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Die Frau am Straßenrand
Diese ganzen philosophischen Fragen nach dem Sinn des Lebens, ich will sie endlich rauswerfen. Runterspülen wie eine Fliege, umschalten wie einen schlechten Film, abwählen wie ein unbeliebtes Fach, ausdrücken wie einen ekligen Pickel auf der Stirn.
Warum lebe ich, was kommt nach dem Tod, habe ich Angst vor dem Tod? Das auf jeden Fall nicht. Tot hätte ich es besser als hier. Ein heruntergekommenes Kaff. Selbst eine vergewaltigte junge Frau wirkt hier noch edel. Eine am Straßenrand liegende Frau. Getrocknete Tränen auf ihren Wangen. Ihren Schlüpfer noch zwischen den Beinen. Gefesselt und geknebelt. Selbst eine dreckige, vergewaltigte, elendige Frau wirkt in dieser Ansammlung an Ekel noch schön.
Warum lebe ich? Ein Gedanke zur Antwort. Ich sehe ihn! Da, da ist er! Ah, verdammt. Wieder nur ein geschmackloser Vergleich zwischen etwas makabren und diesen tristen Leben. Eine Antwort.
NEIN! Ich will diese ganzen philosophischen Fragen nach dem Sinn des Lebens doch loswerden! Weg! Na los, verschwindet! Ich habe wichtigere Probleme. Zum Beispiel diese vergewaltigte, geknebelt und gefesselte Frau am Straßenrand, die nur angeguckt wird. Alle gucken, und alle gucken weg. Auch ich. Ich gehe die Straße entlang, ärgere mich über mein Problem und stelle einen ekelhaften Vergleich zwischen Stadt und Mensch dar. Zwischen Recht und Unrecht. Zwischen Kaff und Opfer.
Ich gehe die Straße entlang und sehe diese Frau. Ich sehe ihr verträntes Gesicht, ihre gefesselten Hände, ihre kaputten Fingernägel, ihren Schlüpfer zwischen den Kniekehlen, das getrocknete Ejakulat an ihren Schamlippen. Ich sehe all dieses Elend, ihren flehenden Blick, und gehe weiter. Ich tue das was alle tun. Nichts. Ich akzeptiere, dass das Stadtleben grausam und ekelhaft ist.
Diese ganzen philosophischen Fragen treiben mich in den Wahnsinn. Oder treibt der Wahnsinn mich in diese Fragen? Mein Gehirn sagt mir: Knödel. Tolle Hilfe. Es geht nicht mehr. Ich gehe die Straße entlang, übersehe eine vergewaltigte Frau und erreiche langsam den Bahnsteig. Der abscheuliche Geruch aus Urin und Vodka steigt in meine Nase. Ich gehe die Treppe hinauf, übersteige eine Stufe mit gelb-grünem Erbrochenem und spüre die ersten Böen. Ein kühler Wind weht durch meine Haare. Ich richte meine Frisur und meine Krawatte. Noch 4 Minuten. Ich stelle meinen Aktenkoffer ab und knöpfe meinen schwarzen Fließmantel zu. Ich sehe auf das gegenüberliegende Bahngleis und beobachte eine Katze wie sie versucht eine Heroinspritze beschnuppert. Pieks. Gute Nacht Katze. Du wirst wohl nicht mehr lange leben. Du Glückliche. Ihr quieken gleicht dem Kastrieren eines Eichhörchens. Interessanter Vergleich. Danke Gehirn. Ein kühler Wind weht durch meine Haare. Die Katze verschwindet.
Der Wahnsinn treibt mich in diese ganzen philosophischen Fragen. Da kommt mein Zug. Er ist auf der Durchreise. Ein IC von Hamburg nach Basel. Nächster Halt: Hannover. Ich stehe auf dem Bahnsteig in Langenhagen und nehme meinen Aktenkoffer in die Hand. Der Zug hält nicht in Langenhagen. Doch er bringt mich an mein Ziel. Ich gehe langsam nach vorne. Ich stehe jetzt genau an der Bahnsteigkante. Ich denke ein letztes Mal an die vergewaltigte Frau am Straßenrand. Ein kühler Wind weht durch meine Haare. Ich richte meine Frisur und meine Krawatte und springe.
Diese ganzen philosophischen Fragen haben mich in den Wahnsinn getrieben.