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Die Frau vom Tisch hinten links
Die Sonne ging schon unter, so langsam musste ich mich wirklich beeilen. Es war noch ein gutes Stück bis zu dem alten Rangierbahnhof vor der Stadt, und ich hatte den Weg zu Fuß zurückzulegen. Vor ein paar Jahren noch hätte ich mich ganz einfach auf die mir eigentümliche Art an den Highway gestellt, und den Daumen so lang in den Wind gehalten, bis irgendein redseliger Farmer oder eine einsame Witwe ein Einsehen hatten und mich ein Stück des Weges mitnahmen. Doch das hatte ich hinter mir, denn wer nimmt schon einen alten, ausgelaugten, drittklassigen Musiker mit, dessen Falten im Gesicht mittlerweile so tief waren, dass selbst die einsamste Witwe bei diesem Anblick den Fuß lieber noch etwas kräftiger auf das Gaspedal drückte.
Es war das Crack, das mich der Lichtung am Ende des Pfades Stück für Stück näher brachte. Crack war schon lang nicht mehr angesagt, und die Zeiten, in denen das Zeug für jeden Troubadour an jeder x-beliebigen Straßenecke obligatorisch war, waren Geschichte. Aber ich kam nicht davon los, wie von so vielen Sachen in meinem Leben. In den 60ern hatte Bob Dylan den Beatles gezeigt, wie man mit dem ein oder anderen Mittelchen ungeglaubte musikalische Höhen erreichen konnte. Bei mir hatte sich ein Mann namens Rubin Xavier diese Aufgabe gestellt, ein mexikanischer Drogendealer, wobei der große Erfolg allerdings bis heute auf sich warten lies. Ich hatte Rubin seit Ewigkeiten nicht gesehen, wahrscheinlich schwebte er mittlerweile längst selbst mit Lucy in the sky with diamonds. Rubins Crack hatte in jedem Falle seine Spuren bei mir hinterlassen, nur leider nicht auf die Art, wie ich es mir erhofft hatte. Ich blickte immerzu in meine Zukunft, wie es denn wäre, wenn ich eines Tages mal alt und gebrechlich auf meinem Schaukelstuhl sitze, gezeichnet vom Leben – von einem Leben, das niemals einfach war. Von einem Leben, das ich gelebt hatte, das nur ich leben konnte, und das niemand anderes je vor mir gelebt hatte. Erst, wenn man mir das ansieht, so träumte ich, würde ich meine Songs so unverkennbar und authentisch rüberbringen können, dass selbst dem konservativsten Banker die Tränen kommen müssten. Es kam natürlich ganz anders, mit jedem grauen Haar mehr auf meinem Kopf wurden die Gagen geringer, das Publikum kleiner, die Bars schmutziger. Doch das Crack war eben nicht meine einzige Sucht, es war auch dieser way of life, der mich fest in seinem Bann hielt. Dieses Leben machte mich nicht reich und angesehen, und es machte mir noch nicht mal immer Freude, und dennoch hielt ich mich immer an diesem alten Carter Family Song fest, der mir jedes Mal aufs Neue sagte, dass das alles ja auch irgendwie genau so und nicht anders sein müsse: It takes a worried man to sing a worried song.
Und da war ich nun, mit meinem schmutzigsten sauberen Hemd und der kaputten Steelstring auf dem Rücken, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte. Das Trainhopping war nicht mehr ganz so einfach wie in den alten Tagen, und es grenzte schon an ein Wunder Gottes, wenn ich auf einer meiner Fahrten in den Güterwaggons mal von einem anderen Trainhopper Gesellschaft hatte. Damals, als man in den Waggons kaum einen Fuß auf den Boden bekam, als dich immer irgendeine Hand hochgezogen hat, wenn du beim Aufspringen mal abgerutscht bist, als man mit Männern jedes Alters und jeder Abstammung laut We shall overcome sang, das war wohl die schönste Zeit meines Lebens, vielleicht die einzige wirklich gute Zeit. Mittlerweile fiel es mir viel schwerer diese ganze Sache durchzuziehen, allein schon in körperlicher Hinsicht. Der Auftritt in Baton Rouge letzte Nacht hatte Kraft gekostet, zuviel Kraft, und jetzt konnte ich mich nur noch mit Mühe auf den fahrenden Zug hieven. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, die Sonne schien ununterbrochen von einem wolkenlosen Himmel, und ich konnte nichts anderes tun als zu schlafen.
Ich träumte, träumte mit einer Intensität wie schon lange nicht mehr, von New Orleans, vom alten New Orleans. Diese Kraft, dieser Ausdruck, den du an jeder Straßenecke spüren konntest, diese stille Gewissheit, dass jede Sekunde etwas Unvorhergesehenes, etwas Bombastisches, etwas Neues dein komplettes Lebensbild auf den Kopf stellen könnte, und dich mitreißt, like a hurricane, out of control. Doch nun, wo die Gleise schon im Zwielicht des bald endenden Tages lagen, und ich in einem Güterwaggon langsam der Stadt immer näher kam, fand sehr schnell wieder ein ganz anderes Bild Einzug in meine Gedanken, das Bild vom neuen New Orleans, das New Orleans nach dem Wasser, das Wasser, das soviel Gutes mit einem Mal einfach weggespült hat. Aber wenn es auch soviel ausgelöscht hat, so doch nicht alles, es gibt immer noch Menschen dort, und es gibt auch immer noch Musik dort, und jedes Ende ist auch der Anfang von etwas Neuem. Es war dieses Gefühl, dieses durch und durch gute Gefühl, mit dem ich schließlich die Grenzen der Stadt überquerte, und mich völlig ihrem Beat überließ, der trotz allem noch spielte, wenn auch sehr schwach; ridin’ on the city of New Orleans.
Die Bar war spärlich gefüllt, nur etwa die Hälfte der Tische war besetzt, vielleicht noch weniger. Es war ein merkwürdiger Ort, was aber nicht an der Aufmachung an sich lag, die in meinen Augen sehr gepflegt war. Ich hatte lange nicht mehr in einer so sauberen Bar gespielt. Das war es nicht. Es waren auch nicht unbedingt die Leute. Sie machten genau denselben Eindruck wie die Leute in der Nacht zuvor, und davor, und davor. Sie tranken ihr Bier, unterhielten sich, versuchten den Alltag und die Angst von sich abzuwerfen, und sahen in regelmäßigen Abständen zur Bühne, ob denn der Typ, der da spielt, noch nicht vom Hocker gefallen ist. Ich kann bis zum heutigen Tage nicht sagen, was diesen Ort so einzigartig machte, aber er war einzigartig, das konnte ich zu jeder Zeit spüren. Vielleicht lag es auch nur an der Frau, die allein am Tisch hinten links saß.
Ich spielte mein Programm, dasselbe wie jeden Abend, bis auf ein paar wenige Varianten. Meine Stimme war mit den Jahren brüchig geworden, und auch das Picking fiel nicht mehr ganz so leicht wie früher, aber so war es eben, mein Leben. Hier auf dieser winzigen Bühne, mit meiner Gitarre. Nichts als das. Ich spielte die alten Folk-Klassiker, von Pete Seeger, Woody Guthrie, Bob Dylan. Darunter mischte ich dann von Zeit zu Zeit ein paar meiner eigenen Songs. Ich war nie der große Songwriter, aber das war eben das gute an der Folk-Musik; sie bedeutete niemals nur neue Songs, niemals nur alte – es war eine Mischung aus beidem. Und wenn du einen alten Song wieder und wieder spielst, hier etwas veränderst, da etwas veränderst, landest du eben schnell bei etwas Neuem. Diese Songs waren wie ein altes Paar Schuhe, sie passten einfach. Ich sah es auch nicht als meine Aufgabe an, den Leuten mit meinen Songs die Augen zu öffnen, sie auf etwas Neues aufmerksam zu machen, sie anzuspornen. Das war nicht mein Ding. Ich wollte nur meine Musik spielen. Bob Dylan hat mal gesagt, Ende der 60er haben tausende von Menschen sein Haus belagert, weil sie von ihm als Messias irgendwo hingeführt werden wollten. Nur, wohin, das wussten sie ebenso wenig wie er. Als ich noch jung war habe ich oft darüber nachgedacht, ich war fest der Überzeugung, dass ich nicht so teilnahmslos gehandelt hätte wie Dylan, dass ich sie schon irgendwo hingeführt hätte, zu etwas Gutem. Doch mit der Zeit ist mir klar geworden, wie Recht Dylan hatte. Musik ist Musik, und dabei muss es auch bleiben.
„Ich mag es, wie du Pancho und Lefty von Townes Van Zandt gespielt hast“, sagte eine Stimme. Es war die Frau vom Tisch ganz hinten links, sie war nach dem letzten Song zu mir nach vorn an die Bühne gekommen und bat mich an ihren Platz. Eh ich mich versah befand ich mich in dem schönsten Gespräch seit einer langen, langen Zeit. Ich hätte ihr Großvater sein können, ich konnte ihr genaues Alter nur ahnen, sie war so jung. Trotzdem schien es, als sie schon mindestens ebenso lange wie ich selbst auf Gottes Erde. Es war die Art, wie sie erzählte. Wir unterhielten uns über Musik, aber dabei blieb es nicht, die Musik war nur ein öffnendes Element, das uns in ganz andere Ebenen führte, es ging um alles und nichts, es war einfach wundervoll. Sie interessierte sich für mich, für mein Leben, meine Person, meine Geschichten. „Die Songs die du geschrieben hast..“, fragte sie plötzlich, „..sind die alle so traurig wie die, die du heute gespielt hast?“ Ich musste kurz darüber nachdenken, dann sagte ich: „Nein, nicht alle. Es sind auch ein paar hoffnungslose dabei.“ Sie musste lächeln, und in diesem Moment wusste ich, wenn ich dreißig Jahre jünger gewesen wäre, dann wäre sie mein Mädchen gewesen. Sie hatte dunkles Haar, und ebenso dunkel waren ihre Augen. Beim Reden blickte sie ab und an etwas verlegen nach unten, um dann die Augen direkt wieder aufzurichten und mich auf eine Weise anzublicken, dass ich sterben wollte. Wenn ich etwas erzählte verließen ihre Augen niemals mein Gesicht. Da war dieses gewisse Etwas, dieses Unbeschreibliche, Überirdische, und doch so simpel Wunderschöne. Ich fragte, woher sie kommen würde, und sie sagte Kansas City. Ich fragte, was sie hier in New Orleans machen würde, und sie sagte: „Ich wollte dich sehen.“ Verdutzt sah ich in ihre dunklen Augen, unfähig auch nur noch ein weiteres Wort herauszubringen. „Ich wusste, dass du heute hier spielen würdest. Ich bin nur wegen dir hier. Aber mach dir jetzt keine Gedanken darüber, sondern höre auf das Glockenspiel.“ Noch bevor ich über ihre Worte auch nur nachdenken konnte, hörte ich das besagte Glockenspiel. Es spielte eine Melodie, die schöner war als alles, was ich bisher auf dieser Erde vernommen hatte. Es konnte keine von einem Menschen gemachte Melodie sein, soviel war sicher, es war etwas Göttliches. Dann ging alles ganz schnell; die Welt um mich herum wurde erst bunt, dann schwarz. Ich blickte in eine Schwärze, die ich so rein noch niemals gesehen hatte. If it’s not love, then it’s the bomb that will bring us together.
Ich spüre etwas. Ich höre etwas. Ich rieche etwas. Ich öffne die Augen. Ich sehe. Neben mir sitzt die Frau vom Tisch hinten links. Ich liege auf einem Bett. Ich richte mich langsam auf. Vor mir hängt ein alter Spiegel, so ein richtig großer und verschnörkelter, wie man sie aus alten Filmen mit Al Cooper kennt. Doch nun scheine ich mich selbst in einem Film zu befinden, denn der Mann, der mich da aus dem Spiegel anblickt, das bin ich, vor 30 Jahren. Ich blicke zu der Frau vom Tisch hinten links. Sie blickt mich an. Sie ist immer noch so schön wie an diesem magischen Abend. „Denk nicht weiter darüber nach, und noch wichtiger: sprich niemals auch nur ein Wort darüber. Wenn du es tust, findest du dich in der Bar in New Orleans wieder, und kurz darauf fällst du von deinem Hocker und wirst nie wieder aufstehen. Jede Hilfe kommt zu spät für dich.“ Ich will eine Frage stellen, doch sie kommt mir zuvor: „Es ist so, wie es ist. Kennst du nicht den alten Spruch, love can move a mountain? Sie kann noch viel mehr als das. Du bist hier, und ich bin es auch, hier bei dir. Und das wird sich mit dem heutigen Tage nicht mehr ändern, ich werde bei dir sein, solange du es möchtest. An dem Abend in der Bar habe ich etwas in deinen Augen gesehen, in deinem Gesicht, in deinen Falten, die dein Leben dir zugefügt hat. Ich sah Liebe, und ich sah einen Wunsch, ich sah einen Traum. Denk dir nur, der Traum könnte wahr geworden sein.“ Schlagartig wird mir bewusst, an welchen Punkt meines Lebens mich das Schicksal zurückgebracht hat. Ich lag schon einmal in diesem Bett, und blickte mich schon einmal in genau diesem riesigen, verschnörkelten Spiegel an. Es war der Tag, an dem mir vor 30 Jahren klar wurde, dass ich dieses Leben von und für die Musik wirklich durchziehen könnte. Aber dafür musste ich alles andere aufgeben. Ich musste meine Familie aufgeben, Geld, Sicherheit, Glück – all das musste ich in den Wind schreiben. Ich griff mir einfach meine Gitarre, und es ging los. Doch genau auf dem Stuhl, auf dem vor 30 Jahren meine Gitarre stand, sitzt nun die Frau vom Tisch hinten links. Und auch wenn ich noch nicht einmal ihren Namen kenne, ich weiß, dass ich mit dieser Frau ein neues Leben beginnen möchte. Die Liebe hat mir eine zweite Chance gegeben, und diese neue Chance bietet Zeit genug, um die Frau vom Tisch hinten links nach ihrem Namen zu fragen.