Was ist neu

Novelle Die Freigabe

Seniors
Beitritt
28.12.2009
Beiträge
2.361
Zuletzt bearbeitet:
Anmerkungen zum Text

Lang.

Die Freigabe

Die Ampel ist rot. Ich lasse eine Hand auf dem Lenkrad liegen und blättere mit der anderen durch den Ordner.
„Mach doch die mal rein.“
Sie zieht die CD aus der Tasche und fährt mit den Fingerspitzen über den Titel. „Terry Reid“, sagt sie.
„Haben wir in Irland immer gehört.“
„Stimmt, ja.“ Ich schüttele den Kopf. „Dass du dich daran erinnern kannst.“
Sie zuckt mit den Schultern. Dann tippt sie auf das Armaturenbrett. „Was hast du mit dem Jimney gemacht?“
„Der hatte fast Dreihunderttausend runter …“
Die Ampel schaltet auf Grün. Der Kiosk. Die Post. Die katholische Kirche, die seit Anfang des Jahres leer steht. Dann sind es nur noch Felder. Lange Streifen am Straßenrand. Hafer. Raps. Erbsen. Dahinter Rotbuchen. Die Sonne steht tief, ich klappe die Blende herunter.
„An wen hast du den Jimney verkauft?“
„Hab‘ ich in Zahlung gegeben“, sage ich und drehe die Musik leiser. „Hätt‘ sich einfach nicht mehr gelohnt, wenn da was dran gewesen wär‘, das ist nachher wie der Kölner Dom, biste ständig am reparieren. Und der hier, das war `n gutes Angebot.“ Sie dreht den Kopf weg, ich sehe auf ihr dichtes, blondes Haar, es ist das Haar ihrer Mutter.
„Warum fragst du?“
Die schmalen, braunen Augen hat sie von mir.
„Ach, nur so, ich hab‘ damit fahren gelernt … “
„Ja, ich weiß, bei Kambecks im Hof …“, sage ich, und da lächelt sie das erste Mal.

Sie trägt ein weites Kleid aus bedrucktem Stoff, eine Halskette aus Holzperlen, die Haare zu einem lockeren Dutt gebunden. Nach einer Weile fallen ihr meine Blicke auf. „Was?“
„Hast dich verändert.“
Sie lacht. „Findest du?“
„Ja“, sage ich. „Ich finde schon.“
Das Haus liegt am Ende eines langen Schotterwegs, versteckt hinter einer Reihe Kiefern. Das Dach schimmert durch die Äste. Als ich bremse, graben sich die Reifen durch den Rollsplit.
„Vom neuen Bahnhof“, sagt sie und klopft mit den Knöcheln gegen die Seitenscheibe. „Da sind es jetzt ja nur noch vier Stunden mit dem ICE …“
Ich nicke schweigend.

Die Hunde im Zwinger beginnen zu bellen. Sie öffnet die Beifahrertür, lässt die Hand für einen Moment auf dem Griff liegen. Zwei ihrer Nägel sind rot lackiert, der Lack bereits abgeblättert. Auf der Innenseite des Zeigefingers eine Tätowierung – ein Schnäuzer mit gezwirbelten Enden, ganz in schwarz. Die Haut an ihren Schultern ist gebräunt, am Nacken hellrot von der Sonne. Sie bleibt vor dem Zwinger stehen, kniet sich hin, steckt eine Hand durch die Stäbe. Die Welpen kommen aus dem Dunkelbereich, nehmen Witterung auf, lecken über ihren Handballen. Bargo, die Hündin, hebt kurz den Kopf, bleibt aber liegen, noch erschöpft vom Werfen. Ich nehme ihre Tasche von der Rückbank.
„Wie viele sind es dieses Jahr?“
„Sechs Stück“, sage ich und lehne mich gegen das Gatter.
„Und gibst du sie alle ab?“
„Ja. Zwei gehen nach Schweden …“
Sie streicht einem der Welpen über den Kopf. „Wir haben in der WG auch einen Hund, ein Mischling aus dem Tierheim. Wir haben ihn Butz getauft.“
„Butz?“
„So hieß der Pudel von Schopenhauer.“
„Von Schopenhauer … “
„Ja, Schopenhauer war ein Philosoph, der …“
„Ich weiß schon, wer Schopenhauer war, keine Sorge.“
„`tschuldigung“, sagt sie schnell. „War nicht so gemeint.“
„Alles gut. Gehen wir erstmal rein.“

Ich stelle ihre Tasche neben die Garderobe und werfe meine Jacke über einen Küchenstuhl.
„Du hast ja richtig aufgeräumt“ sagt sie und zieht grinsend die Fingerspitzen über die Tischplatte.
„Möchtest du was essen oder trinken?“
„Ja“, sagt sie. „Hast du Wein?“
„Am frühen Nachmittag?“
„Trinken macht doch während des Tages am meisten Spaß, oder hast du heute noch was vor?“
Sie lehnt am Kühlschrank, eine Augenbraue lässig nach oben gezogen.
„Wein“, wiederhole ich und muss lachen. „Rot oder Weiß?“
„Rot, wenn du hast“, sagt sie und setzt sich an den Tisch.
Ich ziehe eine Flasche Gamay aus dem Regal und stelle sie auf die Anrichte. „Gefällt’s dir in Berlin immer noch so gut?“
„Ja, Berlin ist großartig.“
Der Griff des Korkenziehers ist aus Metall und kalt, die Spitze verschwindet ohne Druck im Kork. Ich kann den Wein riechen, sein Duft erinnert mich an vergorene Kirschen im Spätsommer. Ich nehme zwei Gläser aus dem Schrank, gieße ein und warte, bis sie den ersten Schluck genommen hat.
„Ist gut, `n guter Wein.“ Sie stellt das Glas vor sich auf den Tisch. „Wie machen wir das eigentlich? Soll ich oben schlafen?“
„Kannst es dir aussuchen. Ich schlaf‘ im Arbeitszimmer.“
„Im Arbeitszimmer? Warum das denn?“
Ich starre in den hellen, karmesinroten Wein. „Wenn ich aus dem Fenster seh‘, dann ist da der Wald, und …“
Sie nimmt noch einen Schluck und streicht sich Haare aus dem Gesicht.
„Ich hab für uns beide gekocht, Wildschweingulasch.“
„Papa“, sagt sie leise und verzieht die Mundwinkel.
„Was denn? Was ist denn los?“
„Ich ess‘ kein Fleisch … schon seit zwei Jahren nicht mehr.“
Ich nehme einen Schluck Wein, behalte ihn am Gaumen. Vergorene Kirschen im Spätsommer. „Das wusste ich nicht. Tut mir leid, Emma …“
Wir sehen uns einen Moment lang an, dann winkt sie ab. „Ach, macht nichts, ich schau einfach, was du sonst noch so da hast.“ Sie steht auf, lässt das Glas Wein stehen und geht zum Kühlschrank. Rispentomaten. Eine halbe Salatgurke. Zwiebeln. Schwarzbrot. Butter. Frischkäse. Sie legt alles auf das Holzbrett neben dem Herd.
„Eier“, frage ich. „Isst du noch Eier?“
Als sie nickt, hole ich zwei aus der Packung, schlage sie über einer Schüssel auf, verrühre sie mit einer Gabel. Wir stehen vor dem Herd, sie schneidet die Tomaten zu kleinen Würfeln, hält das Messer dabei locker in der Hand. Ich zerlasse ein Stück Butter in einer der gusseisernen Pfannen, gieße die Eier dazu, schwenke die Pfanne, bis die Masse sich verteilt hat.
„Warum isst du kein Fleisch mehr?“
Sie vermengt die Tomaten mit hauchdünn geschnittenen Gurkenscheiben, streut Salz und Pfeffer darüber und öffnet das Olivenöl. „Weil das einfach grausam ist … diese ganze Massentierhaltung, wie sie die Tiere da quälen und alles ...“
Ich sehe in die Pfanne, auf die Blasen, die sich am Rand des Omeletts gebildet haben. Sie träufelt Öl über Tomate und Gurke und sieht mich an.
„Ja“, sage ich. „Ja, du hast Recht.“ Ich wende das Omelett – die Seite ist perfekt geworden, ganz gleichmäßig hellbraun.
„Gibst du mir mal den Schnittlauch?“
Sie nimmt den Bund aus dem mit Wasser gefüllten Einmachglas und legt es auf das Schneidebrett. Die Spitzen der Halme sind verfärbt, ich schneide sie ab, nehme nur die grünen Enden, verteilte sie über dem Omelett.

Am Tisch sitzen wir uns gegenüber. Sie hat ein Bein auf dem Stuhl untergeschlagen, ihre Haare hängen fast im Teller. Zum Essen benutzt sie nur eine Gabel.
„Das ist gut“, sagt sie und schiebt sich ein Stück Omelett in den Mund. Ich zerkaue eine Tomate, spüle mit einem Schluck Wein nach. „Müsste nachher noch mal kurz raus, an `ner Kanzel was reparieren, aber `s dauert nicht lang, ist nur eine Sprosse austauschen.“ Ich hebe die Augenbrauen. „Kannst auch fahren, wenn du willst.“

Sie sieht klein aus hinter dem Steuer. Wie sie das Lenkrad umklammert, bis ihre Knöchel weiß werden. Ich denke an das Glas Wein, das leer auf dem Küchentisch steht, doch da startet sie schon den Motor. Der Defender macht einen Satz nach vorne.
„Sorry“, sagt sie und beißt sich auf die Unterlippe.
„Kupplung langsam kommen lassen …“
Sie beugt sich nach vorne und schließt die Augen. Ich höre den Schlüssel in der Zündung klicken. Das Aufheulen des Getriebes. Sie starrt durch die Frontscheibe, legt beide Hände auf das Lenkrad. Wir fahren im Schritttempo los.

Die Einfahrt ist abschüssig, mündet in einer scharfen Kurve. Neben dem Weg fließt ein Bach, auf der anderen Seite mächtige Holzpolter, alles Käferholz. Die Harvester stehen noch im Kahlschlag. Der Wagen gerät ins Schlingern, sie lenkt dagegen, und für einen Moment denke ich, sie verliert die Kontrolle über das Fahrzeug, doch dann gibt sie einmal richtig Gas, wir passieren die Wasserscheide, die den Weg kreuzt. Schotter schlägt gegen den Unterboden, Schlammspritzer landen auf der Windschutzscheibe. Sie lacht, laut und aus vollem Hals. Nach hundert Metern zeige ich an, dass sie in einen Wirtschaftsweg abbiegen soll. Herunterhängende Äste streifen über Motorhaube und Dach. Der Weizen ist abgeerntet. Auf ein paar Feldern steht noch Mais, die Kolben braun, vertrocknet bis in die Ähren. Der Sommer war lang und zu heiß.
„Du kannst da vorne halten“, sage ich und zeige auf eine umzäunte Bestallung. Kühe stehen äsend auf der Weide, sehen uns träge aus feucht glänzenden Augen hinterher. Sie tritt auf die Bremse. Der Wagen kommt mit einem Ruck zum Stehen. Wir bleiben einen Moment sitzen, sehen schweigend aus der Frontscheibe. Der Ansitz steht in zweiter Reihe, neben einer alten, knorrigen Eiche, davor ein Wildacker. Die Blüten der Süßlupinen wirken aus der Ferne wie zarte, blaue Federn.

Ich steige aus, nehme Werkzeugkasten und das auf Maß gesägte Brett von der Rückbank und lehne mich über den Beifahrersitz. „Den Rucksack, wenn du den mitnehmen könntest, ja?“
Sie nickt. „Klar.“
Wir gehen an der Scheune vorbei, den Hang hinauf. „Musst aufpassen“, sage ich und nicke Richtung Zaun. „Da ist Musik drauf.“
Sie bleibt stehen, sieht über das angrenzende Maisfeld zurück zum Defender. „Tut mir leid, ich fahr‘ sonst nur mit dem Rad, ich bin bestimmt zwei Jahre kein Auto mehr gefahren.“
„Mach dir mal keinen Kopf.“
„Okay“, sagt sie. "Dann ist ja gut."
Wir gehen weiter. Es wird kühler. Die Eiche ist hoch gewachsen, die Krone lässt wenig Licht durch. Das Dach der Kanzel ist schon lange nicht mehr dicht. Ich reiße die Sprosse aus der Leiter und schmeiße das morsche Holz unter den Ansitz. „Gibst du mir mal den Hammer aus dem Kasten?“
Sie stellt den Werkzeugkasten auf die Erde, klappt das oberste Fach auf und nimmt den Schieferhammer heraus.
„Danke dir“, sage ich und klemme mir einen Nagel zwischen die Lippen.
„Soll ich festhalten?“
„Ja, ja das wäre gut.“
Sie steigt über den Werkzeugkasten, tritt die Himbeersträucher platt, die um den Ansitz wuchern und drückt das Brett auf den Balken. „Bisschen rüber, das muss bündig anliegen.“ Sie nickt und zieht die Enden übereinander. Der Nagel treibt gleichmäßig in das Holz. „Willst du bei dir die Seite machen?“, frage ich und halte ihr den Hammer hin. Emma nimmt ihn an der Spitze, lässt ihn über die offene Handfläche gleiten und umfasst mit einer schnellen Bewegung den Griff.
„`n Nagel, Papa, ich brauch noch `n Nagel.“ Ich reiche ihr einen Sparrennagel aus meiner Westentasche, sie platziert ihn mittig auf dem Holz, fixiert ihn mit zwei, drei kurzen Schlägen, treibt ihn dann mit mehr Kraft weiter in das Holz, bis der Metallkopf verschwunden ist.
„Bombenfest“.
Ich rüttelte an der Sprosse. „Du bist geschickt.“
„Das kann ich ja schon mal nicht von dir haben“, sagt sie und lacht. Ein Mäusebussard fliegt über das Maisfeld hinweg, landet auf der Feldkante, einem schmalen Streifen Erde, verharrt kurz, breitet die Flügel aus und schwingt sich mit ein paar Schlägen wieder empor. Emma setzt einen Fuß auf die unterste Sprosse, nach außen, wie ich es ihr als Kind schon beigebracht habe. Immer einen Fuß und eine Hand an der Leiter. Oben klappt sie die Sitzbank um. Ich schultere den Rucksack und folge ihr. Die Kanzel ist von drei Seiten offen, die Sitzbank lang und tief. Im Sommer habe ich hier oft auf Schwarzwild angesessen, bei gutem Mondlicht gewartet, bis sie aus dem Mais wieder in den Wald gewechselt sind. Ich sage ihr nichts davon. Wir sitzen still nebeneinander. Sie streckt einen Arm aus, lässt ihre Hand auf der Schießlatte liegen. Das Licht ist jetzt fast schattenlos. Ich beobachte den gegenüberliegenden Waldrand, es geschieht einfach, es ist ein Reflex, alle Jäger tun das. Auf die kleinste Bewegung achten, jede Unregelmäßigkeit, jede Unruhe. Aber ich beobachte auch Emma, wie sie da sitzt, langsam ein und ausatmet, wie die Ruhe beginnt, auf sie einzuwirken. Den Bock, der am Rand des Wildackers auftaucht, sehen wir im gleichen Moment. Ihr Blick weitet sich, sie richtet den Oberkörper auf, und ich lege den Zeigefinger über meine Lippen.

Ich ziehe vorsichtig die Kordeln des Rucksacks auseinander und drehe die Schutzkappe vom Spektiv. Der erste Blick gehört ihr, gehört Emma. Sie nimmt mir das Spektiv aus der Hand, beugt sich zur Seite, stellt den Fokus scharf. Es ist ein alter Bock, großer Vorschlag, die Vorderläufe stehen breit, kaum mehr Rosenstöcke. Sie hält das Spektiv ruhig, ich kann sie atmen hören. Der Bock kommt langsam näher, verhofft immer wieder, äst. Sein Gehörn ist ausgeprägt, ein guter Sechser, ein braver Bock. Er hebt den Kopf, sieht in unsere Richtung, ich kann die dunklen Lichter erkennen. Wir bleiben so sitzen, ganz ruhig, abwartend, beobachtend, bis er am Ende des Wildackers angelangt und fast außer Sichtweite ist.
„Den kenn‘ ich, den Bock“, sage ich leise und reiche ihr den Schutzdeckel für das Spektiv. „Hab‘ ich letztes Jahr schon gesehen, hat hier seinen Einstand.“
Emma schüttelt den Kopf. „Wirst du ihn schießen?“
„Nicht heute jedenfalls.“

Auf dem Rückweg hakt sie sich bei mir ein, ich spüre ihre kleine, warme Hand an meinem Unterarm. Die Kühe blöken, wir beide lachen. Dann bleibt sie stehen, sagt: „Warte mal“, und rennt zurück zum Zaun. Zuerst denke ich, sie will die Kühe streicheln, aber sie streckt die Finger aus, um den elektrischen Zaun zu berühren. Als sie den Schlag abbekommt, schreit sie kurz auf, doch sie hat keine wirklichen Schmerzen, das weiß ich, es ist nur der Schock, dieser erste, kurze Moment. Wir gehen weiter, unsere Schultern berühren sich, sie gibt mir einen leichten Schubs. Am Defender überreicht sie mir die Schlüssel.
„Danke“, sagt sie. „Das war schön.“
Die Rückfahrt über lasse ich das Radio ausgeschaltet. Nur das sonore Geräusch des Motors.

Später in der Küche setze ich Kaffeewasser auf. Sie schenkt sich noch ein Glas Wein ein. „Mutter hat nach dir gefragt.“
„Ach ja?“
Sie nickt.
„Geht’s ihr gut?“
„Ich denke schon“, sagt sie und nippt am Glas. „Ja, ich denke, ihr geht es gut.“
„Wo hast du sie gesehen?“ Ich fülle einen Fingerbreit gemahlene Bohnen in die Kanne und nehme den Topf vom Herd. „Du erinnerst mich übrigens an sie“, sage ich, und Emma verdreht die Augen. Ich kippe das sprudelnde Wasser in die Kanne und rühre mit einem Essstäbchen vom Vietnamesen um. „Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Sie nimmt die halbleere Flasche Gamay mit und lässt sich in den Ledersessel vorm Kamin fallen. Ich gieße den Kaffee in eine Porzellantasse und öffne den Humidor, der auf dem Fenstersims steht. Das Zellophan knistert, als ich die Partagas aus der Verpackung ziehe.
„Sie hat mich besucht“, sagt Emma dann, und ich halte inne, rieche am hellen, seidigen Deckblatt. „Wann das denn?“
„Letzten Monat.“
Ich nehme die Kappe der Zigarre zwischen die Lippen, feuchte sie mit der Zungenspitze an, schiebe das Ende in den Cutter. „Ja, für sie ist das auch näher - Berlin, und ehrlich gesagt, glaub‘ ich, dass sie einfach mehr Zeit hat.“ Eine kurze, entschlossene Bewegung, die beiden Klingen schnappen zu. „Ich hab‘ das Revier, die Hunde, und das Haus …“
„Ich weiß“, sagt Emma. „Das weiß ich doch alles.“
Es ist seltsam, sie so zu sehen. Es ist nicht nur die Tätowierung oder die Art, wie sie sich kleidet. Als Kind hat sie ständig Sachen fallen gelassen. Ich öffne die Streichholzschachtel und reiße eines an. Die Flamme zischt nach dem ersten Entzünden und brennt ruhig weiter.
„Hast du eigentlich einen Freund in Berlin?“ Ich spüre den Tabak an meinen Lippen, ziehe die Flamme ein, die Glut leuchtet kirschrot auf.
„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“
„Keine Ahnung, einfach so. `tschuldigung, war blöd von mir.“ Wir schweigen eine Weile, dann fragt sie: „Und was wäre, wenn ich einen hätte?“
Ich nehme zwei, drei kleine Züge, danach einen langen, tiefen, behalte den satten Rauch ein paar Sekunden lang im Mund. „Dann würd‘ ich ihm mit der .308 in die Kniescheiben schießen.“
Sie lacht. „Das würdest du nicht.“
„Nein“, sage ich. „Natürlich nicht.“
„Hab‘ ich gar keine Zeit für, für `ne ernsthafte Beziehung, ist so viel los grad – Uni, WG, und ich will mich da nicht festlegen, ich will erstmal meine Freiheit genießen.“
Ihr Gesicht im Halbschatten. Die Wangen rosa. Ihre Haut ganz glatt und straff. Ich lehne mich zurück und nehme einen Schluck Kaffee. „Hat sie ihren neuen Typen dabeigehabt? Ich meine, als sie dich besucht hat?“
Sie nickt. „Was willst du denn wissen?“
„Nichts.“ Ich nehme noch einen Zug, lege die Zigarre dann im Aschenbecher ab. „Ich will gar nichts wissen.“
„Er ist ganz anders als du“. Sie gießt sich Wein nach, sie gießt das Glas dreiviertelvoll. „Er geht ins Fitnessstudio und fährt Cabrio.“
„Cabrio … “
Sie nimmt einen großen Schluck Wein. „Ja, so einen kleinen, roten Flitzer mit zwei Sitzen.“
„Auch noch rot …“
Ihre Zähne blitzen auf, als sie lacht, und dann lache auch ich. „Schön, dass du hier bist.“
„Ja, ich habe dich auch vermisst“, sagt sie, sagt Emma, sagt meine Tochter.

Sie hält das Glas in der Hand, die andere liegt locker in ihrem Schoß. So, wie sie da sitzt, ganz entspannt, mit offenen Haaren, da wirkt sie um so viel älter, als sie ist. Sie wirkt wie eine Frau, denke ich, und natürlich weiß ich, dass sie schon lange kein Mädchen mehr ist, dass sie erwachsen ist, eigene Entscheidungen trifft, ein eigenes Leben lebt, in Berlin, weit weg, in einer WG mit Hund und Schopenhauer …

Ich betrachte sie, ich versuche sie mit fremden Augen zu sehen, so wie jeder andere Mann sie auch ansehen würde, und dann erschrecke ich über mich selbst. Sie ist müde, ihre Augen fallen immer wieder zu. Ich nehme ihr das Glas Wein aus der Hand und sage: „Geh doch schlafen, Emma. War `ne lange Fahrt und auch `n anstrengender Tag für dich.“
„Wäre das okay?“
„Aber selbstverständlich.“
„Dann … ich glaub‘, ich schlaf oben.“
„Du weißt ja, wo alles ist. Komm morgen einfach runter, okay?“
„Ja, okay.“
Sie umarmt mich, ich drücke meine Nase in ihr Haar, rieche die Kopfhaut, und so hat sie schon als Kind gerochen, wie eine Salzwiese nahe am Meer. „Schlaf gut.“
„Ja, du auch.“

Ich sehe ihr hinterher, wie sie im Türrahmen noch einmal stehenbleibt und zum Abschied winkt. Das Knarren der Wendeltreppe. Die Geräusche ihrer Schritte auf den Dielen im Obergeschoss. Dann Stille. Ihr Zimmer habe ich so gelassen. Wer weiß schon, was nach dem Studium ist? Es wäre einfach eine weitere Möglichkeit. Sie entscheidet.

Die Hunde warten. Die Welpen bekommen zwei Mal am Tag ihr Fressen, und sie verlassen sich darauf. Ich enttäusche sie nicht, ich enttäusche sie nie. Aus der Dunkelheit des Zwingers in den Auslauf - das Geräusch ihrer Pfoten auf den Hackschnitzeln, ein leises, kaum wahrnehmbares Scharren. Ich spüre die Wärme ihrer Körper, als sie sich um meine ausgestreckte Hand sammeln, sie wittern den Rüdemann, sie warten. Ein Welpen muss kurz nach der Geburt an den Zwinger gewöhnt werden, ansonsten wird es immer schwieriger. Der Zwinger härtet sie ab, denn ein Hund, den du erfolgreich bei der Jagd einsetzen willst, muss bei jedem Wetter raus. Wenn du sie an den Zwinger gewöhnst, werden sie jammern, sie werden jammern und bellen, aber eins darfst du nie tun, du darfst sie niemals aus dem Zwinger holen, denn dann lernen sie, dass jemand kommt, um sie von ihrem Alleinsein zu erlösen. Nein, du bist es, der bestimmt, wann der Hund den Zwinger verlassen darf, nur du alleine, sonst niemand.

Im Arbeitszimmer ist es dunkel und ruhig. Kühle Luft weht durch das geöffnete Fenster. Die Borke der Stieleiche glänzt im Mondlicht, der Stamm wirkt so noch mächtiger – ein solitär stehender Baum, seit Jahrhunderten trotzt er den Wettern, überdauert Zeit und jede menschliche Regung. Ich fasse an die Gardine, fühle den Stoff, meine Fingerspitzen gleiten über die rauen Kanten. Dann lege ich mich halb angezogen auf die Couch. Ich lasse das Fenster offen, sehe auf den schmalen Keil Himmel im Dachkreuz. Sterne funkeln, draußen kriecht etwas durch das Laub, vielleicht ein Marder, im Hintergrund singt ein Waldkauz – ein langgezogener Laut, hoch, anschwellend, fast wie Jaulen, dann kurze Stille, danach wird der Gesang ein im Ton wechselndes Klagen, ein schnelles Hin und Her, zitternd, entrückt. 23:19. Wärme unter der Decke, Muskeln entspannen. Die Müdigkeit kommt schnell.

Ich bin da, sage ich, ich komme, und meine Stimme klingt rau, rau und gedämpft, als spräche ich in Erde, und da unten ist der Fluss, die Biegung, lang und sanft geschwungen, das Wasser glitzert in der Mittagssonne, ein Aalschokker zerschneidet die Oberfläche, gleitet lautlos an mir vorüber, hinterlässt kräuselnde Wellen. Manche sagen, hier läge der Schatz der Nibelungen begraben, irgendwo im Schlick, unter Schichten von Sand und Steinen, doch sie haben natürlich nie etwas gefunden, alles Träumer, ich gehe die Böschung hinunter, sehe Emma, die schon bis zu den Knien im Wasser steht, sie winkt und ruft, ich solle auch kommen, das Wasser sei warm, viel wärmer als man denkt, nur noch ein paar Schritte, ein paar Schritte durch den Röhricht, ein Saum aus Schlick, Gänsefuß, Zweizahn, Ehrenpreis, und da ist auch der scharfe, stechende Geruch nach Grassilage, die zu feucht, zu welk ist, er weht von den Silos herüber, große, metallisch glänzende Zylinder weit hinten am Horizont, die tief stehende Sonne blendet mich, das Licht ist überall, und ich höre Emma lachen, ich muss meine Augen schließen, denn da ist dieses grelle, grelle Licht, ich stehe da wie blind, Emmas Lachen, das sich entfernt, und dann wird es auf einmal dunkel, dunkel und kalt, ich spüre nasses Gras unter meinem Rücken, Emmas Hände auf meinem Gesicht, ich weiß, dass es ihre sind, ich fühle es, diese feingliedrigen Hände mit den schmalen, langen Fingern, ihr Atem, warm und nah, ich kann ihre Haut riechen, ihr Haar, salzig wie eine Marsch, dann öffne ich meine Augen, ihr Fleisch, das auch mein Fleisch ist, so weiß wie Milch, und der Himmel über uns stahlfarben, die Wolken rasend schnell, sie legt ihre Hände auf meinen Mund, formt sie zu Fäusten, ihre Knöchel drücken auf meine Schneidezähne, bis sie mit einem hellen Knacken abbrechen, der Geschmack von Blut, der sich im Rachen ausbreitet, und da ist ein feiner Schmerz, der vom Kiefer über das Felsenbein pulsiert, aber ich spüre ihn nicht, ich spüre den Schmerz nicht …

Hitze auf meinem Gesicht, Hitze überall, Haut, Unterleib. Ich atme lautlos in die Dunkelheit des Zimmers, drehe meinen Kopf zur Seite und sehe dabei an die Wand, es dauert nicht lang. Dieses Gefühl habe ich fast vergessen, dieses eine, ewige Gefühl - das warme Beben nach der letzten Berührung, es gibt kein Zurück mehr, das Zucken, das Vibrieren, die zitternden, ganz langsam erschlaffenden Muskeln … Ich starre auf die rot glühenden Ziffern des Weckers. 5:24 Die Sonne wird in einer Stunde aufgehen. Es ist, als habe diese Zeit keine Eigenschaften, als gehöre sie weder zur Nacht noch zum Tag. Ich ziehe den Pullover aus, trockne meinen Bauch mit dem Unterhemd ab, zerknülle es, werfe es in den Schrank.

Das Haus ist alt, die Balken werden feucht, arbeiten, manchmal knarrt es, ansonsten ist da nur Stille. Ich nehme den Deckel vom Topf. Fettaugen schwimmen auf der Oberfläche. Wacholder, Lorbeerblätter, schwarzer Pfeffer, Nelken. Ich schlürfe das Stew aus der Kelle, die Stücke zergehen auf der Zunge, so zart sind sie. Zwei Jahre kein Fleisch. Ich kaue langsamer.

Nebel kriecht über die Lichtung. Noch sind die Farben gedämpft, verschleiern den gerade beginnenden Tag. Ich mache frischen Kaffee und setze mich mit der Tasse auf die Bank vor dem Haus. In der Luft der Geruch des nahenden Herbstes; Tau, nasses Laub, aufgewühlte Erde. Kurz vor Sieben dumpfe Motorengeräusche, die über die Felder bis zum Haus dringen. Grelles Scheinwerferlicht zerschneidet den letzten Rest Dunkelheit. Sascha parkt seinen Subaru neben dem Schuppen und steigt aus.
„Morgen“, sagt er und winkt.
„Morgen Sascha, bist aber früh unterwegs.“
„Wollt‘ nur eben die Zinkbleche rüberbringen, hab‘ ich gestern direkt fertiggemacht inner Werkstatt. Könnten wir endlich mal die neue Kanzel aufstellen unten am Herdchen, wird ja langsam Zeit …“
„Ja, hast Recht.“ Ich gehe um den Wagen herum. Neu verpackte Dachpfannen auf der Ladefläche. „Und heute gehste schwarz?“
Er zuckt mit den Schultern. „Von nix kütt‘ nix.“
„Du machst das schon“, sage ich und hebe die Tasse in meiner Hand. „Willste auch einen?“
„Wenn du mich so fragst … die paar Minuten hab‘ ich noch.“

Wir gehen durch die Waschküche ins Innere. In der Küche ist es schon hell, da erste volle Licht, es riecht nach Rosmarin und Wacholder. „Setz dich“, sage ich und zeige auf einen der Stühle. Die Herdplatte ist immer noch heiß, das Wasser im Topf beginnt sofort wieder zu sprudeln.
„Ich freu mich auf die Drückjagd, ehrlich, ich will endlich `ne Sau schießen.“
„Musst einfach nur `n bisschen Geduld haben.“
Er zeigt auf die Trophäe, die im Wohnzimmer über dem Kamin hängt. „Du warst schon überall, hast alles erlegt, was du wolltest – und ich hab erst `n Knopfbock.“
„Besser als nichts, oder?“ Ich reiche ihm die Tasse, und er nimmt die Milchkanne, gießt einen Schluck in den Kaffee, starrt auf die heller werdende Oberfläche.
„Du kriegst `n guten Stand, unten an der Schlafkanzel, direkt neben dem Tierarzt, also mach dir mal keine Sorgen.“
„Danke“, sagt er und nimmt einen großen Schluck. „`s bedeutet mir was.“
Wir trinken schweigend den Kaffee. Im Haus ist es immer noch still.
„Bei wem gehste arbeiten?“, frage ich nach einer Weile.
„Beim Herchenbach, der hat sich da was im Garten gebaut, fürs draußen sitzen, hier Kanasta und Bierchen, und da mach ich ihm das Dach …“ Er bricht mitten im Satz ab.
„Morgen … “ Sie spricht ganz leise, haucht die Worte.
„Emma“, sage ich und drehe mich um. „Meine Tochter, ist ein paar Tage zu Besuch.“
Sascha lächelt, senkt den Blick, dann sagt er: „Hallo“, und verschluckt sich fast. Ihre Wangen sind noch gerötet von der Bettwärme, das Haar fällt ihr in langen, dünnen Strähnen bis auf die Brust. Sie trägt ein ausgewaschenes T-Shirt, so kurz, dass ich ihren Bauchnabel sehen kann, ein ovales, dunkles Loch im Fleisch, auf ihrem Slip eine Comic-Katze mit großen, glänzend schwarzen Augen und Kussmund.
„Das ist Sascha, jagt jetzt bei mir im Revier und hilft mir hier und da, ich werde ja auch nicht jünger.“
Emma lächelt. „Gibt’s noch Kaffee?“, fragt sie, und ich nicke und zeige auf die Holztür, die zum Badezimmer führt. „Der Morgenmantel hängt neben der Dusche.“
Sascha stellt die Tasse auf die Anrichte. „Ich muss auch los, bin sowieso schon spät dran.“
„Ruf mich Montagabend mal an, dann gehen wir nochmal alles durch, und wenn du Zeit hast, machen wir das eben mit dem Ansitz.“ Er nickt, bleibt in der Tür stehen und dreht sich noch einmal um. „Ach ja“, sagt er. „Heute Abend ist `ne Party bei uns in der Scheune, mein kleiner Bruder geht ja demnächst zum Bund, da will er’s vorher natürlich nochmal krachen lassen. Also, wenn du Lust hast … “ Er lacht, ich kenne diese Art von Lachen, ein hinterlistiges, ein dreckiges Lachen, ein Lachen, das etwas verstecken soll, und er sieht nicht mich an dabei, er sieht über meine Schulter.
Ich begleite ihn zur Tür und warte, bis die Rücklichter an seinem Subaru aufleuchten.
„Nett“, sagt Emma. Sie hat sich die Haare hochgebunden und trägt meinen alten Bademantel aus blauem Frottee. „Nett“ wiederhole ich. „Ja, nett und `n bisschen dumm vielleicht …“
„Jetzt sag doch so was nicht!“
Ich lächle. Ich stelle die Tasse auf den Küchentisch. „Willst du frühstücken?“
Sie schüttelt den Kopf. „Mir reicht Kaffee, danke.“
Draußen klart der Himmel auf, ein tiefes, kräftiges Blau, kaum Wolken zu sehen. „Ich dachte, bei dem Wetter, da könnten wir doch ins Siebengebirge fahren, kleine Runde um den Drachenfels, da vielleicht `ne Kleinigkeit essen … was meinst du dazu?“
„Ja, das klingt nach `ner guten Idee“, sagt sie. „Kann ich vielleicht vorher noch schnell duschen?“
„Nimm dir einfach ein frisches Handtuch aus dem Regal.“
Sie nimmt noch einen Schluck und stellt die Tasse auf den Tisch. „Bis gleich“ sagt sie und verschwindet im Badezimmer.

Sie braucht mindestens eine halbe Stunde, so sind die Frauen eben, eine schnelle Dusche, und dann … Ich nehme die letzte Toscanello aus der Packung, zünde sie mit einem Streichholz an und kippe den Rest Kaffee in die Tasse. Draußen wird es wärmer, goldener Oktober, überall Eicheln an den Hecken und auf den Feldfluren, man findet kaum noch grüne, dafür ist das Schwarzwild satt. Sascha sitzt seit dem Sommer an, oft drei, vier Tage hintereinander, aber noch hatte er kein Glück. Fünfzig Stunden für eine Sau, das habe ich ihm von vorneherein gesagt, da hat er noch gelacht. Das Abwarten, die Geduld, das Überwinden und das Bereithalten … auf einfache Wege schickt man nur die Schwachen. Ich zünde die Toscanello an, und der erste Zug, der schmeckt wie Urlaub, der schmeckt nach Italien im Spätsommer - das Branden der Gischt, das stetige Auf und Ab der Wellen, die Schaumkronen weiß und sauber, und das Meer ganz nah, sein Geruch in der feuchten Luft, streng, nach Salz und Tang, das leise Verbrennen des Tabaks, die Gespräche der Italiener im Hintergrund, Männer und Frauen, alt und jung, sie alle reden mit ihren Händen, mit ihren Augen, der Espresso ist stark und schwarz, und noch ein Zug, ein tiefer Zug, meine Brust hebt sich; gegrillte Auberginen, nach Trester duftender Grappa, die leicht gebräunten Waden junger Frauen, die dir einen kurzen, kessen Blick über die Schulter zuwerfen, noch ein Zug, Olivenhaine und rotbrauner Sand und Wein so dunkel wie Molasse … „Alles okay bei dir, Papa?“, fragt sie, ich öffne meine Augen, und da steht sie, Emma, Emma mit den nassen Haaren und der kleinen Furche unterm Kinn, Emma aus Berlin, Emma ohne Freund. „Ich hab` nur gerade von Urlaub geträumt, Toskana oder Tirol, Kiachl mit Sauerkraut, dazu literweise Gewürztraminer, ich kann mich gar nicht mehr dran erinnern, solange ist das her …“
Sie nimmt das Frotteehandtuch, das sie sich um die Schultern gelegt hat und trocknet damit ihre Hände ab. „Du wirst noch richtig fett, wenn du ständig so `n Zeug frisst.“
„Bist du fertig im Bad?“
„Nur noch schnell die Haare föhnen, ok?“

Ich drücke die Toscanello auf einem Stein im Beet aus, packe zwei Flaschen Wasser auf die Rückbank und warte im Wagen. Sie trägt braune Cargohose, eines meiner alten T-Shirts und hat sich die Haare streng nach hinten gebunden.
„Siehst so aus, als hättest du dir was vorgenommen.“
„Nicht, dass du nachher noch dein blaues Wunder erlebst, ich geh nämlich seit letztem Jahr regelmäßig bouldern.“
„Was soll das sein?“
„Klettern, Papa, nur in `ner Halle. Kennst du nicht? Sind quasi künstliche Felsen, ist aber wirklich super Training, besser als Mucki-Bude oder so.“
„Künstliche Felsen“, wiederhole ich, ich sage es so vor mich hin, dann starte ich den Motor.

Während der Fahrt starrt sie aus dem Fenster, still zieht die Gegend vorbei; ausgelaugte Wälder, blattlose Bäume, große Rodungen, auf den Kahlschlägen mannshohe Holzpolter, die auf den Abtransport warten. Dann lange, zerstückelte Felder, Weizen, Raps und Mais, der dieses Jahr nur langsam und schlecht wächst. Auf manchen Schlägen ist schon die Zwischenfrucht ausgesät. Ich meide die Autobahn, fahre über Landstraßen, den Rhein im Blick, vorbei an den großflächigen Baumschulen, wo Setzlinge in langen, horizontalen Linien nebeneinander wachsen, ihre Stämme noch dünn und schwach. Ich bemerke es nicht gleich, aber dann erkenne ich ihn doch, den Duft, den sie verströmt.
„Sag mal, hast du was von meinem After Shave benutzt?“
Sie sieht mich an und lacht. „Schlimm?“
„Nein, aber … Old Spice?“
„Ich mag das“, sagt sie und riecht an ihrem Handgelenk. „Außerdem erinnert’s mich an dich.“
Und so wie sie das sagt, braucht es nichts weiter - keine Antwort, kein Erwidern, nichts. Nur Schweigen, Stille. Ich lächle und hoffe, dass sie nicht sieht, wie bitter dieses Lächeln ist. Während ich weiterfahre, lege ich ihr eine Hand auf die Schulter und reibe ihr Haar zwischen meinen Fingern, es ist immer noch ein wenig feucht.

Das Siebengebirge liegt da im feinkörnigen Nebel, der sich von Minute zu Minute auflöst. Wir sehen zu, wie er immer mehr der zerklüfteten Gipfel preisgibt, von den tief liegenden, sich um die Anhöhe schmiegenden Hängen mit den langen Linien aus Weinreben. Dazwischen Burgruinen, vergessene Bauten, quadratische, graue Gebäude, Bunker, Relikte der alten Bundesrepublik. Ich parke am Hang hinter einer Unterführung. Es ist früh, kaum andere Autos da. Wir steigen aus. Die Luft klar und kühl. Nach ein paar Schritten bleibt Emma stehen, um ihre Jacke zuzuknöpfen. Der Weg beginnt als Schotterweg, der flach ansteigt, durch dichten Wald führt. Ich atme tief durch den Bauch, bis meine Lungen gesättigt sind, der Kopf ganz leicht vom Sauerstoff. Nur das Geräusch unserer Schritte, ein leises Scharren, dann das Singen der Vögel, es klingt weit entfernt und fremd. Das Knarren der Äste, die sich im Wind biegen, die Baumkronen, die aneinanderstreichen.
„Weißt du noch, die Geschichte vom Drachen?“, frage ich und bleibe stehen.
Emma geht ein paar Schritte, legt ihren Kopf in den Nacken und lacht. „Die anderen Kinder redeten alle immer über den blöden Siegfried, aber deine Geschichte fand ich viel besser.“
„Weil es die einzige wahre ist … “
Sie sieht über ihre Schulter. „Du glaubst also, den fiesen Drachen hat’s endgültig erwischt?“
„Endgültig.“
„Da wäre ich mir aber nicht so sicher …“
„Nein, den hat’s erwischt. Glaub mir ruhig.“
Sie lacht noch einmal, dann gehen wir weiter. Die Baumkronen schließen sich über uns, es wird dunkler, stiller, der Anstieg allmählich steiler. Ich spüre ein Ziehen, ein Brennen in den Oberschenkeln, mein Körpergewicht lastet auf den Knien, und Emma hat Recht, ich werde zu fett, ich bin schon zu fett. Wir gehen schweigend nebeneinander, die Hände in den Jackentaschen, atmen ganz konzentriert.
„Bist du eigentlich mal in den Ofenkaulen gewesen?“
„Ewig her“, sage ich. „Aber ja, ich bin mal drin gewesen.“
„Und?“
„Dunkel …“
„Ach komm, jetzt lass dir mal nicht alles so aus der Nase ziehen. Dunkel!“
„Na ja, ist wirklich nichts Besonderes, halt eine Höhle, lange Gänge, dunkel, tief, überall liegen Steine rum, paar Fledermäuse, aber mehr ist da nicht.“
Emma spitzt die Lippen. „Und was hast du da drin gemacht?“
„Was soll ich da groß gemacht haben? Ich war damals `n kleiner Junge, wir wohnten gleich um die Ecke in Rheinbreitbach, und einer von den Älteren wusste eben, wo man da reinkommt …“
„Dann war’s so was wie `ne Mutprobe?“
„Mutprobe, nee, ich weiß nicht. Brauchst doch keinen Mut dafür.“
„Aber `n paar sollen sich da drin schon verlaufen haben“, sagt Emma. „Hab‘ ich jedenfalls gehört.“
„Ja, das glaube ich, das glaube ich gerne, sind ja auch viele Gänge, viele Schächte, aber, weißt du - ich verlauf‘ mich nicht, hab‘ ich noch nie.“
Sie geht ein paar Schritte, bleibt an einer Weggabelung stehen, dreht sich um. „Meinst du, man kommt heute noch da rein?“
Ich sehe ihr Lächeln, wie sie wieder die Augenbraue nach oben zieht. „Nein“, sage ich und schüttele den Kopf. „Ich jedenfalls kenne keinen Eingang mehr, der noch offen ist, wirklich nicht. Kalter Heinrich, das war der letzte, den haben sie schon in den Achtzigern zugemauert. Ist besser so, glaub mir, viel zu gefährlich, da unten ist ja mittlerweile alles einsturzgefährdet. Ist ja fast vierzig Jahre her, dass ich da rumgekrabbelt bin, kannst du nicht vergleichen – das wäre heutzutage leichtsinnig.“

Der Weg führt über einen steilen Abhang, gibt den Blick frei auf das Tal, den Rhein, der durch die Sohle fließt, die Wasseroberfläche quecksilbrig in der Morgensonne. Die Luft hier oben ist kühler, ein schwacher Wind kommt von Südwest, weht durch die Wälder, bringt den Geruch von Kien mit sich, warm, erdig, eine Ahnung Terpentin. Das Atmen fällt mir leicht. Über den Hang, danach senkt sich der Weg in eine lange Gerade. Treppen führen zu einem asphaltierten Weg. Der Wald wird lichter. Ich kann die Umrisse eines Gebäudes erkennen, die symmetrischen Muster alten Fachwerks, der große, ausgestellte Erker, die grünen Schirme auf der Terrasse.

Das Milchhäuschen wirkt verlassen. Zwei Gäste an einem Tisch neben dem Eingang, ein älteres Pärchen, die an ihrem Kaffee nippen und aus den Fenstern starren. Ich warte am Tresen, bis die Bedienung in dem schmalen Durchgang zur Küche erscheint. In den hinteren Räumen ist es dunkel, und sie eine Erscheinung – groß, breit, mit einer cremefarbenen Schürze und einer altmodischen Bluse. Sie nimmt einen Bleistift aus einer Tasse, die neben den Spirituosen im Regal steht und notiert sich die Bestellung: eine Tasse Kaffee, draußen aber nur Kännchen!, ein Glas stilles Mineralwasser, einen Latte Macchiato. „Sie sitzen also draußen?“, fragt sie und sieht stirnrunzelnd an mir vorbei durch die offen stehende Tür. Der Wind hat ein paar Blätter auf den Tritt geweht. Eine Gruppe asiatischer Touristen bleibt vor dem Cafè stehen, wahrscheinlich Japaner. Sie tragen Kameras um den Hals, teuer und zerbrechlich aussehende Geräte, sie lachen, ein neugieriges Lachen, dann nicken sie und beginnen, Fotos zu schießen, eins nach dem anderen, ihre Hände umklammern die Apparate, die Finger bleiben in Bewegung. Klick, klick, klick.
„Ja, auf der Terrasse.“
Die Bedienung seufzt. „Gut, bringe ich.“

Emma hat sich ganz nach hinten gesetzt, weit weg von allen, an einen der runden, weiß lackierten Tische. Sie hält die Getränkekarte in den Händen und sieht auf, als ich mich neben sie setze.
„Hier war ich schon ewig nicht mehr.“
„Ist ja nicht viel los.“
„Besser so, haben wir unsere Ruhe.“ Ich greife in die Innentasche meiner Jacke und hole die Toscanello heraus. Als ich mir einen Zigarillo anzünde, schüttelt sie den Kopf und sagt: „Dass du immer noch rauchst …“
„Warum, wieso? Ich hab‘ doch nie nicht geraucht, du kennst mich doch nur so, als Raucher, rauchend.“
„Aber ich glaub‘, ich kenn‘ sonst wirklich niemanden, der raucht, also so“, sagt sie und zeigt auf den Zigarillo, der brennend in meinem Mundwinkel hängt, „ich meine, du rauchst ja echt wie `n Schlot, oder?“
„Ich rauche gerne“, sage ich. „Entspannt mich einfach.“
„Ja, und Mutter musste davon immer husten …“
„Nein, das stimmt nicht, da ist doch gar nicht wahr, sie hat immer so getan, als ob … nein, die musste davon nicht husten, die …“
„Der Kaffee, der Latte Machiatto und das Wasser?“ Die Bedienung stellt das hohe, schlanke Glas mit dem Machiatto vor Emma auf den Tisch, dann nimmt sie das Kännchen vom Tablett, dreht es mit dem Griff zu mir und platziert es auf einem aufgeweichten Bierdeckel.
„Vielen Dank“, sage ich, und sie nickt und stellt noch die Tasse neben die Kanne. Es ist eine einfache, weiße aus billigstem Porzellan, der Rand an einigen Stellen schon abgebrochen. „Kann ich dann auch gleich zahlen, ja?“ Sie bleibt neben mir stehen, öffnet langsam das Portemonnaie aus schwarzem Leder, das sie um ihre Hüften trägt. Ihre Finger sind breit, die Handrücken rot vom vielen heißen Wasser, vom Spülen, von der Arbeit. Ich höre, wie sie den Preis nennt, aber ich denke an etwas anderes - an das Husten meiner Ex-Frau, ihr Gesicht, wie sie sich immer so krümmte, als müsse sie sich gleich erbrechen. Dabei war es nur heißer Rauch. Ich reiche der Bedienung einen Zehn-Euro Schein und sage: „Stimmt so.“
Emma legt beide Hände um das Glas, nippt am Milchschaum. „Weißt du, früher, da war es so, früher hat deine Mutter es geliebt, wenn ich Pfeife geraucht habe … da saßen wir zusammen auf der Couch im Wohnzimmer, sie hat gelesen und ich habe geraucht, und da hat sie nie gehustet, nicht ein einziges Mal.“
Emma zuckt mit den Schultern. „Ist ja auch egal.“
„Nein, ist es nicht, es ist überhaupt nicht egal.“ Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Die Metallstreben drücken sich durch den Stoff meiner Hose. Sie nimmt einen Schluck. „Und mit den Hunden?“
„Was ist mit den Hunden?“
„Du hast gesagt, du verkaufst welche nach Schweden …“
„Ja, ja, das stimmt, nach Schweden, überleg dir das mal.“
„Wenn sie da glücklich sind …“
„Es sind Jagdhunde, Emma.“
Sie nickt. „Kümmerst du dich eigentlich noch um was anderes, als um deine Hunde?“
Die Japaner stehen auf dem Schotterweg in Gruppen zusammen, sehen auf die Kameradisplays, ihre Gesichter leuchten, sie sprechen so leise, als sprächen sie mit sich selbst. „Wo mehr als Vier zusammenhocken, da wird’s ein Deppenhaufen, oder?“ Sie lacht, und ich lege meine Hand auf ihre, die klein wirkt, so klein, immer noch wie die Hand eines Kindes.

Wir lassen uns Zeit, trinken langsam, reden kaum, und wenn, dann nur small talk, über diesen und jenen alten Nachbarn, über Fahrräder mit Elektromotor, äthiopisches Essen, das sehr gut schmecken soll, und den Klimawandel, über den Emma natürlich besser Bescheid weiß als ich. Dann stehen wir auf und gehen. Früher Nachmittag, mehr Betrieb, Wanderer, Mountainbiker, Touristen. Ich kann sie alle riechen – ihr Eau de Cologne, ihre Seifen, der Schweiß, der ihnen aus den Poren dringt. Ich lege meine Hand auf Emmas Schulter, unsere Hüften berühren sich immer wieder, wir gelangen wieder in den Wald, unsere Schritte ganz leise auf dem Boden, der mit feuchten, braunen Nadeln bedeckt ist. Einmal die große Runde um den Lohrberg, wie früher, die metallisch glänzenden Sendeantennen ragen noch in den Horizont, dabei sind die Stationen längst abgestellt, es bleiben stumme Zeitzeugen, die Ära Adenauer, Kohl, Bonn als Hauptstadt, funktionierende Familien und loyale Ehefrauen, treue Ehefrauen, genügsame Ehefrauen … Emma hält an einem der sanft abfallenden Hänge, unten im Tal das Rauschen des Mirbesbach, vor uns erstreckt sich eine nackte Landschaft. Die Erde zerrüttet durch die Spurrillen der Harvester, überall liegen Fetzen heller Baumrinde, über die Stümpfe wächst Holunder, Schwarzdorn, wo früher Wald war, ist jetzt eine einzige Verletzung.
„Ist überall so“, sage ich. „Ist alles kaputtgegangen.“

Auf der Rückfahrt lege ich eine CD von George Brassens ein. Die leise gezupfte Gitarre, die sonore Stimme, die weichen Farben des Nachmittagslicht. Wir fahren, schweigen, ich muss an die Japaner denken, die durch die tiefen, deutschen Wälder stolpern, dabei ein Photo nach dem anderen schießen, wahllos tausende von unbedeutenden Momenten aneinanderreihen. „Doch“, sage ich, ich will es nicht sagen, tue es aber trotzdem, „`s gab da schon jemanden … Anfang des Jahres, ging nicht besonders lang, paar Monate nur, `ne Arzthelferin aus Hennef.“
Emma legt den Kopf auf ihre linke Schulter. „Warum erzählst du mir das?“
„Weil ich dachte, `s würd‘ dich vielleicht interessieren.“
„Nein, warum erzählst du mir das jetzt, auf der Rückfahrt, meine ich. Warum nicht in dem Cafe?“
„Hattest du mich denn gefragt?“
„Du hast das schon richtig verstanden, glaube ich …“
„Ich kann das einfach nicht, mich auf so was einlassen …“
„Auf was denn einlassen?“
„Du hast das schon richtig verstanden“, wiederhole ich, und da wendet sie den Blick ab und sieht wieder aus dem Seitenfenster.

Als ich in den Hof abbiege, sehe ich Saschas Toyota vor dem Haus stehen. Ich parke neben dem Zwinger, steige aus, lasse aber die Schlüssel stecken. Er sitzt auf den Treppen, eine halb gerauchte Zigarette zwischen den Fingern.
„Hannes“, sagt er, als er mich sieht. Er steht auf, sieht auf die Zigarette, auf Emma, dann gleitet sein Blick an meiner Schulter hinab ins Leere.
„Hannes, ich …“
„Ja? Was denn los? Immer raus damit.“
„Mir ist da was passiert. Unten an der Schönen Aussicht.“
„Was ist dir passiert?“
„Ich, also ich … ich hab‘ gedacht - ich hab‘ mittags angesessen, und da …“
Er schüttelt den Kopf, fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. Emma geht an mir vorbei, und ich höre, wie sie die Haustür aufschließt.
„Also was ist los?“
„Ich hab` angesessen, weil … da hatten wir doch drüber geredet, weil ich nur den einen Knopfbock hab‘, und …“
„Komm, hör auf, Sascha, jetzt sag schon.“
„Da kam `n Bock auf den Wildacker, `n Sechser, und den hab‘ ich mit dem Glas beobachtet, und auf einmal steht `ne Ricke neben dem …“
„Und du konntest den Finger nicht gerade lassen?“
„Der stand breit, ich bin perfekt abgekommen, guck durchs Feuer, repetiere, aber dann, die steht da, die bleibt stehen, als wäre nix passiert, ich weiß auch nicht, und dann zieht der Bock übers Feld und is‘ weg.“
„Weg?“
Sascha nickt.
„Und Schweiß?“
„Ich hab nicht geguckt, Hannes, ich war so baff, ich …“
„Du warst so baff?“
„Hannes, scheiße, ich weiß, aber …“
Ich nicke in Richtung seines Toyota. „Nix aber, wir müssen nachgucken gehen, was denkst du denn, aber sofort! Ich geh meine Büchse und den Hund holen, und dann los.“

Er fährt schneller, als erlaubt. Ich halte mich an der Mittelkonsole fest und starre auf die blauen Adern an meinem Handgelenk. Meine Zunge klebt trocken am Gaumen. Bargo im Zwinger auf dem Rücksitz. Sie hechelt, stößt gegen die Gitterstäbe, spürt die aufgeladene Stimmung, die Nervosität. Ich drehe mich auf dem Sitz um, streiche ihr über die Schnauze, heißer Atem, das Zittern der Muskeln. „Nächste Woche, Sascha, nächste Woche ist die Drückjagd, verdammt. Paar Tage nur, paar Tage hätteste stillhalten müssen.“
„Ich weiß, Hannes. Tut mir leid, echt. Keine Ahnung, was da mit mir los war.“
„Gierig! Gierig biste geworden. Da reicht der Knopfbock nicht mehr, da muss noch schnell was anderes her, damit du abends bei der Party den großen Zampano machen kannst. So ist es doch, oder?“
Sascha schweigt.
„Das sind wir der Kreatur einfach schuldig, das ist das Mindeste – sauberer Schuss, und wenn da was schief läuft, auf jeden Fall sofort nachsuchen, das Tier von seinem Leid erlösen, das gehört sich so.“

Es dämmert bereits, als wir am Feldrand halten. Der Wind weht mir kalt ins Gesicht, er hat gedreht, kommt scharf aus Norden, was er in der Gegend selten tut. Ich öffne den Zwinger und lege Bargo den Schweißriemen an, sie versucht sofort, loszuziehen, ihr kräftiger Körper spannt sich an, sie senkt die breite Brust, hält die Nase tief, nimmt Witterung auf, ich kann sie kaum mehr halten.
„Wo ist der Anschuss?“
Sascha sieht über das Feld, zeigt auf eine Totholzhecke, zuckt mit den Schultern. „Da hinten.“
„Hast du nichts markiert?“
Er schüttelt den Kopf und senkt den Blick. Dann sagt er leise: „Nein, hab‘ ich nicht, ich hab nichts markiert.“

Wir gehen los, Sascha ein paar Schritte hinter mir, langsam, schwerfällig. Bargo zieht vorneweg, die Nase unten, auf dem feuchten Boden, sie schlägt einen Haken, rechts, links, korrigiert sich selbst.
„Musst immer den Anschuss markieren“, sage ich, Sascha bleibt stehen, und ich höre, wie er ausatmet.
„Denk nächstes Mal dran, ja?“
Er geht an mir vorbei, über das Feld, bis an den äußersten Rand, der mit dünnem Farn und Springkraut bewachsen ist. Dahinter beginnt der Wald; die Baumwipfel zeichnen sich scharf vor dem wolkenlosem Himmel ab, in den Rückegassen ist es schon dunkel. Blaue Stunde. Ich suche nach Anschußzeichen, mein Blick schweift über den Boden, Bargo zieht stärker, hechelt, es ist anstrengend, die Erde ist aufgeworfen, tief, jeder Schritt mühsam, der Puls schlägt bis in die Kehle, und auf der Zunge der Geschmack von Kupferpfennigen. Bargo bleibt am Feldrand stehen, den Fang kurz über der Erde. Da ist ein handtellergroßer Fleck, Schweiß in großen Tropfen, dunkel, fast schwarz, kleine Gewebestücke. Ich berühre die Stelle mit den Fingerspitzen, das Blut ist noch feucht, noch frisch.
„Leber“, sage ich und hebe eins der Stücke auf, zerkaue es langsam, ein bitterer, metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. „Vielleicht auch Milz.“ Ich stehe auf, leuchte den umliegenden Bereich mit der Taschenlampe ab, Bargo bellt, kurz, laut, will arbeiten, ein paar Schritte weiter auf der Grasnarbe die ersten Ausrisse der Flucht, mehr Schweiß, ich schnalle den Hund, der mit einem entschlossenen, weiten Sprung über das Gebüsch in der Dunkelheit verschwindet.

Durch einen flachen Siefen, unten brackiges Wasser, ein stehendes Rinnsal. Der Hang ist steil, abschüssig, überall Holunder und morsche Baumstämme, ich gehe langsam, setze immer einen Fuß vor den anderen, bleibe im Gleichgewicht. Der Gewehrriemen reibt über die dünne Haut an meinem Hals, eine offene Stelle zwischen Hemd und Jacke, ich ziehe den Riemen auf die Schulter, der kurze, dicke Lauf der Mauser ganz nah am Knochen - ich spüre das Gewicht, das kühle Metall der Waffe. Bargo vorneweg, ihr gedrungener, muskulöser Körper wird unter der Anstrengung leichter, die Bewegungen elegant, das Suchen der Fährte ein Tanz. Zehn Meter voraus, sie zieht mit ihrer ganzen Kraft, und dann schlägt sie an, ein knappes, lautes Bellen, ich folge mit großen Schritten, ein Ast schlägt mir die Mütze vom Kopf, Dornen kratzen über meinen Handrücken, als ich sie wieder aufhebe.

Die Lichtung liegt am Ende des Waldstücks, eine gerodete, breite Fläche, umgeben von Schwarzdorn, der schon kniehoch steht. Schweiß, abgestriffen auf einem Stück feuchtem Gras, nur ein paar Sprenkel, dann eine kleine, dunkle Lache, in der sich das letzte Tageslicht spiegelt.
„Wie lange ist das her?“ frage ich, Sascha bleibt hinter mir stehen.
„Heute Morgen, gegen zehn vielleicht, ja, zehn, halb elf.“
„Ist lange krank, liegt im Wundbett, vielleicht schon verendet, der Bock.“ Sascha nickt stumm, ich sehe an ihm vorbei auf Vierheilig, es liegt ein pulsierender Schimmer über dem Dorf, als stünde es in Flammen, ein großes Feuer, weit entfernt am Horizont.

Bargo stöbert im Gebüsch, findet einen Weg, ein verwilderter Tritt, der uns wieder in den Wald führt, zurück auf weichen, laubbedeckten Boden, weiter in die Fuhrt eines ausgetrockneten Flusses, über Steine und umgestürzte Bäume, bis vor einen Bestand junger Birken. Die Stämme sind nicht dicker als mein Arm, aber sie stehen dicht gedrängt, ganz eng beieinander, kaum Platz für ein Hindurchkommen; eine natürliche Grenze. Und Bargo, unermüdlich, ihre Instinkte zeigen ihr den Weg, das Tier kennt nur das Wollen, nur den drängenden Impuls, Beute zu finden, die Beute ist die Ursache ihrer gesamten Existenz. Um die ersten Birken herum, ihr Gewicht stemmt sich gegen Riemen, und ich bedeute Sascha, er soll sich einen Weg suchen, ab auf die Knie, über den lehmigen Boden, und unter einem Stamm, kriechen, auf allen Vieren. Ich gehe, bis der Bestand ein wenig lichter wird, aber es geht nicht hindurch. Ich ziehe am Riemen, aber Bargo lässt nicht locker, sie hastet weiter, folgt einer Spur, verliert sie wieder, korrigiert sich selbst. Dann tut sich ein Siefen vor uns auf, Bruchsteine säumen die Flanken, Überreste einer Brücke, unten ein tiefes, morastiges Loch. Ich stelle einen Fuß in den Abhang, um mich abzustützen und mir Überblick über das Terrain zu verschaffen. Sascha leuchtet mit seiner Taschenlampe über den Grund, und da hebe ich die Hand – Schweiß, ein paar Tropfen nur, im grellen Licht glitzern sie hellrot auf dem dunklen Untergrund.
„Hier“, sage ich, ich spüre Bargos warmen Körper an meinem Unterschenkel, sie umkreist den Schweiß mit ihrem Fang, nimmt die Witterung wieder auf, ich höre sie atmen, Speichel an ihren Lefzen, dann ein lautes Bellen, und sie ist weg, die Flanke hinunter bis ins flache Wasser.

Sascha stöhnt. Als ich mich umdrehe, fährt er sich mit der Hand über das Gesicht, als sei es ein Versehen gewesen.
„So ist das eben“, sage ich. „Jeder ist für seinen Schuss selbst verantwortlich.“
„Meinst du, wir finden den Bock noch?“
„Warum, hast du was Wichtigeres vor?“
Er beißt sich auf die Unterlippe und schüttelt den Kopf.
„Saufen kannst du später immer noch …“
Wir folgen dem Verlauf des Siefen, vorbei an verrosteten Kulturzäunen, überwucherten Holzpoltern und alten Autoreifen. Es ist dunkel, die Luft zieht kalt vom nassen Boden herauf, mit jedem Schritt wird die Welt mehr zu einem abstrakten Schwarz-Weiß.

Als wir wieder am Toyota ankommen, trockne ich Bargo mit einem Handtuch das Fell, streichele ihr sanft über die Schnauze, dann frisst sie ein Stück Trockenfleisch aus meiner Hand und springt auf den Rücksitz. „Das ist Jagd“, sage ich zu Sascha, der neben der offenen Fahrertür steht und eine Zigarette raucht. Ich nehme das Magazin aus meiner Büchse und lege sie in das Futteral. Auf der Rückfahrt sprechen wir nicht. Das Haus liegt ruhig da. Sascha hält mit laufendem Motor in der Einfahrt und legt beide Hände auf das Lenkrad. Er atmet tief ein, wartet ab, legt sich die Worte zurecht, dann sagt er: „Tut mir wirklich echt leid.“
Ich öffne die Beifahrertür. „Das nützt dem Bock aber nichts, dass es dir leid tut.“
Er legt eine Hand auf den Schaltknüppel und sieht in den Seitenspiegel.
„Montagabend …“, sage ich noch und schließe die Tür. „Wir sehen uns Montagabend.“

Ich schultere die Büchse und lasse Bargo vom Rücksitz, sie knurrt leise, wartet neben mir, dann legt Sascha den Rückwärtsgang ein. Die Reifen des Toyota graben sich durch Buntkies, das gedämpfte Rot der Rückleuchten erhellt für einen Augenblick das Schieferdach und die holzverkleidete Wand des Hauses. Ich schließe das Gatter auf, und Bargo drückt ein letztes Mal ihre Schnauze gegen meine Hand, ich streichele über ihren Kopf, reibe die Enden ihrer Ohren zwischen meinen Fingern, sie dreht sich auf den Bauch und streckt sich aus. Ich schließe das Gatter ab, bleibe unter dem Geweih stehen, das über der Tür hängt – ein Zwölfender, den ich vor Jahrzehnten in Norwegen erlegt habe. Wie er an der Lichtung auftauchte, aus dem Nichts, ein Geist, und wie er da im tiefen Schnee stand, mit seinem mächtigen Kopf, erhaben und furchtlos.

Nachdem ich die Haustüre aufschließe, fällt mir die Stille auf; da ist kein Geräusch, das aus der Tiefe zu mir dringt, nichts. Die Zimmer im Untergeschoss dunkel, kalt, verlassen. Auf der Treppe Emmas Rucksack und ihre Wanderstiefel. Ich klopfe gegen die Badezimmertür, warte, klopfe noch einmal. Dann lege ich die Büchse auf den Küchentisch, hole das Handy aus meiner Jackentasche, wähle ihr Nummer. Die Mailbox springt an. Ich lege auf, stecke das Handy wieder in die Tasche und gehe nach oben, lasse dabei das Licht ausgeschaltet. Die Tür zu ihrem alten Zimmer steht offen, ich zögere, gehe schließlich doch hinein. Ich knipse die Lampe über dem Schreibtisch an. Ihre Sachen liegen auf dem Bett verstreut – Hose, Socken, mehrere Oberteile, Duschgel, Seifen, Lippenstifte. Der ganze Raum duftet nach ihr. Mein Blick bleibt bei der gerahmten Photographie hängen, die sie immer gemocht hat, die ihr nie peinlich wurde, wie so viele andere. Auf dem Photo, da war sie fünf oder sechs Jahre alt, sie hatte sich an einer Tischkante gestoßen und eine Platzwunde an der Augenbraue, die im Krankenhaus geklebt wurde. Sie steht in der Küche, neben dem Kühlschrank, die Lippen aufeinandergepresst, mit einem Auge halb schielend, das Gesicht noch ein wenig blutverschmiert, ganz das beleidigte kleine Kind. Ich muss lachen, setze mich auf die Bettkante und strecke meine Hand aus, lasse sie auf der Decke liegen, die ganz klamm ist. Stille, ich höre auf die Stille, die im Haus so allgegenwärtig geworden ist. Eine Stille, die jahrelang andauert, die kein Ende nimmt. Ich schließe die Augen, sehe, wie es früher war: Lachen, Musik, American Beauty von Grateful Dead, die Gerüche einer Küche, die ständig benutzt wird, der feuchte, warme Wasserdampf, der unter den Badezimmertüren hervordringt, das Kommen und Gehen, Schritte auf der Treppe, das Knarren des Holzes, die kühle Luft, die durch das Untergeschoss weht, die dichte, volle Wärme des Feuers, das Reden und Lesen, das Essen am Tisch, das Leben. Ich verweile ein paar Augenblicke in diesem Tagtraum, dann stehe ich auf, gehe wieder nach unten und nehme die Autoschlüssel von der Kommode.

Im Auto riecht es nach kaltem Rauch und Hundefell. Ich bleibe im Dunkeln sitzen, lehne mich im Sitz zurück, hole das Handy aus der Jackentasche, wähle noch einmal ihre Nummer. Wieder die Mailbox. Bargo bellt, als ich losfahre, ich sehe sie hinter den Gitterstäben aufgeregt und mit wedelndem Schwanz hin und herlaufen. Während ich auf die Landstraße abbiege, lege ich das Handy mit dem Display nach oben auf das Armaturenbrett. Es leuchtet kurz auf, die Digitaluhr zeigt Viertel nach Zehn an. Ich schalte das Fernlicht an, auf den Feldern sitzen ein paar Hasen zusammen, Katzen lauern auf niedrigen Mauern, die die Grundstücke begrenzen, das Licht reflektiert grün in ihren schmalen Augen. Sie feiern in der Scheune, hat Sascha gesagt, ich drossele das Tempo, biege rechts in eine Gasse, vorbei an einem der Gehöfte, das auf selbst gemalten Plakaten schon mit dem Verkauf von Weihnachtsbäumen wirbt. Am Ende einer Stichstraße steht das Haus von Saschas Eltern, ein dreistöckiger Bau aus der Gründerzeit, umgeben von einer halb verfallenen Mauer aus rotem Backstein. Weiter im Schritttempo. Ein paar Jugendliche sitzen auf der Treppe vor dem Haus, rauchen Zigaretten, halten Bierflaschen in den Händen, lachen. In dem Verbindungsweg hinter dem Haus parke ich den Defender neben ein paar Mülltonnen und steige aus. Ich lasse den Schlüssel stecken, lehne die Fahrertür an. Mir kommen zwei Jungs entgegen, sie tragen Baseballkappen und weite Parkas, ich nicke ihnen zu und frage: „Ist das hier die Party von Saschas Bruder?“, einer antwortet im Vorbeigehen, genau das isse‘. Ich atme ein, die Luft ist kälter geworden, riecht nach Winter und nassem Laub. Das Tor vor dem Haus steht offen, neben dem Eingang parkt Saschas Toyota, auf der Ladefläche liegen abgepackte Dachsparren und Bitumenfolie. Warmes Licht hinter den Fenstern der unteren Etage, die Haustür steht offen, dahinter Bewegung, ein stetiges Kommen und Gehen, Musik, auf den Treppen immer noch die gleichen Jugendlichen. Sie können kaum älter als Emma sein, das sehe ich an ihren Gesichtern, die so unverbraucht und neu sind, und aus ihren Blicken spricht nichts als Neugierde, Neugierde und Unwissenheit. Ihr Lachen verstummt, als ich vor der ersten Stufe stehenbleibe und die Hände aus den Taschen nehme.
„Wo kann ich den Sascha finden, auf der Party oder in der Scheune?“
„`n Abend erstmal“, sagt ein Junge, er hat blonde, lange Haare, sein weißes Hemd trägt er halb offen über der schwarzen Jeans.
„Ist dir nicht kalt?“
Er prustet, schüttelt den Kopf und nimmt ein Schluck aus seiner Flasche Bier. „Nee, mir ist nicht kalt, auf keinen Fall.“
„Okay“, sage ich. „`n Abend erstmal“, und er zuckt mit den Schultern. „Ich such den Sascha aber immer noch.“
„Dem geht’s nicht so gut“, sagt eines der Mädchen, „der war kurz hier, vor `ner Stunde oder so, ich glaub‘, der ist oben auf seinem Zimmer.“
„Was wollen Sie denn von dem?“ Der Junge mit dem weißen Hemd dreht die Bierflasche zwischen den Händen, nimmt noch einen kleinen Schluck.
„Nur kurz was fragen, ich will ihn nur was fragen.“
„Hat der etwa Scheiße gebaut?“
Ich schüttele den Kopf. „Geht um was auf `ner Baustelle, nein, der hat keine Scheiße gebaut.“
„Dann ist ja gut.“
„Könnt ihr mir `n kleinen Gefallen tun?“
Der Junge stöhnt auf. „Gehst du“, sagt er leise, und das Mädchen nickt und steht auf.
„Danke dir.“ Ich gehe ein paar Schritte zurück, warte in der gekiesten Einfahrt. Der Junge stellt die leere Flasche auf die Fensterbrüstung. „Auch `n Bier, Meister?“
„Ich muss noch fahren.“
„Na, wer nicht will, der hat schon“, sagt er und verschwindet dann im Haus.

Sascha erscheint einen Augenblick später in der Diele, bleibt im Türrahmen stehen. „Hannes?“, fragt er und fasst sich kurz ans Kinn. „Was … hast du den Bock doch noch gefunden?“
Ich bedeute ihm mit einer Handbewegung, zu mir zu kommen.
„Können wir in Ruhe sprechen.“
Er kommt die Treppe runter, bleibt vor mir stehen, ich kann an seinem Atem riechen, dass er jede Menge Hochprozentiges getrunken hat. Er hält die ganze Zeit den Blick gesenkt, und als ich sage: „Nein, ich habe den Bock nicht gefunden“, da schüttelt er den Kopf und atmet schwer aus. „Ich, verdammt, das ist so eine Scheiße, Hannes, ich weiß echt nicht, wie mir das passieren konnte, also …“
„Passiert ist passiert.“ Ich lege eine Hand auf seine Schulter. „Reden wir Montagabend drüber, und dann kannst du mir auch mal verraten, wer dir den Bock überhaupt freigegeben hat.“
„Hannes, ich wollte …“ – „Aber deswegen bin ich gar nicht hier, Sascha“, unterbreche ich ihn. Er hält inne und sieht mich mit einem Stirnrunzeln an.
„Meine Tochter, ist die hier, auf der Party?“
„Deine Tochter?“
„Du hast sie heute Morgen gesehen. Ist sie vielleicht hier?“
„Nein, also nee … da würd‘ ich mich sicher dran erinnern, hundertprozentig, wenn die hier wäre, nee.“
„Bist du dir sicher?“
„Hannes, ich … klar.“
„Okay“, sage ich und schüttele ihn ein wenig durch. „Montagabend.“
„Ist denn was passiert, ich meine, mit deiner Tochter …“
„Ist nichts passiert, nein, war sicher nur ein blödes Missverständnis, kennst das doch.“
„Okay, dann …“
„Und trink nicht so viel.“ Als ich gehe, wird die Musik lauter, dumpfer, dröhnender Bass, der die Fenster vibrieren lässt. Eine Flasche zerbricht auf den Treppenstufen, der laute und grelle Schrei eines Mädchens, danach lautes Lachen.

Ich fahre nicht schneller als vierzig Stundenkilometer. Fernlicht. Das Display des Handys immer im Blick. Einmal um das Karree aus Feldern, an der Bushaltestelle vorbei, der baufälligen Kapelle, über deren Restauration die Lokalpolitiker seit Jahrzehnten streiten und an der man noch die Einschusslöcher der Amerikaner sehen kann, 97th Army Division, die großen Befreier. Ich fahre bis Vierheilig, Geschäfte säumen die Hauptstraße, alle geschlossen, die Neonreklame über der Orthopädie RAHM blinkt, an den meisten Wohnhäusern sind die Rollladen heruntergelassen. Im Wendehammer der Grundschule drehe ich. Emma war die ersten vier Jahre hier, ihre Klassenlehrerin hieß Frau Frank, eine zugeknöpfte, alte Dame, die SPD wählte und das auch jedem mitteilte, aber Emma war immer eine gute Schülerin, eine sehr gute Schülerin, sie hat nie Ärger gemacht, nie.

Ihr Körper auf weite Entfernung zuerst nur eine Ahnung in der Dunkelheit, doch dann, im grellen Scheinwerferleicht, da bin ich mir sicher. Sie geht auf dem schmalen Weg zwischen Asphalt und Feld, im Schatten der hohen Maispflanzen. Sie trägt einen Lodenmantel von mir, mit braunen Lederapplikationen auf den Schulterpartien, ihre Haare sind zu einem dünnen Zopf gebunden. Ich überhole sie, halte mit laufendem Motor und schalte den Warnblinker an. Als ich höre, wie ihre Schritte näher kommen, mache ich den Motor aus und steige aus dem Wagen.
„Emma.“
Sie hebt die Plastiktüte hoch, die sie in der Hand hält. „War nur kurz bei der Tankstelle“, sagt sie. „Ist doch okay, oder?“
„Warum hast du denn nichts gesagt, ich meine …“
Sie zieht einen Mundwinkel nach oben. Das Geräusch von klirrendem Glas aus der Tüte. „Wieso, du hattest was zu tun, und da dachte ich, wird schon in Ordnung sein.“
„Ja, aber … ich meine, alleine rumlaufen, mitten in der Nacht, da kann doch sonst was passieren, Emma, du musst …“
„Was soll denn da schon groß passieren? Also Papa, wirklich, schon vergessen, ich leb‘ in Berlin.“
„Das macht es auch nicht besser.“
„Jetzt reg dich nicht auf.“
„Ich reg mich nicht auf, ich …“
„Du hattest kein Bier mehr, das war alles, alles gut.“
„Bier“, wiederhole ich, und sie nickt. „Ja, Bier.“ Dann greift sie in ihre Jackentasche und holt eine Schachtel Marlboro lights heraus. „Und die hier.“
„Zigaretten?“
„Ja, hatte ich irgendwie Lust drauf, keine Ahnung, `s ist einfach nix mehr für mich, hab auf dem Weg eine geraucht, aber nach der Hälfte weggeschmissen.“
„Du hast mal geraucht?“
„Hab vor zwei Jahren aufgehört.“
„Okay“, sage ich. „Na dann.“
Das Licht im Fond geht automatisch aus, wir stehen uns in der Dunkelheit gegenüber. Der Himmel ist sternenklar. Ich erkenne den großen Wagen, da ist noch eine andere Formation, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. „Fahren wir wieder nach Hause?“

Sie stellt die Tüte in das Fach auf der Mittelkonsole und schließt die Beifahrertür. „Was war denn los?“
„Ach“, sage ich und starte den Motor. Ich fahre weiter bis zur nächsten Kreuzung, biege in einen Forstweg ab, nehme eine Abkürzung. „Der Sascha, das ist … Weißt du, der ist noch jung, da denkt man einfach nicht richtig nach. Konnte seinen Finger nicht grade lassen, weil er auf seiner Party da rumprahlen wollte, was für ein toller Hecht er doch ist, und dann, dann passiert so was eben.“
„Habt ihr den Bock gefunden?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, haben wir nicht. Alles versucht, Bargo hin, zurück, Spur verloren … manchmal ist das so, da kannst du alles machen, und am Ende nützt es nichts.“ Eine Weile schweigen wir, fahren einfach. Dann dreht sie ihren Kopf zur Seite, sieht mich an und fragt: „War es der, den wir heute gesehen haben, der alte?“
Ich zucke mit den Schultern. Sie sinkt zurück in den Sitz, vergräbt den Körper in meinem Mantel, der ihr viel zu groß ist. Dann höre ich, wie sie einatmet, tief und langsam. Der Mond eine schmale Sichel, die weit weg scheint, über den Wäldern, hinter der Ville. „Nein“, sage ich dann, als ich hinter den Kiefern das Haus erkenne, mein Haus, unser Haus, unser Zuhause. „‘s war nicht dein Bock, nicht der alte, es war irgendein anderer. Kannst mir ruhig glauben, ehrlich.“
Sie sagt nichts. Sie lächelt nur.

Später sitzen wir vor dem Haus auf der niedrigen Holzbank. Die Planken sind feucht, aber das macht nichts. Emma öffnet ihr zweites Bier und stellt die Dose auf die Erde vor der Bank. „Sag mal, hast du dir echt Sorgen gemacht?“
„Was meinst du?“
„Wegen eben … Ich war wirklich nur kurz bei der Tankstelle …“
„Ja“, sage ich. „Weiß ich doch.“ Ich nehme einen Schluck. Ich hatte lange kein Bier mehr. Es ist kalt und schmeckt metallisch. „Mir ist das auch mal passiert“, sage ich auf einmal, ich weiß gar nicht warum. „Früher hat mich immer das Jagdfieber gebeutelt – aber so richtig schlimm ...“
„Ja?“
„War damals auch so alt wie der Sascha, und `ne ganz ähnliche Geschichte. Von nichts `ne Ahnung, aber Hauptsache große Klappe.“
Sie lehnt sich zurück, für einen Moment betrachten wir den Mond, der ganz langsam hinter den Baumkronen verschwindet. „Weißt du, was seltsam ist?“, fragt sie und holt die Zigaretten aus der Tüte. „In Berlin, in der WG, da ist mein Zimmer eigentlich viel kleiner als hier, aber …
„Ja“, unterbreche ich sie, „ich weiß schon, was du meinst.“ Sie hält mir die offene Schachtel hin, es sind rote Marlboro. Ich ziehe eine Zigarette heraus, spüre den Filter weich und elastisch an meinen Lippen. „Hab schon ewig keine mehr geraucht“, sage ich, und sie lacht und nimmt sich auch eine aus der Schachtel. Wir sitzen nebeneinander auf der Bank, der Mond ist längst hinter den Bäumen verschwunden.
„Hast du mal Feuer?“, fragt sie, und ich hole das alte Zippo aus meiner Jackentasche.
„Ich dachte, du hast aufgehört?“
„Heute nicht“, sagt sie. Ihr Gesicht leuchtet im Schein des Feuers kurz auf, dann sehe ich nur noch die Glut in der Dunkelheit.

 

Hey Jimmy, ich hoffe, es geht Dir gut in dieser verrückten Zeit.

Gefällt mir sehr, Deine Jägergeschichte. Ich schreib einfach mal ungeordnet, was ich dazu denke.

Zunächst einmal fällt mir auf, wie viel Arbeit da drin steckt, und damit meine ich nicht nur die genaue Arbeit beim Schreiben, sondern die Mühe, die in der Beobachtung all der Details liegt, die Du dann glaubhaft in die Geschichte einbettest, z.B. wie Vater und Tochter miteinander umgehen, wie sie reagieren, aber auch Naturaspekte, Jagdliches usw. Diese Details empfinde ich aber nicht nur als genau beobachtet und sprachlich auf hohem Niveau wiedergegeben, sondern die dahinter stehende Reflexion beeindruckt mich: Was bedeutet diese Geste? Was sagt dieser Bruch im Gespräch über die Beziehung der beiden aus? Und so weiter. Wunderbar.

Die einzige Stelle, die mich ein wenig herausgehauen hat war:

„Netter Junge“, sagt Emma. Sie hat sich die Haare hochgebunden und trägt meinen alten Bademantel aus blauem Frottee. „Nett“ wiederhole ich. „Ja, nett isser, nett und `n bisschen dumm vielleicht …“
„Jetzt sag doch so was nicht!“

Mit „Netter Junge“ und „Jetzt sag doch so was nicht!“ klingt Emma plötzlich ein wenig großmütterlich, aber vielleicht nur in meinen Ohren.

Weiter zum Jagdlichen. Ich verstehe diese Sprache sehr gut, denn als Schütze trainiere ich viel mit Jägern und rede auch mit denen viel über die Jagd, kenne mich also ein wenig aus. Ich bezweifle allerdings, dass Menschen ohne Kontakt zu diesem Thema da immer wissen oder aus dem Kontext erschließen können, worum es geht.

Ich habe mich auch gefragt, ob ein Nicht-Jäger diesen Aspekt der Nachsuche in seiner Bedeutung erfassen kann. Klar kann man nachvollziehen, dass sich jeder Jäger wünscht, dass ein Bock im Feuer liegt. Doch was genau ist eigentlich das Problem von Sascha wird sich vielleicht mancher fragen, könnte ich mir vorstellen.

Ich lese den Konflikt zwischen Sascha und Hannes als einen zwischen Jungjäger und Altjäger. Der Alte hat gelernt, sich zu beherrschen, bei ihm bestimmen auch ethische Reflexionen das Jagen. Der Jungjäger steht noch an der Schwelle, wo sich herausstellen wird, welche Art von Jäger (und Mensch) er werden wird. Gut, dass ein Alter an seiner Seite steht und ihm die Ego-Tour nicht durchgehen lässt.

Kritisch könnte man hinterfragen, ob diese harmonische Sicht auf die Dinge realistisch ist. Ich hörte mal einen Nachsuche-Hundeführer sagen, dass die Öffentlichkeit das Jagen sofort verbieten würde, wenn sie wüsste, was bei der Jagd so tagtäglich passiert. Er erzählte von Fällen, wo er mit der Nachsuche beginnen wollte und die Jäger nicht einmal mehr wussten, in welche Richtung das Stück/ Tier blickte, als sie geschossen haben.

Tatsache ist, dass Jagd nach wie vor einige ziemlich grausame Aspekte besitzt und ich denke, das ist unvermeidbar. Selbst wenn sich alle Jäger vorbildlich verhalten würden, käme es durch die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse in der Jagd immer auch zu grausamen Zwischenfällen, wie z.B. dass Wildschweinen die Schnauzen weggeschossen werden und dann tagelang verletzt durch den Wald irren.

Hannes steht in meinen Augen für den Jäger des klassischen Formats, der mit einer aus moderner Sicht merkwürdigen Mixtur aus Respekt und Härte auf die Natur schaut. Das kann man von außen schwer nachvollziehen, weil die Lebenssituation moderner Menschen in der Regel ganz anders ist.

Damit komme ich zum Konflikt zwischen Emma und Hannes. Ich sehe darin genau diesen Antagonismus: Die Tochter steht für das Moderne, das Leben und Denken in den Metropolen, Vegetarisch/ Vegan, Antifaschistisch-Progressiv usw. Der Vater ist ein Relikt aus Zeiten, in denen man Probleme nicht mit einer Handy-App sondern mit den eigenen Händen und in der Gemeinschaft löste. Alles in seiner Welt wirkt auf mich viel realer. Er lebt nicht virtuell, sondern wirklich dort, wo sich sein Leib befindet. Er lebt ein Leben in tiefer Bezogenheit.

Mir ist noch etwas anderes aufgefallen, dass mich zum Nachdenken angeregt hat. Zwischen den Zeilen lese ich hier und dort so etwas wie eine erotische Aufladung zwischen Vater und Tochter. Kann aber sein, dass er die Welt ohnehin sinnlicher wahrnimmt, als seine Netflix-abgestumpften Zeitgenossen.

Ich könnte dazu noch viel mehr schreiben, gehe jetzt aber laufen, denn die Sonne scheint.

Gruß Achillus

 

Mahlzeit!

Routiniert. Das war mein erster Gedanke. Professionell.

Das Thema im Hintergrund ist wohl weit weg von mir, wenngleich mein Sohnemann Forstwirt gelernt hat und in seinem Forstbereich immer wieder Jagden durchgeführt werden und er viel davon erzählt, Ablauf, wie die Forstämter bzw. deren Mitarbeiter eingebunden sind, aber vor allem die "Jagdmannschaft" an sich, die Reihe teurer bis sehr teurer Karren auf dem Betriebsgelände, das Saufen, die "Strecke", das Ausschlachten und das "Gekröse" am nächsten Tag im Großcontainer, aus dem unten das Blut rausläuft und erbärmlich stinkt. Bis die Abdeckerei kommt und die Lehrlinge dann mit dem Hochdruckreiniger alles säubern müssen.

In der Tat nicht meine Welt. War es noch nie.

Aber der Text ist in dieses Thema eingebettet. Nachdem ich fertig war mit Lesen, habe ich versucht umzublättern; und auch davor noch nach mehr Material gesucht. Ein Romanausriss, dachte ich. Aber ist wohl nicht. Die Dialoge sind fotografiert. Mit Echtheitszertifikat. Ein gutes Beispiel, wie man über Dialoge Personen eine Persönlichkeit gibt. Farbe.

Wenn es Lehrmaterial über die Entwicklung von Charakteren in Texten gibt, gehört diese Novelle von @jimmysalaryman jedenfalls dazu.

Mir scheint, du hast ein Faible für die Jagd?

Griasle
Morphin

 

Hallo @Achillus,

vielen Dank für deinen sehr guten, konstruktiven Kommentar.

Die von dir erwähnte Stelle, das ist in der Tat eine Stelle, wo auch ich Bauchschmerzen habe, wenn ich sie so jetzt lese. Ich weiß genau, was du meinst. Im Grunde sollte Emma schon ein wenig so klingen, ein wenig altklug und auch urban, keine Ahnung, wie man das verbinden kann, aber nach dem Motto: Bloß nicht dumm sagen, sondern vielleicht langsam, und auf jeden Fall für alles und Jeden Verständnis aufbringen. Das ist ja so die ideologische Richtung, in die es geht, nicht bei allen jungen Studenten, aber bei vielen (meine persönliche Meinung, ich kann irren!).

Das Thema Nachsuche ist ein leidliches. Ich habe selbst eine Nachsuche durch eben diese Nervosität produziert, der Bock lag im Feuer, eine Ricke tauchte auf dem Feld auf, ich legte an, gut abgekommen, aber Weichschuss, und die Ricke zieht mit gekrümmten Rücken vom Feld und ich war so paralysiert, dass ich keinen zweiten Schuss anbringen konnte; zum Glück gefunden. Der erste Gedanke aber war: Doublette, endlich. Natürlich ist es so, dass der unsaubere, nicht lethale Schuss bei der Jagd einkalkuliert ist - so ist das eben. Früher hat man das Reh mit einem Stein erschlagen, da ist immer die Frage nach der Quintessenz. Und ein Tier auf Entfernung zu töten, ist eben immer auch einfacher, erscheint ethischer, diskreter, man hat nicht direkt das Blut an den Händen kleben. Ich kann also beide gut nachvollziehen, Hannes und Sascha, beide Impulse sind für mich absolut verstehbar. Wie der jetzt in den Text eingebettet ist - für mich ist diese Nachsuche hier ja auch eine Metapher, die Trope nach etwas unwiederbringlich Verlorenem. Der Vater, der seine Tochter als Frau begreifen muss, weil es sonst einfach nicht mehr funktioniert, er muss loslassen, muss sie freigeben. Da liegt ja auch eine sehr große Verantwortung drin, einen Menschen derart freizugeben, ihn nicht mehr zu umklammern, ihn sich selbst zu überlassen, eine wichtige, aber natürlich auch traurige Phase. Und dann kommt noch hinzu, dass es ja ihr Bock sein könnte, aus so einem gemeinsamen Naturerlebnis, wenn ein Stück Rehwild wie ein Geist auftaucht, sich elegant bewegt, vollkommen still und organisch, und dann der Schwenk zu diesem Impuls, dieses Tier töten zu wollen, oder es getötet zu haben, das ist etwas absolut Fundamentales. Man muss sich überwinden, man muss das wollen. Da liegt zwischen ihnen in der Kommunikation ja etwas Ungewisses, und er kann noch einmal als die Vertrauensperson auftreten, er sagt, nein, es war nicht dein Bock, glaub mir, und sie lächelt das weg, wohlwissend, dass es tatsächlich anders sein könnte, aber sie lässt ihm diesen Stolz, sie verneint es nicht, fragt nicht nach, sondern ist ein letztes Mal wirklich nur die Tochter, so wie er sie in Erinnerung behalten will.

In der Tat gibt es da auch eine gewisse Erotik zwischen Vater und Tochter. Ist ja so ein wenig Tabu, aber warum sehen den Väter so genau auf ihre Töchter, wenn sie in die Pubertät kommen? Weil sie selbst Männer sind, und weil sie ihre Töchter dann das erste Mal genau so sehen, als Frau. Und Männer wissen, wie andere Männer denken (leider), sie wissen also, was die Männer in ihren Töchtern sehen - natürlich, da wird immer drumherum geredet, aber im Grunde wird auch hier objektifiziert, und der Vater macht das als Erstes, als eine Art Stellvertreter für alle anderen Männer, weil er eben das sexuelle Wesen in ihr erkennt.

Viel geschrieben, ich hoffe, ich werde deinem Kommentar mit meiner Antwort gerecht, ich muss und werde ihn noch einmal lesen und mir Gedanken machen, ich habe das Gefühl, in meiner Antwort fehlt noch etwas Wesentliches.

@Morphin, ich melde mich gleich und antworte dir, muss gerade einkaufen, so long

Gruss, Jimmy

 

Nachdem ich fertig war mit Lesen, habe ich versucht umzublättern; und auch davor noch nach mehr Material gesucht. Ein Romanausriss, dachte ich. Aber ist wohl nicht.

Hallo @Morphin,

danke dir für deinen Kommentar, habe mich sehr gefreut und werde mich alsbald revanchieren.

Mir ist diese Geschichte tatsächlich explodiert, muss ich sagen. Ich hatte so 4-5k im Kopf, und dann hat es sich einfach so entwickelt, es musste etwas mehr Strecke (no pun intended!) werden, weil ich sonst wahrscheinlich unzufrieden mit der Entwicklung gewesen wäre, etwas hat gefehlt.

Ja, ich bin selbst Jäger, und die Natur, bzw dieses Thema Mensch vs Natur, finde ich aus verschiedenen Aspekten sehr interessant. So gut wie alles, was in der Natur passiert, ist eine Art Symbol, eine Art Spiegel, die sich auch sehr gut auf den Menschen anwenden lässt: nicht zuletzt stammt der Mensch aus der Natur und ist Teil von ihr, aber versucht permanent, das Tierische zu sublimieren, zu unterdrücken, in irgendetwas Feingeistiges zu destillieren. Jagd ist so eine Sache, die sich nicht destillieren lässt - wenn du Fleisch essen möchtest, musst du ein Tier töten. Das ist eine ganz fundamentale Sache. Es ist eine Erfahrung, die sicher nicht jeder machen möchte, ich wollte das und habe dort einen tiefen Respekt vor der Kreatur kennengelernt, etwas, das ich vorher so nicht kannte. Allerdings sind mir Trophäenjagden etc fremd, ich jage, weil ich mein eigenes Fleisch verzehren möchte, und auch, weil mich die Hege begeistert. Natürlich gibt es viele Jäger, die verkleidet in den Wald gehen und dort mit ihrem Blaser Geradezugrepetierer prahlen und auf alles anlegen, was den Kopf raustreckt. Das will ich nicht abstreiten. Hier, in dieser Geschichte, bot sich eben einfach das Symbol an, die Freigabe, das Gehenlassen.

Die Dialoge sind fotografiert. Mit Echtheitszertifikat. Ein gutes Beispiel, wie man über Dialoge Personen eine Persönlichkeit gibt. Farbe.

Danke. Ich bemühe mich. Ich glaube ja daran, dass ein guter Dialog oft den Charakter besser einführt, als eine detailreiche Beschreibung, aber das ist eben auch Geschmackssache. Ich lese sehr gerne Jim Harrisson, der extrem lange und ausführliche Innenansichten für seine Charaktere beschreibt, die ich bei anderen Autoren sicher langweilig und überflüssig finden würde; er hat aber diesen Dreh raus, dass es interessant bleibt, dass es Wirkung auf mich macht und hat. Manchmal denke ich auch, ich übertreibe es mit den Dialogen und sollte stattdessen lieber gleich ein Drehbuch schreiben (was dann keine Sau liest), aber wie bei allem anderen auch, eine gute Dialogführung ist eben nur ein tool aus dem gesamten kit, das man beherrschen sollte.

Wenn es Lehrmaterial über die Entwicklung von Charakteren in Texten gibt, gehört diese Novelle von @jimmysalaryman jedenfalls dazu.

Ich weiß gar nicht, ob sich die Charaktere so viel entwickeln, es liegt ja hier eher an der verronnenen Zeit, in der sie sich nicht begegnet und auch fremd geworden sind, hier prallen ja zwei Welten aufeinander, zwei Entwicklungen, die eine stagniert vielleicht, und Emma ist halt jung, lebt in Berlin, studiert, da passiert auf kurzer Strecke sehr viel, ein Charakter verformt, verändert sich, und der Vater wird damit konfrontiert, und natürlich auch mit seiner eigenen Sicht auf diese Dinge, mit einer gewissen Furcht, nun endgültig jede Kontrolle verloren zu haben, eben nicht mehr der allmächtige Vater sein zu können. Ich finde den Vater übrigens nicht unproblematisch, wie er über die Hunde spricht, wie er über seine Ex-Frau spricht, da steckt auch schon etwas Autoritäres mit drin, auch wenn er das gut hinter so einer kumpelhaften Art versteckt. Ich lese das eher als eine langsame Entfremdung, die nun in eben jener titelgebenden Freigabe kulminiert, und die ja gar nicht negativ sein muss, jedoch notwendig, ein Abnabeln, der Gang in die eigene Selbstständigkeit. Wirst du als Vater sicher gut nachvollziehen können, denke ich.

Ja, Morphin, du hast mich zum Nachdenken über meinen eigenen Text gebracht, das ist immer gut, wenn ein Kommentar das leistet. Danke dir dafür.

Gruss, Jimmy

 

@jimmysalaryman

Ja, gibt natürlich mehrere Ebenen. Ein Dialog zwischen Metzger und Tochter hätte als Dialoggerüst ebenso funktioniert, um eine Entwicklung aufzuzeigen. Es wurde auch die erotische Komponente angesprochen, die sich bemerkbar macht, ab der Frauwerdung der Tochter und das auch noch mal eine Transformation des Verhältnisses zwischen Vater-Tochter bewirken (kann), hin zu einer Art platonischen Freundschaft, wenn man sich aller gesetzter Grenzen bewusst ist.

Mir fiel das Thema "Jagd" auf, weil es da schon mal eine Geschichte von dir dazu gab ... weiß nicht mehr welche ... und weil ich das, was "hinter" der Jagd steht als gelernter Landwirt ebenso kenne. Allerdings unterscheidet sich eben die Jagd bzw. ihre Protagonisten, ihre gesellschaftliche Einbettung grundsätzlich von dem angesprochenen "Bedürfnis nach Nahrung", wie es bspw. die "Wilderer" oft exerzieren MUSSTEN, um sich und ihre Familie durchzubringen.

Jagd ist ein direkter Blick in die Gesellschaft. Das Töten. Und das kommt unweigerlich vor dem Essen. Ein interessantes Thema, über das wir an anderer Stelle mal mehr quatschen sollten.

Persönlich sehe ich die Story - aus meiner "Jagdsicht" - eher als einen Blick in einen bestimmten Bereich der Gesellschaft, der sich mir über die Dialoge öffnet (und natürlich auch mittels der Beschreibungen).

Waidmannsheil
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Entschuldigung,

ich suche den Hemingway-Thread, Männer, Knarren, Jagd und ach hier seid ihr alle.

Schöne Figuren, ich würde gern weiterlesen. Ich fand das sehr rührend, also im Ernst jetzt, die Einsamkeit des Vaters und die Sehnsucht nach der Tochter.

Wer weiß schon, was nach dem Studium ist? Es wäre einfach eine weitere Möglichkeit. Sie entscheidet.
Das ist echt bewegend, weil es nicht platt ist und nicht ausformuliert. Ich höre hier ganz klar den Wunsch raus, dass sie zurückkommt, nachdem sie sich in der großen Stadt die Hörner abgestoßen hat. Da ertappen sich bestimmt viele Eltern mal bei, wohlwissend, dass man das Kind seinem eigenen Leben wieder entreißen würde, weshalb es sich verbietet. Aber man kann ja mal träumen. Es ist ja nur eine Möglichkeit.

Das ist wie mit den Jagdhunden. Technisch war mir der Block mit dem Zwinger und dem Ans-Alleinsein-gewöhnen zunächst etwas zu sehr ins Gesicht, der liest sich ein bisschen: Zuhören jetzt, Metapher! Manchmal ist das glaube ich aber auch einfach so und es passt ja. Dass das mit der Nachsuche in ein ähnliches Horn stößt, habe ich erst so gesehen, nachdem du es gesagt hast. Wenn ich das als Nicht-Jäger richtig verstehe, ist da ja auch nichts "unwiederbringlich" verloren. Nur, wenn du Pech hast. Beziehungsweise das Tier. Aber es gibt auf jeden Fall Sinn. Interessant übrigens, davon mal zu lesen. Habe ich noch nie gehört. Wenn ich beruflich das nächste Mal einen Jäger für eine Jagdbilanz dran habe, frag ich ihn, ob es Nachsuchen gegeben hat. So wie @Achillus und du das beschreiben, müsste ich da ja am anderen Ende ein Schlucken hören.

Ich lese keine "erotische Aufladung" im Sinne von Begehren. Gott sei Dank, das hätte mir den Prot etwas ... fremd gemacht. Dass ein Vater sich sagt "Scheiße, meine Tochter ist heiß, und das bei den Kerlen da draußen ..." Und dass er in diesem Zuge auch ihre Fraulichkeit an-erkennt. Also jetzt im Extremfall: Lieber Gott, hat die Kleine Möpse gekriegt, was ist da nur passiert? Ich würde das nicht "erotisch aufgeladen" nennen. Das klingt falsch, in mehr als einer Hinsicht. Vielleicht bin ich auch spießig.

Thema zwei ist dann wohl der Clash, Jung und Alt, Stadt und Land. Ein bisschen hatte ich Angst, das läuft so auf diese paradiesische Verklärung von "Früher" hinaus, aber ich empfand das hier als recht klare Absage:

es bleiben stumme Zeitzeugen, die Ära Adenauer, Kohl, Bonn als Hauptstadt, funktionierende Familien und loyale Ehefrauen, treue Ehefrauen, genügsame Ehefrauen
Da kam mir der Prot sehr angenehm wie so eine Eastwood-Figur vor, das rechte Raubein, aber kein schlechter Typ, der sich auch Mühe gibt, zu verstehen, wie die Welt sich da verändert, und sei es der Tochter zuliebe. Einer, der sagt: Bei dreien war ich ja sogar noch dabei, aber wenn's jetzt fünf Geschlechter geben soll, Freunde, im Ernst, irgendwann reicht's auch mal.

Nachtrag: Jetzt habe ich gerade deinen Komm gesehen, dass du den Vater nicht unproblematisch findest, autoritäre Ansichten und so. Wegen dieser Aufzählung, damals war die Ehefrau "loyal, treu, genügsam", eben wie ein guter Hund ... Ich hab das irgendwie so gelesen, dass ihm das sehr wohl bewusst ist, dass das problematisch ist, und dass er deshalb diese Worte wählt. Weil er weiß, dass eine Frau kein Hund ist. Auch schon zu Kohls Zeiten nicht war.

„Weil das einfach grausam ist … diese ganze Massentierhaltung, wie sie die Tiere da quälen und alles, das ist echt wie im KZ!“

Natürlich, klar, Übermensch und so, sicher, `n lupenreiner Faschist,

Latte Machiatto?

Du zeichnest wie immer fein, viel zwischen den Zeilen, aber hier haust du welche raus. Es ist bestimmt nicht unglaubwürdig, dass eine junge Frau, Studentin, zugezogene Berlinerin, Latte Machiatto trinkt, aber es ist halt mittlerweile auch ein ziemliches Klischee. Wenn sich Komiker über spinnerte Berliner lustig machen, dann trinken die immer Latte Machiatto. Das ist so ein Code geworden. Sagst du Latte Machiatto, weiß jeder gleich Bescheid. Oder glaubt, es zu tun. Vielleicht deutlich extravaganter als "Ein Kaffee, bitte", aber nicht ganz so ... gängig? Nur 'n Vorschlag.

Dann das KZ. Mann, da pfeffert sie dem Vater aber einen um die Ohren. Das ist so Militanter-Tierschützer-Jargon, mindestens aber Veganer. Mir ist das zu dick und zu selbstverständlich und zu sofort für ein Mädchen, das Eier isst (soweit ich weiß, hat PETA mal mit dem KZ-Vergleich einen Shitstorm ausgelöst, Holocaust-Relativierung, und die haben damals Legebatterien gemeint) und mit dem Vater den Hochsitz reparieren geht, damit er Tiere abknallen kann. Wobei ich jetzt nicht sage, dass sie ihn deswegen zumissionieren soll. Ich kannte mal eine Veganerin, die hat das selbstgeschossene Fleisch ihres Onkels gegessen ... also, der Onkel war Jäger, sie hat ihn nicht erschossen und gegessen ..., weil das von "freien Tieren" stammt, und als Vegetarier war ich damals der einzige in der Clique, der die Argumentation nachvollziehen konnte. Aber deine Figur klingt auch plötzlich viel jünger, wie sie das so geradeheraus bringt. Quasi als das erste, was ihr zum Thema einfällt. Ein kurzes Gespräch könnte sich darin zuspitzen, "Mann, Papa, da geht's zu wie im KZ", aber so kann ich das nicht so ganz glauben. Der Satz dient der Charakterisierung, aber er tut es für meinen Geschmack zu offensichtlich.

Ebenso Nietzsche, der alte Faschist. Die Tochter kommt mir im Rest der Geschichte einfach zu feinfühlig vor, auch zu klug, zu reif, als dass sie solche Parolen so übernimmt und 1:1 wiedergibt.

Du hast ja richtig aufgeräumt“ sagt sie
Du hast ja richtig aufgeräumt“, sagt sie

ess‘
Den machst du immer falsch rum.

french press
Groß.

und aufmerksamen, wachen Blick
aufmerksamem, wachen

Ein Welpen muss
Nicht Welpe? Ernstgemeinte Frage. Klingt, als wäre es eine von diesen Sachen, die so viele Leute falsch machen, dass man das Falsche für richtig hält.

durch den Röhricht, ein Saum aus Schlick, Gänsefuß, Zweizahn, Ehrenpreis,
Das fand ich ziemlich gut. Er ist Jäger, der stapft nicht einfach durchs hohe Gras, sondern weiß genau, wie jeder einzelne Halm da unter seinen Gummistiefeln zuzuordnen ist.

5:24 Die Sonne
4.

Ich schlürfe das Stew aus der Kelle,
Den Stew? Eintopf. Dieser irische Kartoffel/Karotten-Matsch (Liebe Iren, mir ist sehr wohl bewusst, dass niemandes Cuisine sich ausschließlich aus Volltreffern zusammensetzt)? Ist ja auch eine Art Eintopf ...

Emma aus Berlin, Emma ohne Freund.
Hier dachte ich, du bereitest vor, dass sie mit dem Sascha zusammenkommt.

Die anderen Kinder redeten alle immer über den blöden Siegfried,
Kinder reden über die Nibelungen-Sage? Gut, ich bin zugegebenermaßen nicht eben bildungsbürgerlich aufgewachsen. Siegfried heißt ein Onkel von mir (wie es der Zufall will übrigens auch der Jäger) und ich glaube, Lindwurm und so, das habe ich als Teenager das erste Mal gehört, wahrscheinlich Deutschunterricht, und ich fand das irgendwie albern, dass der drachentötende Superheld heißt wie Onkel Siegfried.

Eine Gruppe japanischer Touristen
Ich habe mich kurz gefragt, woher er das weiß. Die Chance, dass es Chinesen sind, ist bei asiatischen Touristen inzwischen glaube ich höher. Und der Ich-Erzähler ist ja, wenn er auch etwas befremdet vor dieser liberalen Großstadtwelt mit ihren Kletterfelsen aus Plastik steht, alles andere als eine Dumpfbacke. Dass Asien für ihn aus Japan besteht, würde ich ihm nicht abnehmen.

"Kümmerst du dich eigentlich noch um was anderes, als um deine Hunde?“
„Nein“,
Hier musste ich lachen. Gutes Lachen, ich fand das wirklich witzig. Dann kommt noch "sagte" und noch was, ich finde das aber so lakonisch viel besser: "Nein." Meiner Meinung nach könnte auch die Erklärung danach weg, dass er wirklich nur noch die Hunde macht. In dem "Nein" steckt das so richtig schön drin, auch wieder Eastwood-mäßig, beste Tragikkomik. Ja, sorry, auch eine etwas überbemühte Vokabel, aber es ist traurig und es ist witzig, was soll ich machen? Die Tochter bohrt da vielleicht ein bisschen zu tief, das tut weh. Tolle Stelle.

mit jedem Schritt wird die Welt mehr zu einem abstrakten Schwarz-Weiß.
Das ist wie die Japaner, nur umgekehrt. Wenn jemand sagt, dass die Welt zu einem abstrakten Schwarz-Weiß wird, dein Ich-Erzähler, wie ich ihn sehe, würde sich kurz das Grinsen verkneifen und dann an seinem Zigarillo ziehen. Ich weiß, wegen der Japaner klingt das jetzt wie "Wie man's macht ...", aber in beiden Fällen finde ich das jetzt auch nicht abgrundtief unlogisch, nur eben jeweils ein bisschen fülle in die eine oder andere Richtung.

wähle ihr Nummer.
e

Ich fand's klasse.

Viele Grüße
JC

 

ich suche den Hemingway-Thread, Männer, Knarren, Jagd und ach hier seid ihr alle.

Haste ja gefunden. Ich suche immer den Clive Barker Thread und lande dann bei deinen Texten. :D

Danke dir für deinen Kommentar, sehr konstruktiv.

Das ist wie mit den Jagdhunden. Technisch war mir der Block mit dem Zwinger und dem Ans-Alleinsein-gewöhnen zunächst etwas zu sehr ins Gesicht, der liest sich ein bisschen: Zuhören jetzt, Metapher! Manchmal ist das glaube ich aber auch einfach so und es passt ja.

Ich verstehe, was du meinst. Das könnte man auch einen einfachen Weg der Charakterisierung nennen, zumindest würde ich das bei einem Text eines anderen Autoren so machen, bei meinen eigenen ist das natürlich etwas GANZ anderes. Nein, im Ernst, der ist jetzt nicht fundamental wichtig, aber es wirkt ja wie so eine Art Sermon, ich sehe diesen Part als etwas, dass sich der Erzähler im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal selbst erzählt, als würde er er sich laut vorlesen, um sich von der Richtigkeit zu überzeugen. Stimmt schon, vielleicht noch etwas kürzen, damit diese Stelle nicht so omnipräsent da steht, nicht direkt nur die Wirkung ersichtlich wird.

Wenn ich das als Nicht-Jäger richtig verstehe, ist da ja auch nichts "unwiederbringlich" verloren. Nur, wenn du Pech hast. Beziehungsweise das Tier. Aber es gibt auf jeden Fall Sinn.

Nachsuchen können aus diversen Gründen scheitern. Nebel, Regen, Fettschwarte schiebt sich vor die Wundkaverne, also kein Schweiß mehr, das kann man nicht pauschalisieren. Nachsuchen passieren regelmäßig, es gibt eingetragene Schweißhundeführer, die speziell trainierte Hunde führen, und die bei jeder Tages- und Nachtzeit bereit stehen. Teilweise sieht man eben übelstes Zeug, oft ist es die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten - 160 Meter weit weg, das Stück, bei Dämmerlicht, ach kein Problem, draufhalten! Frag mal ruhig nach, bin ich gespannt, was der Waidmann so sagt. Frage: Wie viele Nachsuchen waren denn erfolgreich?

Im Kontext der Geschichte würde ich das eher so sehen, dass der Vater hier, selbst nach erfolgloser Nachsuche, noch einmal diese Karte spielen kann, noch einmal Vater sein kann, so wie er das versteht, als die absolut glaubhafte Institution, als jemand, der diese Autorität besitzt, der die Wahrheit spricht.

Ich würde das nicht "erotisch aufgeladen" nennen. Das klingt falsch, in mehr als einer Hinsicht. Vielleicht bin ich auch spießig.
Nee, also nicht erotisch-aufgeladen in dem Sinne, dass es irgendwie inzestuiös wäre, das nicht, aber so wie du es geschrieben hast, er erkennt ihre Fraulichkeit, und ich denke, das ist ja eine schwierige Phase für einen Vater, weil es natürlich in einem gewissen Alter vor allem eine männliche DNA gibt, da wird jedem Rock hinterhergestiegen, und das weiß er auch er. Jetzt sieht das aber anders aus, weil es sich eben um seine Tochter handelt. Um das wahrzunehmen, muss er sie aber als Frau sehen können, nicht als Tochter, nicht als geschlechtlich neutral, sondern er weiß um die Wirkung, die sie auf Männer hat, nicht zuletzt, weil er selbst einer ist.

Ich hab das irgendwie so gelesen, dass ihm das sehr wohl bewusst ist, dass das problematisch ist, und dass er deshalb diese Worte wählt. Weil er weiß, dass eine Frau kein Hund ist. Auch schon zu Kohls Zeiten nicht war.
Ich denke, man kann das so oder so lesen. Für mich scheint da auch durch, warum die Beziehung zur Ex-Frau aus seiner Sicht wahrscheinlich gescheitert ist. Er denkt, sie wollte immer mehr, sie war eben nicht loyal und genügsam, sie wollte einen Typen, der ins Fitnessstudio geht und einen roten Cabrio fährt. Er ist ja selbst auch nicht gerade genügsam, raucht kubanische Zigarren und trinkt teuren Rotwein, da beißt sich so die Katze in den Schwanz, weil es offensichtlich wird, dass er sich da auch ein wenig selbst belügt.

Es ist bestimmt nicht unglaubwürdig, dass eine junge Frau, Studentin, zugezogene Berlinerin, Latte Machiatto trinkt, aber es ist halt mittlerweile auch ein ziemliches Klischee.
Ich dachte, die trinken jetzt alle Flat White oder Americano, und Latte Machiatto wäre schon provinziell? Ich denke aber drüber nach, weil das ein guter Punkt ist, einfach grünen Tee draus zu machen.

KZ und Nietzsche. Ich sehe deinen Punkt total. Diese Textstellen sind natürlich mit die ältesten, da wusste ich noch nicht, wohin die Reise geht, und da vertraut man vielleicht seinen eigenen Figuren noch nicht so ganz. Es sollte natürlich auch ein wenig dieser Twist rein, dass sie so große Reden schwingt, von wegen KZ und so, dann aber trotzdem kein Problem hat, Eier zu essen - ich nehme viele dieser jungen Moralisten als absolute Heuchler wahr, die nur das Verhalten anderer groß und wortgewaltig kritisieren, aber nie bei sich selbst anfangen, bzw immer noch schnell eine Ausrede parat haben. Wenn das aber nicht so rauskommt, denke ich darüber nach, wie es sich ändern lässt.

Nibelungen-Sage. Klar, im Siebengebirge kennt diese Sagen jedes Kind, das hat auch nichts mit Bildungsbürgertum zu tun, ich komme auch aus keiner bildungsbürgerlichen Familie, aber trotzdem kennt jeder die Sage. Hier wird ja auch auf die originale Sage angespielt, wie sie von den Rheinländern erzählt wird, nämlich die vom fiesen Drachen. Der fiese Drache - eine Drachensage vom Siebengebirge | Rheindrache
Kann natürlich sein, dass das jetzt etwas viel Lokalkolorit ist, aber hey, jedes Kind sein Ballon!

Ich ändere Japaner in Asiaten, das ist, denke ich, die bessere Wahl, den Satz mit den Hunden, da denke ich drüber nach, und das abstrakte Schwarz-Weiß fliegt raus. Um Rechtsschreibfehler kümmere ich mich, man übersieht immer was, aber ich gelobe Besserung.

Ja, Proof, toller Kommentar, sehr in die Tiefe gehend, extrem konstruktiv, that's where it's at. Vielen Dank!

Gruss, Jimmy

 

Moin!

ich nehme viele dieser jungen Moralisten als absolute Heuchler wahr, die nur das Verhalten anderer groß und wortgewaltig kritisieren, aber nie bei sich selbst anfangen, bzw immer noch schnell eine Ausrede parat haben
Wir waren ja genau so. Und man hat uns dies mit denselben Argumenten vorgeworfen. Insofern befinden wir uns in einem geschlossenen Argumentationskreis. Aus diesem Grund, weil es eine rekursive Generationendiskussion ist, kann man nicht deren Falschheit ableiten. Innerhalb dieser rekursiven "Das ist falsch - dann leb doch du erst mal so"-Rhetorik wird ja aufgezeigt, was tatsächlich änderungswürdig ist; und somit fällt für mich das unter "Tradition zwischen den Generationen". Die Klugen unter uns ziehen das heraus, was wirklich einer Änderung bedarf, der Rest ist gutes altes Gekeile zwischen Jung und Alt. Im Übrigen ist die Kontroverse schließlich und endlich immer ein Motor für den Fortschritt - in diesem Fall ein gesellschaftlich-kultureller Fortschritt, der aber auch Auswirkungen auf die Umwelt haben wird.

Ich würde dies in deinem Text genau so lassen, denn es entspricht exakt dem Realen.

Griasle
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @jimmysalaryman

Es sollte natürlich auch ein wenig dieser Twist rein, dass sie so große Reden schwingt, von wegen KZ und so, dann aber trotzdem kein Problem hat, Eier zu essen - ich nehme viele dieser jungen Moralisten als absolute Heuchler wahr, die nur das Verhalten anderer groß und wortgewaltig kritisieren, aber nie bei sich selbst anfangen, bzw immer noch schnell eine Ausrede parat haben. Wenn das aber nicht so rauskommt, denke ich darüber nach, wie es sich ändern lässt.
Das schlägt im Text etwas durch und das finde ich schade. Eine der spannensten Stellen fand ich die Passage, in der es um das Rauchen geht. Hier stellt die Tochter den Vater infrage und ich empfand es als ganz angenehm, dass sie hier auf Augenhöhe mit dem Vater gelangt. Also, das ist schon sehr sensibel und austariert dargestellt, dieses Verhältnis zwischen den beiden, häufig hilft ihnen das Lachen über ihre - meist unausgesprochenen - Differenzen hinweg, Differenzen weniger im Sinne von Konflikten sondern von Abstand, Ferne, Leben in verschiedenen Welten. Und klar, dass es da eine gewisse Unausgewogenheit geben muss, weil ein Ich-Erzähler spricht. In erster Linie erfahren wir den Abstand zwischen Vater und Tochter aus der Perspektive dieses Ichs, der Vater ist der Punkt und die Tochter hat sich von diesem Punkt enfernt und tut es immer noch und zieht jetzt ihre urbanen Kreise. Aber gerade darum fand ich diesen Wechsel in der Perspektive sehr spannend, die Tochter, die auf einmal sagt: Früher hast du weniger geraucht. Da ist sie der Punkt und der Vater hat sich entfernt. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich glaube, es könnte dem Text guttun, wenn du die Tochter und ihre Perspektive etwas stärker machst. Das Bouldern fand ich super, künstliche Felsen, ha! Das kann man gut stehen lassen, da braucht es ja keine theoretische Abhandlung über die Vor- und Nachteile solcher Einrichtungen. Aber beim Thema Vegetarismus könnte die Tochter vielleicht ähnlich agieren wie der Vater in anderer Hinsicht: Aus einer Haltung der Liebe heraus. Aber eben auch aus einer theoretisch stärkeren und fundierteren Position. Den KZ-Vergleich würde ich daher weglassen, der ist auch unter radikalen Aktivistinnen nicht (mehr) opportun, die Disanalogien sind zu viele. Dafür könnte sie nicht nur Massentierhaltung, sondern auch die Jagd in Frage stellen, ein Nebensatz, ein wenig Paroli gegenüber dem Leben, das der Vater führt. Nietzsche würde ich in diesem Kontext ebenfalls kicken, der kommt etwas unorganisch ins Spiel und wird dann mit der Gleichsetzung Nietzsche = Faschist gar simplifiziert dargestellt. Meine Studis zumindest würden das nie so sagen. :) Mir sind in diesem Zusammenhang die entgegengesetzten Beweisführungen eingefallen, von denen R.Tobias spricht und die beide zwingend und stichhaltig sein sollen.
Es ist ja nicht so, dass nur die Eltern ihre Kinder verlieren, die Kinder verlieren auch ihre Eltern, das ist mit sechzehn und den pubertären Revolten nicht abgeschlossen, das wird unter Umständen später viel tiefgreifender. Zumindest habe ich das so empfunden, der ich als Sohn eines Jägers auf dem Land aufgewachsen und dann - als Vegetarier - in die Stadt gezogen bin.

Ansonsten ein äusserst starker Text, der sich durch eine eindringliche, manchmal grobe, oftmals zarte Stoffllichkeit in den Beschreibungen auszeichnet. Viel Raum zwischen den Zeilen. Hab ich extrem gern gelesen. In einer Passage war's mir etwas zu viel, nämlich da, wo er sich die Zigarre anzündet. Das spielst du Schritt für Schritt durch, stets zwischen den Dialogzeilen, etwa fünfmal wird es erwähnt. Das hat mir den Dialog zu stark überlagert, ich musste da nochmal ansetzen.

Etwas, das mir noch durch den Kopf gegangen ist: In einer gewissen Hinsicht fand ich es schade, dass Vater und Tochter am Ende über die Nachjagd reden. Es hätte ein gewisses Mass an Spannung zwischen den beiden Figuren erhalten, wenn er ihr nichts davon erzählt hätte, etwas Unaufgelöstes zwischen den beiden, er denkt sich, das will sie gar nicht wissen oder vielleicht - eben wenn ihre Position eine stärkere wäre - er will sich nicht anhören, wie grausam sie das findet. Jeder Dialog nimmt halt dem Unausgesprochenen etwas Zauber weg. Allerdings hättest du dann diese subtile Sache mit "War es mein Bock?" nicht drin. Ich habe ja gelesen, dass dir das wichtig ist. Passt schon.

Toller Text!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Nabend Peeperkorn, nabend Jimmy!

Aber beim Thema Vegetarismus könnte die Tochter vielleicht ähnlich agieren wie der Vater in anderer Hinsicht: Aus einer Haltung der Liebe heraus. Aber eben auch aus einer theoretisch stärkeren und fundierteren Position. Den KZ-Vergleich würde ich daher weglassen, der ist auch unter radikalen Aktivistinnen nicht (mehr) opportun, die Disanalogien sind zu viele. Dafür könnte sie nicht nur Massentierhaltung, sondern auch die Jagd in Frage stellen, ein Nebensatz, ein wenig Paroli gegenüber dem Leben, das der Vater führt.

Es sollte natürlich auch ein wenig dieser Twist rein, dass sie so große Reden schwingt, von wegen KZ und so, dann aber trotzdem kein Problem hat, Eier zu essen - ich nehme viele dieser jungen Moralisten als absolute Heuchler wahr, die nur das Verhalten anderer groß und wortgewaltig kritisieren, aber nie bei sich selbst anfangen, bzw immer noch schnell eine Ausrede parat haben.

Zumal diese Sichtweise auch nicht ganz plausibel wäre, denn erstens kann man das Ei eines Huhns essen, ohne ein empfindungsfähiges Lebewesen zu verletzen oder zu töten (wenn es nicht aus der Massentierhaltung stammt) und zweitens macht das Eieressen die Kritik am Fleischessen ja nicht gegenstandslos.

Ich stimme Jimmy aber in dem Punkt zu, dass der rigorose Moralismus, den man manchmal von Vegetariern oder Veganern hört, übersieht, dass die Quellen des Leidens nahezu mit allen Aspekten unseres modernen Lebens zusammenhängen und deshalb heuchlerisch wirken kann. Es ist z.B. lachhaft, dass viele Leute der Friday for Future Bewegung völlig unbedarft mit ihre Mobiltelefonen umgehen (chatten, streamen, posten), weil sie scheibar nicht wissen, wie diese Dinger hergestellt werden oder welche Unmengen an Energie die damit verbundenen Datenverarbeitungen kosten.

Gruß Achillus

 

Hallo @Peeperkorn,

danke dir sehr für deinen Kommentar, hat mich natürlich gefreut.

Ich denke, wenn ich den Text jetzt lese, in cold blood, dann würde ich auch dazu tendieren, diese beiden Sachverhalte, KZ und Nietzsche, einfach rauszunehmen. Dass sie Vegetarierin ist, reicht doch vollkommen aus, im Grunde soll da ja nur angedeutet werden, es hat eine Veränderung stattgefunden, und er ist überrascht. Ich weiß nicht, ob es da noch eine Begründung braucht, aber wenigstens das KZ weglassen, das ist in der Tat zu sehr Hammer auf Schädel. Vollkommen unmotiviert erscheint mir mittlerweile Nietzsche, das kommt so aus dem Nichts, ich glaube, dass wird gelöscht, weil es auch nichts zur Narrative beiträgt.

In einer Passage war's mir etwas zu viel, nämlich da, wo er sich die Zigarre anzündet. Das spielst du Schritt für Schritt durch, stets zwischen den Dialogzeilen, etwa fünfmal wird es erwähnt. Das hat mir den Dialog zu stark überlagert, ich musste da nochmal ansetzen.
Ja, da wollte ich besonders kreativ sein und das alles genau timen, weil er, wenn er über seine Ex-Frau spricht, gerade die Zigarre schneidet, ein sauberer Schnitt, dachte ich, super Metapher. Ich weiß aber, was du meinst - ist ein wenig drüber, ich sehe es ja ein! :D

Ansonsten ein äusserst starker Text, der sich durch eine eindringliche, manchmal grobe, oftmals zarte Stoffllichkeit in den Beschreibungen auszeichnet. Viel Raum zwischen den Zeilen.
Danke dir. Was genau meinst du mit grober Stofflichkeit? Grob im Sinne des So-Seins, also das Sujet, die Grobheit des Themas, oder grobschlächtige Sprache, was ja unbedingt zu vermeiden wäre? Ich bemühe mich ja immer, um ein reduziertes Schreiben, wo noch Echokammern für den Leser übrigbleiben oder überhaupt erst aufgemacht werden.
Es hätte ein gewisses Mass an Spannung zwischen den beiden Figuren erhalten, wenn er ihr nichts davon erzählt hätte, etwas Unaufgelöstes zwischen den beiden, er denkt sich, das will sie gar nicht wissen oder vielleicht - eben wenn ihre Position eine stärkere wäre - er will sich nicht anhören, wie grausam sie das findet.
Ja, ich verstehe diesen Punkt, den du machst. Was ich gedacht habe: Sobald es um die Nachsuche geht, ist sie ja abgemeldet. Er sagt ihr nicht mal richtig, was Sache ist. Diese Suche nach ihr ist ja im Grunde einfach nur seiner absoluten Nachlässigkeit ihr gegenüber geschuldet. Mir kommt der in der Betrachtung eigentlich viel zu gut weg, der Vater, der soll schon ein wenig untergründig-aggressiv sein, dieses leicht Toxische, er hat sich nie verlaufen, er hat im Grunde auch immer Recht, das wird halt durch diesen kumpelhaften, gönnerhaften Ton verdeckt, der Charakter soll sich ja die Waage halten, halb Arschloch, halb okayer Typ, bei dem man aber nur schwer hinter die Fassade blicken kann - so war das geplant von mir, ich weiß jetzt nicht, wie der bei dir oder anderen Lesern essentiell ankommt. (Wäre interessant zu erfahren.) Ich mag das Ende, weil es natürlich eine Art Zirkelschluss ist, eine Bewegung, die mehrere Themen miteinander verknüpft, aber eben nicht monokausal gelesen wird, sondern mehrere Möglichkeiten offen hält, das finde ich gut. Lass mich mal was drüber rumdenken.

Danke dir, Peter, für deine Zeit und deinen Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

Was genau meinst du mit grober Stofflichkeit?
Das ist missverständlich ausgedrückt. Meine Wortwahl basiert auf der Assoziation, dass dein Text, wenn er ein Kleidungsstück wäre, eher einem Wollmantel gliche denn einem Seidenpyjama.
gusseisernen Pfannen
mächtige Holzpolter, alles Käferholz.
Schlammspritzer landen auf der Windschutzscheibe.
Auf ein paar Feldern steht noch Mais, die Kolben braun, vertrocknet bis in die Ähren.
alten, knorrigen Eiche
drei kurzen Schlägen, treibt ihn dann mit mehr Kraft weiter in das Holz, bis der Metallkopf verschwunden ist.
Ist ja immer so eine Frage, wie man die Eigenschaften eines Textes beschreibt, und mir gefällt der Begriff der Stofflichkeit, um auszudrücken, ob ein Text plastisch und sinnlich und satt daherkommt. "Grob" ist da aber das falsche Adjektiv.

Den Erzähler habe ich durchaus als in der Waage wahrgenommen, insgesamt vielleicht sogar eher auf der positiven Seite, "Arschloch" zumindest habe ich nie gedacht. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich automatisch Sympathie empfinde, wenn ein Charakter durch die Art und Weise Tiefe zeigt, wie er seine Umgebung beschreibt.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Meine Wortwahl basiert auf der Assoziation, dass dein Text, wenn er ein Kleidungsstück wäre, eher einem Wollmantel gliche denn einem Seidenpyjama.

Sehr geil, ich musste lachen, jetzt weiß ich, was du meinst. :D
Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey jimmy,

na, da komme ich doch mal mit einer weiblichen Sicht auf deinen Text vorbei. Obwohl ich mal sagen muss, die ist gar nicht so anders, als was ich bisher in den Kommentaren gesehen habe, wenn ich sie auch nur grob überflogen hab.
Ich habe das sau gern gelesen. Am Ende war ich aber so bisschen - mmh - enttäuscht wäre zu hart, das stimmt nicht, eher so ein Gefühl von - könnte auch gut der Anfang von einem Roman sein, da ist doch irgendwie noch gar nicht richtig was angelaufen, das Knacken und Knistern zwischen Vater und Tochter, dieses voneinander weg - aufeinander zu, da geht doch noch was. Meno! Gar nicht mal als Kritik, eher im Sinne von Erwartungen, von ich will mehr. Dieses vorsichtige Antasten der beiden habe ich sehr genossen, also die Szenen ganz besonders, was natürlich an meinen Vorlieben liegt, und ich hätte mir fast gewünscht, Du gehst noch einen Schritt weiter, gibst der Tochter bisschen mehr Stimme, die ist auch so mega vorsichtig in ihrem Verhalten, muss sie gar nicht. Ich habe meinem Vater jedenfalls viel, viel mehr spüren lassen, das ich "groß" bin. Und aufgrund meines Alters habe ich mich die Bohne drum geschert, wie das wohl für ihn ist. Deine Emma ist da echt schon sehr reif in ihrer Art und Weise auf ihn zuzugehen. Finde ich. Was mich auch interessiert hat und was mir eindeutig zu kurz kam (wieder wegen der Vorlieben) ist die Beziehung des Vaters zur Mutter. Mir kam das bisschen so vor, als hätte er damit noch nicht so ganz abgeschlossen, aber der Faden versandet für mich irgendwo auf der Strecke des Textes, was auch okay ist, weil dein Ich-Erzähler nicht der Typ ist, der sich in solchen Gedanken suhlt und die Tochter nicht diejenige, die ihn danach fragt.
Die Szene mit der Suche nach dem angeschossenem Bock (sehr schön zu lesen, keine Frage), aber am Ende stand ich bisschen ratlos da, sie hat mich jetzt in der Erzählung eher nicht weitergebracht. Aber gut, muss auch nicht.
Unterm Strich habe ich ein sehr ambivalentes Gefühl. Auf der einen Seite liebe ich diese Zartheit zwischen den beiden total, auf der anderen Seite ist es mir zu zart :D. Schräg. Total bescheuert irgendwie. Aber dann doch in seiner Ambivalenz wieder hübsch. Macht auf jeden Fall, dass ich mich übers Lesen hinaus mit dem Text beschäftige. Vielleicht muss ich auch erst mal drüber schlafen, keine Ahnung. Bevor ich Dir noch paar Leseeindrücke mitgebe, kurz zu zwei Dingen, die ich beim Überfliegen aufgeschnappt habe.

Wenn sich Komiker über spinnerte Berliner lustig machen, dann trinken die immer Latte Machiatto.
Ja, aber vor 10 Jahren oder so. Der Latte wurde durch Mate abgelöst. Berlin hat weltweit den höchsten Absatz an Mate. Ohne dem Zeug geht bei der Jugend gar nix. Tut aber nichts zu Geschichte. Wollt ich nur erwähnen.

Mir kommt der in der Betrachtung eigentlich viel zu gut weg, der Vater, der soll schon ein wenig untergründig-aggressiv sein, dieses leicht Toxische, er hat sich nie verlaufen, er hat im Grunde auch immer Recht, das wird halt durch diesen kumpelhaften, gönnerhaften Ton verdeckt, der Charakter soll sich ja die Waage halten, halb Arschloch, halb okayer Typ, bei dem man aber nur schwer hinter die Fassade blicken kann - so war das geplant von mir, ich weiß jetzt nicht, wie der bei dir oder anderen Lesern essentiell ankommt.
Nee, hab den nicht so emfunden. Gar nicht. Vielleicht auch bisschen zu sehr Weichzeichner drauf. Ich habe den als sehr reflektiert und überlegt wahrgenommen. Was ich im Nachhinein fast schade finde. Die beiden, die reiben sich ja kaum. Ich glaube, ich hätte gut gefunden, wenn er da viel mehr an sich halten müsste, wenn sich das dreht, er sich plötzlich mal der Tochter beugen muss, was ja vorher nie der Fall war. Nachgeben, sich zurücknehmen, der innere Kampf, die neue Erfahrung - ab jetzt auf Augenhöhe - das steckt ja alles schon drin, aber ja, bisschen mehr Arschloch hätte die Figur für mich spannender gemacht. Was Dir aber durchaus gelungen ist: schwer hinter die Fassade gucken - also das auf jeden Fall. So habe ich ihn auf jeden Fall wahrgenommen. Und das passt schon sehr gut zu der Figur.

Die Ampel schaltet auf Grün. Der Kiosk. Die Post. Die katholische Kirche, die seit Anfang des Jahres leer steht. Dann sind es nur noch Felder. Lange Streifen am Straßenrand. Hafer. Raps. Erbsen. Dahinter Rotbuchen. Die Sonne steht tief, ich klappe die Blende herunter.
Fand ich total hübsch gemacht, die Wegstecke so zu beschreiben.

Sie dreht den Kopf weg, ich sehe auf ihr dichtes, blondes Haar, es ist das Haar ihrer Mutter.
Stellen wie diese bringen mich darauf, dass er mit dem Thema Mutter noch nicht durch ist.

„Ja, Schopenhauer war ein deutscher Philosoph, der …“
„Ich weiß schon, wer Schopenhauer war, keine Sorge.“
„`tschuldigung“, sagt sie schnell. „War nicht so gemeint.“
„Alles gut. Gehen wir erstmal rein.“
Klar, an der Stelle ist zu früh, aber ich finde das typisch für sie, dass sie sofort einlenkt. Ab einem späteren Punkt in der Geschichte hätte ich mir halt gewünscht, dass sie es nicht mehr tut. Das sie auch ihm auf Augenhöhe begegnet. Und damit meine ich jetzt nicht, ich esse kein Fleisch und trinke Rotwein am Nachmittag, sondern in der direkten Auseinandersetzung. Wobei ich diese Szene, dieses vorsichtige abwägen und einlenken, dieses Antasten wirklich ganz großes Kino finde!

Die schmalen, braunen Augen hat sie von mir.
Wir sehen uns einen Moment lang an, ich sehe die Augen ihrer Mutter, schmal, dunkel, vertraut.
Aha. :)

Sie bleibt stehen, sieht über das angrenzende Maisfeld zurück zum Defender. „Tut mir leid, ich fahr‘ sonst nur mit dem Rad, ich bin bestimmt zwei Jahre kein Auto mehr gefahren.“
„Mach dir mal keinen Kopf.“
„Okay“, sagt sie. „Wenn du das sagst.“
Tochterrolle.

„Bombenfest“.
Punkt ausgerissen

Aber ich beobachte auch Emma, wie sie da sitzt, langsam ein und ausatmet, wie die Ruhe beginnt, auf sie einzuwirken.
Mega schön! So kurz und zeigt doch so viel von seinem Vaterdasein.

Später in der Küche setze ich Kaffeewasser auf. Sie schenkt sich noch ein Glas Wein ein. „Mutter hat nach dir gefragt.“
„Ach ja?“
Sie nickt.
„Geht’s ihr gut?“
„Ich denke schon“, sagt sie und nippt am Glas. „Ja, ich denke, ihr geht es gut.“
„Wo hast du sie gesehen?“ Ich fülle einen Fingerbreit gemahlene Bohnen in die french press und nehme den Topf vom Herd. „Du erinnerst mich übrigens an sie“, sage ich, und Emma verdreht die Augen.
...
„Sie hat mich besucht“, sagt Emma dann, und ich halte inne, rieche am hellen, seidigen Deckblatt – Süße, Erde, im Hintergrund Kräuter. „Wann das denn?“
„Letzten Monat.“
...
„Ich hab‘ das Revier, die Hunde, und das Haus …“ Ich lasse die Kappe auf dem Schrank liegen und lege die Zigarre in den Aschenbecher.
„Ich weiß“, sagt Emma. „Das weiß ich doch alles.“
Sehr schön! Und ich spüre förmlich, wie er seine Fragen zurückhalten muss. Wie er sich wünscht, sie möge mehr erzählen ... bis er dann eben doch nicht mehr zurückhalten kann.
Und weil er auf mich halt wirkt, als ob er irgendwie doch noch an der Frau hängt, wirkt die Stelle, wo er zum Frau-Hund-Vergleich ansetzt ziemlich wie ein Fremdkörper. Ich habe ihm das nicht abgekauft.

Sie nimmt einen großen Schluck Wein. „Ja, so einen kleinen, roten Flitzer mit zwei Sitzen.“
„Auch noch rot …“
Ihre Zähne blitzen auf, als sie lacht, und dann lache auch ich. „Schön, dass du hier bist.“
„Ja, ich habe dich auch vermisst“, sagt sie, sagt Emma, sagt meine Tochter.
Ja, also unsympathisch wirkt er mit seiner ganzen Tochterliebe wirklich nicht auf mich.

Sie wirkt wie eine Frau, denke ich, und natürlich weiß ich, dass sie schon lange kein Mädchen mehr ist, dass sie erwachsen ist, eigene Entscheidungen trifft, ein eigenes Leben lebt, in Berlin, weit weg, in einer WG mit Hund und Schopenhauer …
Aber gar nicht! Ich mag den.

... „Geh doch schlafen, Emma. War `ne lange Fahrt und auch `n anstrengender Tag für dich.“
„Wäre das okay?“
„Aber selbstverständlich.“
„Dann … ich glaub‘, ich schlaf oben.“
„Du weißt ja, wo alles ist. Komm morgen einfach runter, okay?.
„Ja, okay.“
Sie umarmt mich, ich drücke meine Nase in ihr Haar, rieche die Kopfhaut, und so hat sie schon als Kind gerochen, wie eine Salzwiese nahe am Meer. „Schlaf gut.“
Sie wieder so defensiv und er so lieb ...

Ihr Zimmer habe ich so gelassen. Wer weiß schon, was nach dem Studium ist? Es wäre einfach eine weitere Möglichkeit. Sie entscheidet.
Oh je, da hat er aber noch ordentlich Weg vor sich. Er wirkt halt mega einsam auf mich, was ihn eigentlich in die Situation bringt, es sich mit der Tochter nicht zu verscherzen und das muss sie doch spüren ...

Wir gehen durch die Waschküche ins Innere. In der Küche ist es schon hell, da+s erste volle Licht, es riecht nach Rosmarin und Wacholder. „Setz dich“, sage ich und zeige auf einen der Stühle.

„Sag mal, hast du was von meinem After Shave benutzt?“
Sie sieht mich an und lacht. „Schlimm?“
„Nein, aber … Old Spice?“
„Ich mag das“, sagt sie und riecht an ihrem Handgelenk. „Außerdem erinnert’s mich an dich.“
Ja, sie hat ihn auch gern, sehr gern sogar. Vielleicht ist es genau das, was ihn so zu schaffen macht, was ihm das Herz zerreißen wird, wenn sie wieder in ihren Zug nach Berlin steigt. Sag ja, ich hätte gern weitergelesen, auf jeden Fall bis zu der Szene, wenn sie wieder wegfährt.

„Der Kaffee und der Latte Machiatto?“ Die Bedienung stellt das hohe, schlanke Glas mit dem Machiatto vor Emma auf den Tisch, dann nimmt sie das Kännchen vom Tablet, dreht es mit dem Griff zu mir und platziert es auf einem aufgeweichten Bierdeckel.
Lustig. Ich schenke dir ein doppeltes t

„Weißt du, früher, da war es so, früher hat deine Mutter es geliebt, wenn ich Pfeife geraucht habe … da saßen wir zusammen auf der Couch im Wohnzimmer, sie hat gelesen und ich habe geraucht, und da hat sie nie gehustet, nicht ein einziges Mal.“
Emma zuckt mit den Schultern. „Ist ja auch egal.“
„Nein, ist es nicht, es ist überhaupt nicht egal.“ Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Die Metallstreben drücken sich durch den Stoff meiner Hose. Sie nimmt einen Schluck. „Und mit den Hunden?“
Emma lenkt ein. Schon wieder. Und er schwelgt in Erinnerungen. Eigentlich eine blöde Situation auch. Über Emma, die er total gern um sich hat, wird er ständig an ihre Mutter erinnert, was schmerzhaft ist. Dieses gute Gefühl, das auch immer gleich ein schlechtes mit sich bringt - das ist schon sau gut gemacht.

„Du hast das schon richtig verstanden, glaube ich …“
„Ich kann das einfach nicht, mich auf so was einlassen …“
„Auf was denn einlassen?“
„Du hast das schon richtig verstanden“, wiederhole ich, und da wendet sie den Blick ab und sieht wieder aus dem Seitenfenster.
Ja, kurzer Versuch, aber sofort wieder zurück in die Tochterrolle.


„Was soll denn da schon groß passieren? Also Papa, wirklich, schon vergessen, ich leb‘ in Berlin.“
„Das macht es auch nicht besser.“
„Jetzt reg dich nicht auf.“
„Ich reg mich nicht auf, ich …“
„Du hattest kein Bier mehr, das war alles, alles gut.“
Ja, hier blitze mal ganz kurz was auf, aber dann war es auch gleich wieder zu Ende.

„Nein“, sage ich, als ich hinter den Kiefern das Haus erkenne, mein Haus, unser Haus, unser Zuhause. „‘s war nicht dein Bock, nicht der alte, es war irgendein anderer. Kannst mir ruhig glauben, ehrlich.“

Sie sagt nichts. Sie lächelt nur.

Ich mag das Ende total.

So fertig. Mach mit meinen Ambivalenzen was Du willst.
Beste Grüße, Fliege

Nachtrag:

Zum Thema Erotik und Töchter - ja, sicher sehen Väter auch als Mann auf ihre Töchter, glaube aber eher aus dem Blickwinkel, wie andere Männer ihre Töchter sehen. Ich hatte damals eher das Gefühl: Hier, meine Tochter! Also, wenn ich zum Beispiel mit dem Motorrad von Berlin nach Hildesheim gefahren bin, nicht erst mal zu ihm nach Hause, nein, schön in der Kluft in die Dorfkneipe. Mein Arsch tat weh, die Hosen sind jetzt auch nicht so bequem, aber erst mal schön Essen gehen ... So in der Art lief das.

 
Zuletzt bearbeitet:

Unterm Strich habe ich ein sehr ambivalentes Gefühl.

Hey Fliege!

Ich mag Ambivalenz. Ist interessant, eine weibliche Sicht auf den Text zu lesen.

Dieses vorsichtige Antasten der beiden habe ich sehr genossen, also die Szenen ganz besonders, was natürlich an meinen Vorlieben liegt, und ich hätte mir fast gewünscht, Du gehst noch einen Schritt weiter, gibst der Tochter bisschen mehr Stimme, die ist auch so mega vorsichtig in ihrem Verhalten, muss sie gar nicht.
So etwas vor allem. Töchter und Väter scheint mir ja ein sehr spezielles Verhältnis zu sein, und um ehrlich zu sein, kenne ich da gar nicht so viele so gut. Meine Frau hat ein ähnlich vorsichtiges Verhältnis zu ihrem Vater, und vielleicht habe ich mir das ein wenig zum Vorbild genommen. Da spielt auch eine Menge Ungesagtes eine Rolle, vieles, was immer noch eine offene Wunde ist, deswegen bin ich hier sehr zärtlich zu Werke gegangen, weil ich diese Phase des Antastens auch gerne geschrieben habe, ein langsam sich wieder Annähern.

Mir ist das, glaube ich, gar nicht so aufgefallen, dass Emma so handzahm ist - wahrscheinlich liegt das auch an deinem weiblichen Blick. Ich überlege, ob diese KZ und Nietzsche und Wein-trinken Geschichten meine Antworten auf diese Seite von ihr waren, keine gute Idee, wie sich herausgestellt hat. Das ist, wie ich jetzt einsehe, auch einfach zu konfrontativ, und ich denke, es müsste um etwas Fundamentaleres gehen, wo sie einfach gefestigt ist und ihr Vater nun einfach mit dem Dissens leben muss. Was kann das sein? Ist ein wichtiger Punkt.

Was Dir aber durchaus gelungen ist: schwer hinter die Fassade gucken - also das auf jeden Fall. So habe ich ihn auf jeden Fall wahrgenommen. Und das passt schon sehr gut zu der Figur.
Hängt vielleicht auch mit der Figur des Vaters zusammen. Vieles, was diese Arschloch-Seite von ihm betont, damit soll er ja auch hinter dem Berg halten, das soll nur manchmal aufblitzen, nur eine vage Ahnung vermitteln, es soll dem Leser nur ein Gefühl vermitteln, wie es mit ihm in einer Beziehung, einer Ehe gewesen sein könnte.

Und weil er auf mich halt wirkt, als ob er irgendwie doch noch an der Frau hängt, wirkt die Stelle, wo er zum Frau-Hund-Vergleich ansetzt ziemlich wie ein Fremdkörper.
Das ist ja kein direkter Vergleich, sondern eher, wie ist jemand, der so mit Hunden ist, zu Frauen? Mal im groben, übertragenen Sinne gesprochen. In dem Teil geht es ja um Dominanz, und wie man sich ein Lebewesen gefügig macht, es sind Arbeitshunde, die eben funktionieren müssen, da steckt, finde ich, kein Vergleich drin, eher so eine Art Analogie, eine Frage. Guter Ansatz.

Ich muss das mal sacken lassen. Dein Fazit wäre also, du würdest dir mehr Agilität, mehr Distanz der Tochter wünschen, ein eigenständigeres Profil, sehe ich das richtig? Ich frage mich dann eben, im Grunde ist sie ja auch ein Produkt seiner Erziehung, weißt du, was ich meine? Da steht ja eine Chronologie dahinter, eine Entwicklung, und wir wissen nicht, was er davon hält, er beobachtet, sieht, wie sein Leben zerfasert, wie sie sich von ihm entfernt hat, oder wie das bereits geschehen ist, und er nur länger braucht, um das wirklich zu verarbeiten, ich weiß nicht, ich denke, so war das auch mal gedacht. Natürlich kann man den Text noch ziehen, der kann noch länger werden, sicherlich, und dann wäre da auch noch dieses Potential drin, dass es vielleicht zu einem Schlüsselereignis kommen kann, wo der Vater sagt, okay, ich habe es verstanden. Ich überlege mal, ob ich da noch mal investiere, aber der Text ist mir so dermaßen explodiert, und ich wollte versuchen, wirklich das Niveau auf einer Ebene zu halten, also nirgends so absacken, das man nachher sagt, naja, kannst du dir sparen. Ich verstehe aber den Ansatz, das Gesamte zuzuspitzen.

Ja, hey, ein sehr guter Kommentar, da sehe ich den Text auch nochmal wirklich mit anderen Augen, das bringt mir viel. Danke dafür, Fliege, hat mich, wie immer, sehr gefreut!

PS: Zu deinem Absatz über diese erotischen Untertönte. Ich denke, was du meinst, ist einfach Vaterstolz. Das ist bei Töchtern sowieso anders ausgeprägt, als bei Söhnen. Mein Vater hätte sich lieber die Hand abgehackt, als mich irgendwann mal zu loben, vor allem in der Öffentlichkeit. Da war nie etwas gut genug. Aber das meine ich nicht. Für mich ist das ja eine extremst irritierende Erfahrung, die ich selbst nie gehabt habe: Wenn Töchter zu Frauen werden. Und natürlich kann man das jetzt runterspielen und politisch korrekt sagen, naja, das ist irgendwie geschlechtsneutral und harmlos, aber das ist es nicht. Ich denke, das ist vielleicht auch etwas, das nur Männer verstehen, weil die meisten (nicht alle, damit man mir hier nicht den Vorwurf des Pauschalisierens machen kann! :D) ab einem gewissen Zeitpunkt einen anderen Blick auf Mädchen werfen, und dieser ist nun mal AUCH sexuell konnotiert. Nicht nur, aber auch. Und das spielt hier in dem Text auch eine Rolle, der Vater bemerkt, wie Sascha reagiert, und auch wie er selbst reagiert, das ist ja auch eine Art der Distanzierung, das Entdecken der eigenen Sexualität etc, das ist etwas Eigenes - wäre ich ein Berliner Autor, dann wäre die Tochter NATÜRLICH LGBTQ oder zumindest bisexuell! :D

Gruss, Jimmy

 

Hey jimmy,

Da spielt auch eine Menge Ungesagtes eine Rolle, vieles, was immer noch eine offene Wunde ist
Auf jeden Fall und dieses "Ungesagte", dass liest man ja praktisch in jeder Szene hier mit. Das kommt schon sehr gut an. Zumindest bei mir.

damit soll er ja auch hinter dem Berg halten, das soll nur manchmal aufblitzen, nur eine vage Ahnung vermitteln, es soll dem Leser nur ein Gefühl vermitteln, wie es mit ihm in einer Beziehung, einer Ehe gewesen sein könnte.
Verstehe die Idee dahinter total. Kam bei mir halt nicht so an, weil das eben nur so einmal kurz aufblitzte, und ich ihn im Rest eben so ganz anders wahr genommen habe. Klar, muss einen Grund geben, warum ihm die Frau weggelaufen ist und warum das mit Emma jetzt so krampfhaft bemüht abläuft. Und warum das mit der Arzthelferin nicht funktioniert hat und mit anderen Frauen auch nicht, ja, wenn ich da nicht nur am Vermuten wäre, sondern auch was in die Hand bekäme ... Muss gar nicht viel sein. Kann jetzt aber auch an mir liegen. Mein Opa, für den waren Tiere auch Nutztiere und wurden entsprechend behandelt, aber zu meiner Oma, zu seinen Kinder und Enkelkindern, da war er the Best! Klar waren die aufgrund der Zeit und ihrer Erziehung auch in ihren Rollen einzementiert, aber innerhalb derer, lief das sehr liebevoll alles ab. Deshalb kam mir jetzt die Frage nicht in den Sinn, wie einer der zu Tieren so ist, wohl zu seiner Frau ist. Aber das ist ja eine Erfahrung, die speziell ich gemacht habe, gegenüber uns Enkeln hat er nicht mal die Stimme erhoben, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Und wir waren viele und allesamt nicht nur Engel.

Dein Fazit wäre also, du würdest dir mehr Agilität, mehr Distanz der Tochter wünschen, ein eigenständigeres Profil, sehe ich das richtig? Ich frage mich dann eben, im Grunde ist sie ja auch ein Produkt seiner Erziehung, weißt du, was ich meine? Da steht ja eine Chronologie dahinter, eine Entwicklung, und wir wissen nicht, was er davon hält
Die Distanz ist da. Die spürt man mit jeder Zeile. Eher eine Entwicklung, im Sinne von der hörigen, der Konfrontation ausweichenden Tochter zu einer Tochter die standhält. Vielleicht sagt sie ihm am Ende ja, dass der Neue Mutti gut tut. Anfangs lacht sie ja mit ihm über den Capriofutzi, aber so Futzi ist der gar nicht und sie findet das gut. Oder sie spricht ihn auf das Kinderzimmer an. Nimmt ihm diesen kleinen, letzten Hoffnungsschimmer. Ich habe keine Ahnung. Kein großer Knall, das passt nicht, aber eben nicht immer nur wegducken. Auf jeden Fall hat sie die Position, sie kann es riskieren, er bemüht sich ja um sie ... sehr sogar ... sie weiß, das wird diesmal anders laufen, als all die Jahre ihrer Kindheit. Und sie ist jung und wild.

wäre ich ein Berliner Autor, dann wäre die Tochter NATÜRLICH LGBTQ oder zumindest bisexuell!
Witzig. Da kannst mal sehen, was Berlin mit einem macht. Als sie ihn fragt, warum willst du das wissen, habe ich gedacht - vielleicht hat sie ja ne Freundin und will ihm das nicht sagen, weil Papa es nicht verstehen würde :D.

Ich wünsche Dir was! Komme gut und gemütlich durch die Feiertage.
Beste Grüße!

 
Zuletzt bearbeitet:

Und warum das mit der Arzthelferin nicht funktioniert hat und mit anderen Frauen auch nicht, ja, wenn ich da nicht nur am Vermuten wäre, sondern auch was in die Hand bekäme

Moin Fliege,

ist ein guter Punkt. Ich verstehe, dass diese Seite an ihm nicht nur Behauptung bleiben sollte, sondern auch tatsächlich mal herausbricht, im Sinne einer Aktion, einer Handlung. Ist mir klar geworden. Vielleicht ein Satz, warum das mit der Arzthelferin nicht geklappt hat, aus den gleichen Gründen wie mit seiner Ex-Frau, damit eine gewisse Starrköpfigkeit klar wird, ein Muster im Verhalten. Ich finde, es muss halt ein gutes Gleichgewicht sein, weil ich mich frage, wie würden Vater und Tochter tatsächlich miteinander reden, würden die auf so einer vertrauten Basis miteinander reden, so ein intimes Maß? Ich weiß nicht. Ich kann und konnte das mit meinen Eltern jedenfalls nie, da war das Verhältnis tatsächlich immer so von einer tastenden Sprachlosigkeit geprägt, das habe ich eventuell auch zu sehr als Referenz genommen. Die Tochter soll halt weder Invasor seiner Privatsphäre sein, und auch nicht Stichwortgeber, so nach dem Motto: Nun berichte dem Leser, warum das mit Beziehungen bei dir nicht funktioniert. Zeig uns dein wahres Ich! Weißt du, was ich meine? Ich müsste da einen Mittelweg finden, bin ich mir noch nicht sicher, wie ich das mache.

ein großer Knall, das passt nicht, aber eben nicht immer nur wegducken. Auf jeden Fall hat sie die Position, sie kann es riskieren, er bemüht sich ja um sie ... sehr sogar ... sie weiß, das wird diesmal anders laufen, als all die Jahre ihrer Kindheit.

Ich weiß nicht, ob das tatsächlich so ist. Ich argumentiere ja für diesen sehr zaghaften Aufbau, weil beide ja nicht genau wissen, wie es läuft, und DAS wissen beide auch. Sie sagt ja auch, am Anfang, dass der ICE nur noch vier Stunden nach Berlin braucht, also so ein kleiner Hint, der in beide Seiten funktioniert - sie könnte öfter kommen, aber auch: warum ist der Vater nicht auch mal nach Berlin gekommen, um sie zu besuchen? Da lastet ja auch schon ein wenig Druck auf den Figuren, weil die Mutter sie bereits besucht hat, mit ihrem neuen Freund. In meinem Kopf ist es so, dass dieser Besuch, diese gemeinsam verbrachte Zeit so etwas wie der Beginn einer neue Zeitrechnung bedeutet, für beide. Natürlich kann man das jetzt radikal machen, die beiden Welten voll aufeinanderprallen lassen, aber ich wollte hier eben lieber einen leisen Text schreiben, und deswegen bin ich mir auch so unsicher, wie viel Konfrontation, also offenen Konfrontation, der überhaupt verträgt.

So, ich schieb den Rehrücken in den Ofen, cheers!

Gruss, Jimmy

 

Abend Jimmy,

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist glaubwürdig beschrieben und obwohl das Thema Jagd so gar nicht meins ist, fand ich viele Aspekte, besonders die Nachsuche, neu und interessant.

Zwei ihrer Nägel sind rot lackiert, der Lack bereits abgeblättert. Auf der Innenseite des Zeigefingers eine Tätowierung – ein Schnäuzer mit gezwirbelten Enden, ganz in schwarz. Die Haut an ihren Schultern ist gebräunt, am Nacken hellrot von der Sonne.
>> gefiel mir
Ja, Schopenhauer war ein deutscher Philosoph, der …“
>> das deutsch ist mir hier zu viel.
Ich kann den Wein riechen, sein Duft erinnert mich an vergorene Kirschen im Spätsommer.
>> klingt sehr unlecker, aber ein interessanter Vergleich. Als Kirschbaumbesitzerin habe ich den Duft direkt in der Nase.
„Ich will gar nichts wissen.“
„Er ist ganz anders als du“. Sie gießt sich Wein nach, sie gießt das Glas dreiviertelvoll. „Er geht ins Fitnessstudio und fährt Cabrio.“
gar - ganz. Eins würde ich streichen. Vermutlich das ganz
ur noch ein paar Schritte, ein paar Schritte durch den Röhricht, ein Saum aus Schlick, Gänsefuß, Zweizahn, Ehrenpreis, und da ist auch der scharfe, stechende Geruch nach Grassilage, die zu feucht, zu welk ist, er weht von den Silos herüber, große, metallisch glänzende Zylinder weit hinten am Horizont, die tief stehende Sonne blendet mich, das Licht ist überall, und ich höre Emma lachen,

Eine sehr schöne Textstelle.

vieel Grüße, Petdays

 

Lieber @jimmysalaryman

was für ne Wahnsinns Story! Ich hab sie so gern gelesen. Das Tempo genau passend und was mir mega gut gefällt - die Art, wie Du beschreibst. Alles so flüssig, kein Wort zu viel oder zu wenig. Du regst mein Kopfkino an, ich bin ständig mitten im Setting, nah an den Protagonisten. Du hast eine poetische Art zu schreiben, das mag ich. Regst alle Sinne an. Schön!

Hier ein paar Anmerkungen:

Die Haut an ihren Schultern ist gebräunt, am Nacken hellrot von der Sonne.

Das hat mich ein wenig irritiert. Entweder man neigt zu Sonnenbrand oder nicht. Dann wären die Schultern auch eher gerötet, oder?

„Okay“, sagt sie. „Wenn du das sagst.“

Wortwiederholung.
Vorschlag: "Okay", erwidert sie. "Wenn du das sagst."

Mir ist aufgefallen, dass in Deinem Text einige Doppelungen sind. Die meisten haben mich gar nicht gestört, da als Stilmittel eingesetzt.

Emma schüttelt den Kopf. „Wirst du ihn schießen?“
„Nicht heute jedenfalls.“

Ach, da war ich richtig erleichtert!

„Wo hast du sie gesehen?“ Ich fülle einen Fingerbreit gemahlene Bohnen in die french press und nehme den Topf vom Herd.

Da musste ich schmunzeln. Irgendwie hat die Geschichte etwas altmodischer auf mich gewirkt, und dann kam das moderne Wort. Aber beim Weiterlesen hab ich festgestellt, dass auch japanische Touristen unterwegs sind. Von demher hat es dann für mich gepasst.

Es ist seltsam, sie so zu sehen. Es ist nicht nur die Tätowierung oder die Art, wie sie sich kleidet.

Da hab ich für mich festgestellt, dass ich noch kein so genaues Bild von Emma in meinem Kopf hatte. Bei mir hat sich das eher nach und nach entwickelt, was ich aber stimmig fand.

„Ja, ich habe dich auch vermisst“, sagt sie, sagt Emma, sagt meine Tochter.

Hier finde ich die Doppelung echt gelungen.

Die Welpen bekommen zwei Mal am Tag ihr Fressen, und sie wissen, dass ich komme, sie verlassen sich darauf. Ich enttäusche sie nicht, ich enttäusche sie nie. Sie kommen aus der Dunkelheit des Zwingers in den Auslauf, das Geräusch ihrer Pfoten auf den Hackschnitzeln, ein leises, kaum wahrnehmbares Scharren.

Wortwiederholung. Ich habs mal markiert, obwohl es mich hier auch nicht wirklich gestört hat.

Im Arbeitszimmer ist es dunkel und ruhig. Kühle Luft weht durch das geöffnete Fenster. Die Borke der Stieleiche glänzt im Mondlicht, der Stamm wirkt so noch mächtiger – ein solitär stehender Baum, seit Jahrhunderten trotzt er den Wettern, überdauert Zeit und jede menschliche Regung. Ich fasse an die Gardine, fühle den Stoff, meine Fingerspitzen gleiten über die rauen Kanten. Dann lege ich mich halb angezogen auf die Couch. Ich lasse das Fenster offen, sehe auf den schmalen Keil Himmel im Dachkreuz. Sterne funkeln, draußen kriecht etwas durch das Laub, vielleicht ein Marder, im Hintergrund singt ein Waldkauz – ein langgezogener Laut, hoch, anschwellend, fast wie Jaulen, dann kurze Stille, danach wird der Gesang ein im Ton wechselndes Klagen, ein schnelles Hin und Her, zitternd, entrückt. 23:19. Wärme unter der Decke, Muskeln entspannen. Die Müdigkeit kommt schnell.

Diesen Teil fand ich mega gut!

Ich zünde die Toscanello an, und der erste Zug, der schmeckt wie Urlaub, der schmeckt nach Italien im Spätsommer - das Branden der Gischt, das stetige Auf und Ab der Wellen, die Schaumkronen weiß und sauber, und das Meer ganz nah, sein Geruch in der feuchten Luft, streng, nach Salz und Tang, das leise Verbrennen des Tabaks, die Gespräche der Italiener im Hintergrund, Männer und Frauen, alt und jung, sie alle reden mit ihren Händen, mit ihren Augen, der Espresso ist stark und schwarz, und noch ein Zug, ein tiefer Zug, meine Brust hebt sich; gegrillte Auberginen, nach Trester duftender Grappa, die leicht gebräunten Waden junger Frauen, die dir einen kurzen, kessen Blick über die Schulter zuwerfen, noch ein Zug, Olivenhaine und rotbrauner Sand und Wein so dunkel wie Molasse …

Wunderschön beschrieben! Großes Kompliment.

„Du wirst noch richtig fett, wenn du ständig so `n Zeug frisst.“

Und da dann der Gegensatz. Das hat mich zum Lachen gebracht.

Ganz liebe Grüße und einen gemütlichen 2. Weihnachtsfeiertag,
Silvita

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom