Die Frau mit dem schwarzen Hütchen
Soll ich einen Minirock oder eine Jeans anziehen? Passt mein Lieblingsoberteil dazu? Ach du liebe Zeit, schon zwanzig vor und der Zug fährt um acht Uhr! Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und fahre los. Die kalte Winterluft schneidet mir beinahe den Atem ab. Mit eisigen Fingern suche ich verzweifelt nach meinem Schlüssel, aber ich finde ihn nirgends. Ich lasse mein Velo unabgeschlossen stehen und eile die Unterführung hinunter. Am Anzeigebildschirm suche ich meinen Zug. Gleis 1. Wo ist das schon wieder? Bei dieser Bauerei kann man sich überhaupt nicht mehr orientieren. Ich gehe die Rampe hoch, drücke den Knopf zum Öffnen der Zugstür, und in diesem Moment spüre ich, wie der Knopf langsam unter meinem Finger wegfährt.
Hinter mir kommt ein junger Mann die Rampe hoch. „Und? Auch den Zug verpasst?“ „Genau. Hätte mich gar nicht so beeilen müssen. War schon vorprogrammiert, dass ich ihn verpassen werde.“ Ich wende mich von ihm ab und setze mich auf eine Bank, nehme das Handy aus der Tasche und schreibe eine SMS. Der nächste Zug kommt an und ich steige ein. Vor meinem inneren Auge erscheint plötzlich ein Bild von einem jungen Mann, der eine schwarze Winterjacke mit vier Knöpfen trägt, um den Hals einen grauen Schal gewickelt und auf dem Gesicht ein freundliches Lächeln. Seine Haare sind lockig und braun, wobei sie fast golden wirken. Als ich ankomme, treffe ich meine Freundinnen und wir machen uns gemeinsam auf den Weg in die Disco. Es ist ein toller Abend, obwohl etwas merkwürdig ist: In der Menge der jungen Leute sichte ich eine alte Dame. Kann das wirklich sein? Doch, ein Buckel und ein schwarzes, neckisches Hütchen, unter dem sich weisses Haar befindet, das ist ein Zeichen für eine alte Frau. Was macht die denn hier?
Ich sitze im 7:00 Zug, der prall gefüllt ist mit Schülern, Studenten und sonstigen Pendlern. …in China ist eine Tankstelle unter dem Gewicht des Schnees zusammengebrochen…Mann erstach seine Frau im Schlaf… Knut feiert seinen dritten Geburtstag... Mann ist in den Bärengraben gefallen… Ich schaue auf und da sitzt ein Mann vis-a-vis. Er trägt eine schwarze Winterjacke mit vier Knöpfen und seine Haare wirken im Licht fast golden. Ich muss viele Male blinzeln, um sicher zu sein, dass ich nicht träume, aber ich täusche mich nicht. Es ist jener junge Herr, auf den ich schon lange warte. Er steht auf und sagt mit einem verschmitzten Lächeln „Tschüss“. Diese Szene bleibt mir noch lange in Erinnerung. Am Abend desselben Tages sehe ich ihn wieder. Er kommt auf mich zu und fragt mich: “Du, ich habe kein Geld für das Billett. Könntest du mir welches leihen? Wenn du mir deine Adresse gibst, schicke ich es dir zurück. Ich bin übrigens Sebastian.“ Ohne zu überlegen gebe ich ihm das Geld und die Adresse.
Jeden Tag warte ich gespannt auf einen Brief. Immer wenn ich das Türchen des Briefkastens öffne, flattern Schmetterlinge in meinem Bauch. Heute ist es soweit. Unter einem Stapel Werbung befindet sich ein Brief mit einer geschwungenen Handschrift. In aller Eile öffne ich den Umschlag und zum Vorschein kommt schneeweisses Briefpapier. Ich lese den Brief mindestens dreimal durch, denn hier steht, Sebastian will sich mit mir verabreden.
Es ist ein kalter Wintermorgen. Die Strassen sind vereist und ich bin schon den ganzen Morgen aufgeregt. Man könnte meinen, es komme schneien. Eine halbe Stunde vorher rufe ich meine beste Freundin an. Sie beruhigt mich und als ich mit Sebastian im Kaffee sitze, fühle ich mich sehr glücklich. Ich wünsche mir, dieser Moment möge mein ganzes Leben dauern. Er ist ein so netter und liebevoller Kerl. Wir treffen uns noch viele Male und beschliessen, dass wir zusammen bleiben.
Es ist Donnerstagabend und ich bin bei Sebastian zuhause. „Wie sah sie aus?“ „Sie war ziemlich klein. An den starken Buckel und an ihr neckisches, schwarzes Hütchen kann ich mich noch gut erinnern. Sie war die einzige Alte. Und weisses Haar hatte sie auch, wie alle Alten...“ „Ich glaube, ich kenne die Frau. Hast du sie schon oft in einer Disco gesehen“ „Nein, das war das erste Mal.“ Nach dem Essen wieder auf dem Sofa sitzend, beginne ich das Gespräch von neuem: „Du kennst sie?“ „Ich glaube zu wissen, wer sie ist.“ „Und? Wer denn? Hast du sie auch schon im Ausgang gesehen?“ „Nein, aber ich weiss, weshalb sie so ist. Vor zwei Jahren war das noch nicht so. Sie ist heute sehr einsam. Sie möchte noch einmal jung sein. Sie hatte eine schwierige Kindheit und Jugend. Aufgewachsen war sie auf einem Bauernhof. Immer musste sie arbeiten, kaum dass sie gehen konnte. Entweder im Stall, auf dem Acker oder in der Küche. Wenn sie es nicht so machte, wie man es ihr sagte, wurde sie geschlagen. Als sie die Schule beendete, hiess es zu Hause: Eine Schneiderin haben wir noch nicht in der Familie. Und so wurde sie Schneiderin. Sie wäre aber viel lieber Hebamme geworden. Die Fähigkeiten dazu hatte sie bestimmt, doch wenn der Vater etwas sagte, dann musste man das machen. Auch in ihrer Lehre arbeitete sie die ganze Zeit. Schon mit 18 wurde sie schwanger und musste heiraten. Deshalb hatte sie keine Zeit mehr, ihre angefangene Lehre zu beenden. Seit dem war sie Hausfrau. Das Leben machte ihr zunehmend keinen Spass mehr. Jeden Tag war es eine Qual aufzustehen. Zudem litt sie sehr unter ihrem Mann. Jeden Tag musste sie für ihn kochen, putzen und waschen. Am Morgen stand er auf, um 12:00 erwartete er das Mittagessen, dann machte er ein Nickerchen. Wenn ihn dabei jemand störte, war der Teufel los. Um 13:30 ging er wieder zur Arbeit, um 18:00 kam er heim und erwartete das Abendbrot auf dem Tisch, anschliessend setzte er sich vor den Fernseher und ging um 21:30 ins Bett. Die Frau wurde wie eine Haushaltsangestellte behandelt. Als der Mann vor zwei Jahren starb, dachte sich seine Frau: So und jetzt lebe ich mein Leben Ich gehe da hin wo ich will, ich stehe dann auf, wenn ich mag, und ich mache das, was mir gefällt. Eigentlich trauert die Frau ihrer Kindheit und den Jugendjahren nach. Sie möchte noch einmal jung sein, einmal richtige Liebe erleben, fühlen, wie es ist, frei zu sein, einmal tanzen, hübsche Kleider tragen, und was man als junge Frau alles macht. Das hatte sie alles verpasst.“
Ich setze mich in den Zug und bin ganz in meinen Gedanken versunken. Als ich überlege, wird mir bewusst, dass ich eigentlich noch immer nicht weiss, woher Sebastian die alte Frau mit dem neckischen, schwarzen Hütchen kennt.