder starrten ins Bild. Menschen lagen in ihrem eigenen Blut. Man sah wie sie starben, es schien fast, als könnte man hören, was sie gerade in diesem Moment sagten und dachten. Hasserfüllte und leidende Blicke, soweit das Auge reichte.
An der einen Wand, die daran grenzte hing nichts. Sie war schneeweiß und leer. Vor der anderen Wand stand ein ebenfalls sehr altes Bücherregal, doch die wenigen Bücher darin waren neu, eingebunden in glänzende Umschläge. Auf ihrem Rücken prangte stets der gleiche Name: Christine Bordeaux. In der Mitte des Zimmers stand ein alter geräumiger Schreibtisch aus Eichenholz. Unter der Last der vielen Papiere und Bücher erblühte seine Gestalt. Sie unterstrichen seinen Sinn und seinen Platz in diesem Raum. Er war sicher so schwer, dass eine zierliche Frau wie sie ihn niemals von der Stelle hätte bewegen können und die dunkle wilde Maserung seines Holzes stand im Einklang mit den Fotos an der Wand.
Die Frau ging in die Dunkelkammer und machte sich daran, die neuesten Fotos zu entwickeln. Nach nur einer halben Stunde entfernte sie die schon älteren von der Leine und hängte die neuen zum Trocknen auf. Dann ging sie in ihr Gruselzimmer, stellte sich vor die Bilderwand und füllte die letzten 3 Lücken. Es waren Fotos von zwei alten Menschen. Die Frau lag mit vom Tod und Schmerz verzerrtem Blick still auf ihrem Bett. Ihre Augen starrten ins Nichts. Ein alter Mann weinte verzweifelt um sie und hielt ihre Hand. Auf dem nächsten Bild schien sein Körper total verkrampft, auf dem letzten lag er über seiner Frau gebeugt, mit dem Gesicht zwischen ihren schlaffen Brüsten.
Zwei Menschen am Ende ihres Weges im Tode vereint.
Aus einer Schublade des Schreibtisches holte die Frau einen Laptop hervor. Dann setzte sie sich hin und schrieb, noch viel länger als die Nacht andauerte. Hin und wieder stand sie kurz auf, um nach den Fotos zu schauen und am nächsten Tag ging sie in einen Supermarkt, um drei verschieden große Rahmen zu kaufen. Die entwickelten Bilder rahmte sie anschließend ein und hing sie an die leere Wand. Noch zwei Tage lang schrieb sie weiter, ohne allzu viel zu schlafen. Am dritten Tag rief sie den Sperrmüll an, sie stellte ihre Matratze und ihre Decke an die Strasse, entsorgte Papier und schickte zwei große Kartons mit Büchern an eine Adresse in Trier. Dann druckte sie die frisch geschriebene Geschichte aus. Auf dem Titelblatt stand:
Christine Bordeaux
Der Mord am Pier
Sie verstaute die Geschichte in einem großen und bereits gut gefülltem Rucksack, von ihrem Hals baumelte der Fotoapparat. Dann schulterte sie ihre Habseligkeiten, blickte noch einmal zu ihrer Fotowand und verließ den Raum. Auf dem Boden im Wohn- bzw. Schlafzimmer hinterlegte sie ihrem Vermieter einen Briefumschlag. Sie ging zur Haustür, machte sie auf, schloss sie hinter sich zu und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Kurz darauf erschien ein Taxi, sie setzte sich rein und fuhr fort. Christine blickte nicht einmal zurück.