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Novelle Die Freigabe

Seniors
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28.12.2009
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Anmerkungen zum Text

Lang.

Die Freigabe

Die Ampel ist rot. Ich lasse eine Hand auf dem Lenkrad liegen und blättere mit der anderen durch den Ordner.
„Mach doch die mal rein.“
Sie zieht die CD aus der Tasche und fährt mit den Fingerspitzen über den Titel. „Terry Reid“, sagt sie.
„Haben wir in Irland immer gehört.“
„Stimmt, ja.“ Ich schüttele den Kopf. „Dass du dich daran erinnern kannst.“
Sie zuckt mit den Schultern. Dann tippt sie auf das Armaturenbrett. „Was hast du mit dem Jimney gemacht?“
„Der hatte fast Dreihunderttausend runter …“
Die Ampel schaltet auf Grün. Der Kiosk. Die Post. Die katholische Kirche, die seit Anfang des Jahres leer steht. Dann sind es nur noch Felder. Lange Streifen am Straßenrand. Hafer. Raps. Erbsen. Dahinter Rotbuchen. Die Sonne steht tief, ich klappe die Blende herunter.
„An wen hast du den Jimney verkauft?“
„Hab‘ ich in Zahlung gegeben“, sage ich und drehe die Musik leiser. „Hätt‘ sich einfach nicht mehr gelohnt, wenn da was dran gewesen wär‘, das ist nachher wie der Kölner Dom, biste ständig am reparieren. Und der hier, das war `n gutes Angebot.“ Sie dreht den Kopf weg, ich sehe auf ihr dichtes, blondes Haar, es ist das Haar ihrer Mutter.
„Warum fragst du?“
Die schmalen, braunen Augen hat sie von mir.
„Ach, nur so, ich hab‘ damit fahren gelernt … “
„Ja, ich weiß, bei Kambecks im Hof …“, sage ich, und da lächelt sie das erste Mal.

Sie trägt ein weites Kleid aus bedrucktem Stoff, eine Halskette aus Holzperlen, die Haare zu einem lockeren Dutt gebunden. Nach einer Weile fallen ihr meine Blicke auf. „Was?“
„Hast dich verändert.“
Sie lacht. „Findest du?“
„Ja“, sage ich. „Ich finde schon.“
Das Haus liegt am Ende eines langen Schotterwegs, versteckt hinter einer Reihe Kiefern. Das Dach schimmert durch die Äste. Als ich bremse, graben sich die Reifen durch den Rollsplit.
„Vom neuen Bahnhof“, sagt sie und klopft mit den Knöcheln gegen die Seitenscheibe. „Da sind es jetzt ja nur noch vier Stunden mit dem ICE …“
Ich nicke schweigend.

Die Hunde im Zwinger beginnen zu bellen. Sie öffnet die Beifahrertür, lässt die Hand für einen Moment auf dem Griff liegen. Zwei ihrer Nägel sind rot lackiert, der Lack bereits abgeblättert. Auf der Innenseite des Zeigefingers eine Tätowierung – ein Schnäuzer mit gezwirbelten Enden, ganz in schwarz. Die Haut an ihren Schultern ist gebräunt, am Nacken hellrot von der Sonne. Sie bleibt vor dem Zwinger stehen, kniet sich hin, steckt eine Hand durch die Stäbe. Die Welpen kommen aus dem Dunkelbereich, nehmen Witterung auf, lecken über ihren Handballen. Bargo, die Hündin, hebt kurz den Kopf, bleibt aber liegen, noch erschöpft vom Werfen. Ich nehme ihre Tasche von der Rückbank.
„Wie viele sind es dieses Jahr?“
„Sechs Stück“, sage ich und lehne mich gegen das Gatter.
„Und gibst du sie alle ab?“
„Ja. Zwei gehen nach Schweden …“
Sie streicht einem der Welpen über den Kopf. „Wir haben in der WG auch einen Hund, ein Mischling aus dem Tierheim. Wir haben ihn Butz getauft.“
„Butz?“
„So hieß der Pudel von Schopenhauer.“
„Von Schopenhauer … “
„Ja, Schopenhauer war ein Philosoph, der …“
„Ich weiß schon, wer Schopenhauer war, keine Sorge.“
„`tschuldigung“, sagt sie schnell. „War nicht so gemeint.“
„Alles gut. Gehen wir erstmal rein.“

Ich stelle ihre Tasche neben die Garderobe und werfe meine Jacke über einen Küchenstuhl.
„Du hast ja richtig aufgeräumt“ sagt sie und zieht grinsend die Fingerspitzen über die Tischplatte.
„Möchtest du was essen oder trinken?“
„Ja“, sagt sie. „Hast du Wein?“
„Am frühen Nachmittag?“
„Trinken macht doch während des Tages am meisten Spaß, oder hast du heute noch was vor?“
Sie lehnt am Kühlschrank, eine Augenbraue lässig nach oben gezogen.
„Wein“, wiederhole ich und muss lachen. „Rot oder Weiß?“
„Rot, wenn du hast“, sagt sie und setzt sich an den Tisch.
Ich ziehe eine Flasche Gamay aus dem Regal und stelle sie auf die Anrichte. „Gefällt’s dir in Berlin immer noch so gut?“
„Ja, Berlin ist großartig.“
Der Griff des Korkenziehers ist aus Metall und kalt, die Spitze verschwindet ohne Druck im Kork. Ich kann den Wein riechen, sein Duft erinnert mich an vergorene Kirschen im Spätsommer. Ich nehme zwei Gläser aus dem Schrank, gieße ein und warte, bis sie den ersten Schluck genommen hat.
„Ist gut, `n guter Wein.“ Sie stellt das Glas vor sich auf den Tisch. „Wie machen wir das eigentlich? Soll ich oben schlafen?“
„Kannst es dir aussuchen. Ich schlaf‘ im Arbeitszimmer.“
„Im Arbeitszimmer? Warum das denn?“
Ich starre in den hellen, karmesinroten Wein. „Wenn ich aus dem Fenster seh‘, dann ist da der Wald, und …“
Sie nimmt noch einen Schluck und streicht sich Haare aus dem Gesicht.
„Ich hab für uns beide gekocht, Wildschweingulasch.“
„Papa“, sagt sie leise und verzieht die Mundwinkel.
„Was denn? Was ist denn los?“
„Ich ess‘ kein Fleisch … schon seit zwei Jahren nicht mehr.“
Ich nehme einen Schluck Wein, behalte ihn am Gaumen. Vergorene Kirschen im Spätsommer. „Das wusste ich nicht. Tut mir leid, Emma …“
Wir sehen uns einen Moment lang an, dann winkt sie ab. „Ach, macht nichts, ich schau einfach, was du sonst noch so da hast.“ Sie steht auf, lässt das Glas Wein stehen und geht zum Kühlschrank. Rispentomaten. Eine halbe Salatgurke. Zwiebeln. Schwarzbrot. Butter. Frischkäse. Sie legt alles auf das Holzbrett neben dem Herd.
„Eier“, frage ich. „Isst du noch Eier?“
Als sie nickt, hole ich zwei aus der Packung, schlage sie über einer Schüssel auf, verrühre sie mit einer Gabel. Wir stehen vor dem Herd, sie schneidet die Tomaten zu kleinen Würfeln, hält das Messer dabei locker in der Hand. Ich zerlasse ein Stück Butter in einer der gusseisernen Pfannen, gieße die Eier dazu, schwenke die Pfanne, bis die Masse sich verteilt hat.
„Warum isst du kein Fleisch mehr?“
Sie vermengt die Tomaten mit hauchdünn geschnittenen Gurkenscheiben, streut Salz und Pfeffer darüber und öffnet das Olivenöl. „Weil das einfach grausam ist … diese ganze Massentierhaltung, wie sie die Tiere da quälen und alles ...“
Ich sehe in die Pfanne, auf die Blasen, die sich am Rand des Omeletts gebildet haben. Sie träufelt Öl über Tomate und Gurke und sieht mich an.
„Ja“, sage ich. „Ja, du hast Recht.“ Ich wende das Omelett – die Seite ist perfekt geworden, ganz gleichmäßig hellbraun.
„Gibst du mir mal den Schnittlauch?“
Sie nimmt den Bund aus dem mit Wasser gefüllten Einmachglas und legt es auf das Schneidebrett. Die Spitzen der Halme sind verfärbt, ich schneide sie ab, nehme nur die grünen Enden, verteilte sie über dem Omelett.

Am Tisch sitzen wir uns gegenüber. Sie hat ein Bein auf dem Stuhl untergeschlagen, ihre Haare hängen fast im Teller. Zum Essen benutzt sie nur eine Gabel.
„Das ist gut“, sagt sie und schiebt sich ein Stück Omelett in den Mund. Ich zerkaue eine Tomate, spüle mit einem Schluck Wein nach. „Müsste nachher noch mal kurz raus, an `ner Kanzel was reparieren, aber `s dauert nicht lang, ist nur eine Sprosse austauschen.“ Ich hebe die Augenbrauen. „Kannst auch fahren, wenn du willst.“

Sie sieht klein aus hinter dem Steuer. Wie sie das Lenkrad umklammert, bis ihre Knöchel weiß werden. Ich denke an das Glas Wein, das leer auf dem Küchentisch steht, doch da startet sie schon den Motor. Der Defender macht einen Satz nach vorne.
„Sorry“, sagt sie und beißt sich auf die Unterlippe.
„Kupplung langsam kommen lassen …“
Sie beugt sich nach vorne und schließt die Augen. Ich höre den Schlüssel in der Zündung klicken. Das Aufheulen des Getriebes. Sie starrt durch die Frontscheibe, legt beide Hände auf das Lenkrad. Wir fahren im Schritttempo los.

Die Einfahrt ist abschüssig, mündet in einer scharfen Kurve. Neben dem Weg fließt ein Bach, auf der anderen Seite mächtige Holzpolter, alles Käferholz. Die Harvester stehen noch im Kahlschlag. Der Wagen gerät ins Schlingern, sie lenkt dagegen, und für einen Moment denke ich, sie verliert die Kontrolle über das Fahrzeug, doch dann gibt sie einmal richtig Gas, wir passieren die Wasserscheide, die den Weg kreuzt. Schotter schlägt gegen den Unterboden, Schlammspritzer landen auf der Windschutzscheibe. Sie lacht, laut und aus vollem Hals. Nach hundert Metern zeige ich an, dass sie in einen Wirtschaftsweg abbiegen soll. Herunterhängende Äste streifen über Motorhaube und Dach. Der Weizen ist abgeerntet. Auf ein paar Feldern steht noch Mais, die Kolben braun, vertrocknet bis in die Ähren. Der Sommer war lang und zu heiß.
„Du kannst da vorne halten“, sage ich und zeige auf eine umzäunte Bestallung. Kühe stehen äsend auf der Weide, sehen uns träge aus feucht glänzenden Augen hinterher. Sie tritt auf die Bremse. Der Wagen kommt mit einem Ruck zum Stehen. Wir bleiben einen Moment sitzen, sehen schweigend aus der Frontscheibe. Der Ansitz steht in zweiter Reihe, neben einer alten, knorrigen Eiche, davor ein Wildacker. Die Blüten der Süßlupinen wirken aus der Ferne wie zarte, blaue Federn.

Ich steige aus, nehme Werkzeugkasten und das auf Maß gesägte Brett von der Rückbank und lehne mich über den Beifahrersitz. „Den Rucksack, wenn du den mitnehmen könntest, ja?“
Sie nickt. „Klar.“
Wir gehen an der Scheune vorbei, den Hang hinauf. „Musst aufpassen“, sage ich und nicke Richtung Zaun. „Da ist Musik drauf.“
Sie bleibt stehen, sieht über das angrenzende Maisfeld zurück zum Defender. „Tut mir leid, ich fahr‘ sonst nur mit dem Rad, ich bin bestimmt zwei Jahre kein Auto mehr gefahren.“
„Mach dir mal keinen Kopf.“
„Okay“, sagt sie. "Dann ist ja gut."
Wir gehen weiter. Es wird kühler. Die Eiche ist hoch gewachsen, die Krone lässt wenig Licht durch. Das Dach der Kanzel ist schon lange nicht mehr dicht. Ich reiße die Sprosse aus der Leiter und schmeiße das morsche Holz unter den Ansitz. „Gibst du mir mal den Hammer aus dem Kasten?“
Sie stellt den Werkzeugkasten auf die Erde, klappt das oberste Fach auf und nimmt den Schieferhammer heraus.
„Danke dir“, sage ich und klemme mir einen Nagel zwischen die Lippen.
„Soll ich festhalten?“
„Ja, ja das wäre gut.“
Sie steigt über den Werkzeugkasten, tritt die Himbeersträucher platt, die um den Ansitz wuchern und drückt das Brett auf den Balken. „Bisschen rüber, das muss bündig anliegen.“ Sie nickt und zieht die Enden übereinander. Der Nagel treibt gleichmäßig in das Holz. „Willst du bei dir die Seite machen?“, frage ich und halte ihr den Hammer hin. Emma nimmt ihn an der Spitze, lässt ihn über die offene Handfläche gleiten und umfasst mit einer schnellen Bewegung den Griff.
„`n Nagel, Papa, ich brauch noch `n Nagel.“ Ich reiche ihr einen Sparrennagel aus meiner Westentasche, sie platziert ihn mittig auf dem Holz, fixiert ihn mit zwei, drei kurzen Schlägen, treibt ihn dann mit mehr Kraft weiter in das Holz, bis der Metallkopf verschwunden ist.
„Bombenfest“.
Ich rüttelte an der Sprosse. „Du bist geschickt.“
„Das kann ich ja schon mal nicht von dir haben“, sagt sie und lacht. Ein Mäusebussard fliegt über das Maisfeld hinweg, landet auf der Feldkante, einem schmalen Streifen Erde, verharrt kurz, breitet die Flügel aus und schwingt sich mit ein paar Schlägen wieder empor. Emma setzt einen Fuß auf die unterste Sprosse, nach außen, wie ich es ihr als Kind schon beigebracht habe. Immer einen Fuß und eine Hand an der Leiter. Oben klappt sie die Sitzbank um. Ich schultere den Rucksack und folge ihr. Die Kanzel ist von drei Seiten offen, die Sitzbank lang und tief. Im Sommer habe ich hier oft auf Schwarzwild angesessen, bei gutem Mondlicht gewartet, bis sie aus dem Mais wieder in den Wald gewechselt sind. Ich sage ihr nichts davon. Wir sitzen still nebeneinander. Sie streckt einen Arm aus, lässt ihre Hand auf der Schießlatte liegen. Das Licht ist jetzt fast schattenlos. Ich beobachte den gegenüberliegenden Waldrand, es geschieht einfach, es ist ein Reflex, alle Jäger tun das. Auf die kleinste Bewegung achten, jede Unregelmäßigkeit, jede Unruhe. Aber ich beobachte auch Emma, wie sie da sitzt, langsam ein und ausatmet, wie die Ruhe beginnt, auf sie einzuwirken. Den Bock, der am Rand des Wildackers auftaucht, sehen wir im gleichen Moment. Ihr Blick weitet sich, sie richtet den Oberkörper auf, und ich lege den Zeigefinger über meine Lippen.

Ich ziehe vorsichtig die Kordeln des Rucksacks auseinander und drehe die Schutzkappe vom Spektiv. Der erste Blick gehört ihr, gehört Emma. Sie nimmt mir das Spektiv aus der Hand, beugt sich zur Seite, stellt den Fokus scharf. Es ist ein alter Bock, großer Vorschlag, die Vorderläufe stehen breit, kaum mehr Rosenstöcke. Sie hält das Spektiv ruhig, ich kann sie atmen hören. Der Bock kommt langsam näher, verhofft immer wieder, äst. Sein Gehörn ist ausgeprägt, ein guter Sechser, ein braver Bock. Er hebt den Kopf, sieht in unsere Richtung, ich kann die dunklen Lichter erkennen. Wir bleiben so sitzen, ganz ruhig, abwartend, beobachtend, bis er am Ende des Wildackers angelangt und fast außer Sichtweite ist.
„Den kenn‘ ich, den Bock“, sage ich leise und reiche ihr den Schutzdeckel für das Spektiv. „Hab‘ ich letztes Jahr schon gesehen, hat hier seinen Einstand.“
Emma schüttelt den Kopf. „Wirst du ihn schießen?“
„Nicht heute jedenfalls.“

Auf dem Rückweg hakt sie sich bei mir ein, ich spüre ihre kleine, warme Hand an meinem Unterarm. Die Kühe blöken, wir beide lachen. Dann bleibt sie stehen, sagt: „Warte mal“, und rennt zurück zum Zaun. Zuerst denke ich, sie will die Kühe streicheln, aber sie streckt die Finger aus, um den elektrischen Zaun zu berühren. Als sie den Schlag abbekommt, schreit sie kurz auf, doch sie hat keine wirklichen Schmerzen, das weiß ich, es ist nur der Schock, dieser erste, kurze Moment. Wir gehen weiter, unsere Schultern berühren sich, sie gibt mir einen leichten Schubs. Am Defender überreicht sie mir die Schlüssel.
„Danke“, sagt sie. „Das war schön.“
Die Rückfahrt über lasse ich das Radio ausgeschaltet. Nur das sonore Geräusch des Motors.

Später in der Küche setze ich Kaffeewasser auf. Sie schenkt sich noch ein Glas Wein ein. „Mutter hat nach dir gefragt.“
„Ach ja?“
Sie nickt.
„Geht’s ihr gut?“
„Ich denke schon“, sagt sie und nippt am Glas. „Ja, ich denke, ihr geht es gut.“
„Wo hast du sie gesehen?“ Ich fülle einen Fingerbreit gemahlene Bohnen in die Kanne und nehme den Topf vom Herd. „Du erinnerst mich übrigens an sie“, sage ich, und Emma verdreht die Augen. Ich kippe das sprudelnde Wasser in die Kanne und rühre mit einem Essstäbchen vom Vietnamesen um. „Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Sie nimmt die halbleere Flasche Gamay mit und lässt sich in den Ledersessel vorm Kamin fallen. Ich gieße den Kaffee in eine Porzellantasse und öffne den Humidor, der auf dem Fenstersims steht. Das Zellophan knistert, als ich die Partagas aus der Verpackung ziehe.
„Sie hat mich besucht“, sagt Emma dann, und ich halte inne, rieche am hellen, seidigen Deckblatt. „Wann das denn?“
„Letzten Monat.“
Ich nehme die Kappe der Zigarre zwischen die Lippen, feuchte sie mit der Zungenspitze an, schiebe das Ende in den Cutter. „Ja, für sie ist das auch näher - Berlin, und ehrlich gesagt, glaub‘ ich, dass sie einfach mehr Zeit hat.“ Eine kurze, entschlossene Bewegung, die beiden Klingen schnappen zu. „Ich hab‘ das Revier, die Hunde, und das Haus …“
„Ich weiß“, sagt Emma. „Das weiß ich doch alles.“
Es ist seltsam, sie so zu sehen. Es ist nicht nur die Tätowierung oder die Art, wie sie sich kleidet. Als Kind hat sie ständig Sachen fallen gelassen. Ich öffne die Streichholzschachtel und reiße eines an. Die Flamme zischt nach dem ersten Entzünden und brennt ruhig weiter.
„Hast du eigentlich einen Freund in Berlin?“ Ich spüre den Tabak an meinen Lippen, ziehe die Flamme ein, die Glut leuchtet kirschrot auf.
„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“
„Keine Ahnung, einfach so. `tschuldigung, war blöd von mir.“ Wir schweigen eine Weile, dann fragt sie: „Und was wäre, wenn ich einen hätte?“
Ich nehme zwei, drei kleine Züge, danach einen langen, tiefen, behalte den satten Rauch ein paar Sekunden lang im Mund. „Dann würd‘ ich ihm mit der .308 in die Kniescheiben schießen.“
Sie lacht. „Das würdest du nicht.“
„Nein“, sage ich. „Natürlich nicht.“
„Hab‘ ich gar keine Zeit für, für `ne ernsthafte Beziehung, ist so viel los grad – Uni, WG, und ich will mich da nicht festlegen, ich will erstmal meine Freiheit genießen.“
Ihr Gesicht im Halbschatten. Die Wangen rosa. Ihre Haut ganz glatt und straff. Ich lehne mich zurück und nehme einen Schluck Kaffee. „Hat sie ihren neuen Typen dabeigehabt? Ich meine, als sie dich besucht hat?“
Sie nickt. „Was willst du denn wissen?“
„Nichts.“ Ich nehme noch einen Zug, lege die Zigarre dann im Aschenbecher ab. „Ich will gar nichts wissen.“
„Er ist ganz anders als du“. Sie gießt sich Wein nach, sie gießt das Glas dreiviertelvoll. „Er geht ins Fitnessstudio und fährt Cabrio.“
„Cabrio … “
Sie nimmt einen großen Schluck Wein. „Ja, so einen kleinen, roten Flitzer mit zwei Sitzen.“
„Auch noch rot …“
Ihre Zähne blitzen auf, als sie lacht, und dann lache auch ich. „Schön, dass du hier bist.“
„Ja, ich habe dich auch vermisst“, sagt sie, sagt Emma, sagt meine Tochter.

Sie hält das Glas in der Hand, die andere liegt locker in ihrem Schoß. So, wie sie da sitzt, ganz entspannt, mit offenen Haaren, da wirkt sie um so viel älter, als sie ist. Sie wirkt wie eine Frau, denke ich, und natürlich weiß ich, dass sie schon lange kein Mädchen mehr ist, dass sie erwachsen ist, eigene Entscheidungen trifft, ein eigenes Leben lebt, in Berlin, weit weg, in einer WG mit Hund und Schopenhauer …

Ich betrachte sie, ich versuche sie mit fremden Augen zu sehen, so wie jeder andere Mann sie auch ansehen würde, und dann erschrecke ich über mich selbst. Sie ist müde, ihre Augen fallen immer wieder zu. Ich nehme ihr das Glas Wein aus der Hand und sage: „Geh doch schlafen, Emma. War `ne lange Fahrt und auch `n anstrengender Tag für dich.“
„Wäre das okay?“
„Aber selbstverständlich.“
„Dann … ich glaub‘, ich schlaf oben.“
„Du weißt ja, wo alles ist. Komm morgen einfach runter, okay?“
„Ja, okay.“
Sie umarmt mich, ich drücke meine Nase in ihr Haar, rieche die Kopfhaut, und so hat sie schon als Kind gerochen, wie eine Salzwiese nahe am Meer. „Schlaf gut.“
„Ja, du auch.“

Ich sehe ihr hinterher, wie sie im Türrahmen noch einmal stehenbleibt und zum Abschied winkt. Das Knarren der Wendeltreppe. Die Geräusche ihrer Schritte auf den Dielen im Obergeschoss. Dann Stille. Ihr Zimmer habe ich so gelassen. Wer weiß schon, was nach dem Studium ist? Es wäre einfach eine weitere Möglichkeit. Sie entscheidet.

Die Hunde warten. Die Welpen bekommen zwei Mal am Tag ihr Fressen, und sie verlassen sich darauf. Ich enttäusche sie nicht, ich enttäusche sie nie. Aus der Dunkelheit des Zwingers in den Auslauf - das Geräusch ihrer Pfoten auf den Hackschnitzeln, ein leises, kaum wahrnehmbares Scharren. Ich spüre die Wärme ihrer Körper, als sie sich um meine ausgestreckte Hand sammeln, sie wittern den Rüdemann, sie warten. Ein Welpen muss kurz nach der Geburt an den Zwinger gewöhnt werden, ansonsten wird es immer schwieriger. Der Zwinger härtet sie ab, denn ein Hund, den du erfolgreich bei der Jagd einsetzen willst, muss bei jedem Wetter raus. Wenn du sie an den Zwinger gewöhnst, werden sie jammern, sie werden jammern und bellen, aber eins darfst du nie tun, du darfst sie niemals aus dem Zwinger holen, denn dann lernen sie, dass jemand kommt, um sie von ihrem Alleinsein zu erlösen. Nein, du bist es, der bestimmt, wann der Hund den Zwinger verlassen darf, nur du alleine, sonst niemand.

Im Arbeitszimmer ist es dunkel und ruhig. Kühle Luft weht durch das geöffnete Fenster. Die Borke der Stieleiche glänzt im Mondlicht, der Stamm wirkt so noch mächtiger – ein solitär stehender Baum, seit Jahrhunderten trotzt er den Wettern, überdauert Zeit und jede menschliche Regung. Ich fasse an die Gardine, fühle den Stoff, meine Fingerspitzen gleiten über die rauen Kanten. Dann lege ich mich halb angezogen auf die Couch. Ich lasse das Fenster offen, sehe auf den schmalen Keil Himmel im Dachkreuz. Sterne funkeln, draußen kriecht etwas durch das Laub, vielleicht ein Marder, im Hintergrund singt ein Waldkauz – ein langgezogener Laut, hoch, anschwellend, fast wie Jaulen, dann kurze Stille, danach wird der Gesang ein im Ton wechselndes Klagen, ein schnelles Hin und Her, zitternd, entrückt. 23:19. Wärme unter der Decke, Muskeln entspannen. Die Müdigkeit kommt schnell.

Ich bin da, sage ich, ich komme, und meine Stimme klingt rau, rau und gedämpft, als spräche ich in Erde, und da unten ist der Fluss, die Biegung, lang und sanft geschwungen, das Wasser glitzert in der Mittagssonne, ein Aalschokker zerschneidet die Oberfläche, gleitet lautlos an mir vorüber, hinterlässt kräuselnde Wellen. Manche sagen, hier läge der Schatz der Nibelungen begraben, irgendwo im Schlick, unter Schichten von Sand und Steinen, doch sie haben natürlich nie etwas gefunden, alles Träumer, ich gehe die Böschung hinunter, sehe Emma, die schon bis zu den Knien im Wasser steht, sie winkt und ruft, ich solle auch kommen, das Wasser sei warm, viel wärmer als man denkt, nur noch ein paar Schritte, ein paar Schritte durch den Röhricht, ein Saum aus Schlick, Gänsefuß, Zweizahn, Ehrenpreis, und da ist auch der scharfe, stechende Geruch nach Grassilage, die zu feucht, zu welk ist, er weht von den Silos herüber, große, metallisch glänzende Zylinder weit hinten am Horizont, die tief stehende Sonne blendet mich, das Licht ist überall, und ich höre Emma lachen, ich muss meine Augen schließen, denn da ist dieses grelle, grelle Licht, ich stehe da wie blind, Emmas Lachen, das sich entfernt, und dann wird es auf einmal dunkel, dunkel und kalt, ich spüre nasses Gras unter meinem Rücken, Emmas Hände auf meinem Gesicht, ich weiß, dass es ihre sind, ich fühle es, diese feingliedrigen Hände mit den schmalen, langen Fingern, ihr Atem, warm und nah, ich kann ihre Haut riechen, ihr Haar, salzig wie eine Marsch, dann öffne ich meine Augen, ihr Fleisch, das auch mein Fleisch ist, so weiß wie Milch, und der Himmel über uns stahlfarben, die Wolken rasend schnell, sie legt ihre Hände auf meinen Mund, formt sie zu Fäusten, ihre Knöchel drücken auf meine Schneidezähne, bis sie mit einem hellen Knacken abbrechen, der Geschmack von Blut, der sich im Rachen ausbreitet, und da ist ein feiner Schmerz, der vom Kiefer über das Felsenbein pulsiert, aber ich spüre ihn nicht, ich spüre den Schmerz nicht …

Hitze auf meinem Gesicht, Hitze überall, Haut, Unterleib. Ich atme lautlos in die Dunkelheit des Zimmers, drehe meinen Kopf zur Seite und sehe dabei an die Wand, es dauert nicht lang. Dieses Gefühl habe ich fast vergessen, dieses eine, ewige Gefühl - das warme Beben nach der letzten Berührung, es gibt kein Zurück mehr, das Zucken, das Vibrieren, die zitternden, ganz langsam erschlaffenden Muskeln … Ich starre auf die rot glühenden Ziffern des Weckers. 5:24 Die Sonne wird in einer Stunde aufgehen. Es ist, als habe diese Zeit keine Eigenschaften, als gehöre sie weder zur Nacht noch zum Tag. Ich ziehe den Pullover aus, trockne meinen Bauch mit dem Unterhemd ab, zerknülle es, werfe es in den Schrank.

Das Haus ist alt, die Balken werden feucht, arbeiten, manchmal knarrt es, ansonsten ist da nur Stille. Ich nehme den Deckel vom Topf. Fettaugen schwimmen auf der Oberfläche. Wacholder, Lorbeerblätter, schwarzer Pfeffer, Nelken. Ich schlürfe das Stew aus der Kelle, die Stücke zergehen auf der Zunge, so zart sind sie. Zwei Jahre kein Fleisch. Ich kaue langsamer.

Nebel kriecht über die Lichtung. Noch sind die Farben gedämpft, verschleiern den gerade beginnenden Tag. Ich mache frischen Kaffee und setze mich mit der Tasse auf die Bank vor dem Haus. In der Luft der Geruch des nahenden Herbstes; Tau, nasses Laub, aufgewühlte Erde. Kurz vor Sieben dumpfe Motorengeräusche, die über die Felder bis zum Haus dringen. Grelles Scheinwerferlicht zerschneidet den letzten Rest Dunkelheit. Sascha parkt seinen Subaru neben dem Schuppen und steigt aus.
„Morgen“, sagt er und winkt.
„Morgen Sascha, bist aber früh unterwegs.“
„Wollt‘ nur eben die Zinkbleche rüberbringen, hab‘ ich gestern direkt fertiggemacht inner Werkstatt. Könnten wir endlich mal die neue Kanzel aufstellen unten am Herdchen, wird ja langsam Zeit …“
„Ja, hast Recht.“ Ich gehe um den Wagen herum. Neu verpackte Dachpfannen auf der Ladefläche. „Und heute gehste schwarz?“
Er zuckt mit den Schultern. „Von nix kütt‘ nix.“
„Du machst das schon“, sage ich und hebe die Tasse in meiner Hand. „Willste auch einen?“
„Wenn du mich so fragst … die paar Minuten hab‘ ich noch.“

Wir gehen durch die Waschküche ins Innere. In der Küche ist es schon hell, da erste volle Licht, es riecht nach Rosmarin und Wacholder. „Setz dich“, sage ich und zeige auf einen der Stühle. Die Herdplatte ist immer noch heiß, das Wasser im Topf beginnt sofort wieder zu sprudeln.
„Ich freu mich auf die Drückjagd, ehrlich, ich will endlich `ne Sau schießen.“
„Musst einfach nur `n bisschen Geduld haben.“
Er zeigt auf die Trophäe, die im Wohnzimmer über dem Kamin hängt. „Du warst schon überall, hast alles erlegt, was du wolltest – und ich hab erst `n Knopfbock.“
„Besser als nichts, oder?“ Ich reiche ihm die Tasse, und er nimmt die Milchkanne, gießt einen Schluck in den Kaffee, starrt auf die heller werdende Oberfläche.
„Du kriegst `n guten Stand, unten an der Schlafkanzel, direkt neben dem Tierarzt, also mach dir mal keine Sorgen.“
„Danke“, sagt er und nimmt einen großen Schluck. „`s bedeutet mir was.“
Wir trinken schweigend den Kaffee. Im Haus ist es immer noch still.
„Bei wem gehste arbeiten?“, frage ich nach einer Weile.
„Beim Herchenbach, der hat sich da was im Garten gebaut, fürs draußen sitzen, hier Kanasta und Bierchen, und da mach ich ihm das Dach …“ Er bricht mitten im Satz ab.
„Morgen … “ Sie spricht ganz leise, haucht die Worte.
„Emma“, sage ich und drehe mich um. „Meine Tochter, ist ein paar Tage zu Besuch.“
Sascha lächelt, senkt den Blick, dann sagt er: „Hallo“, und verschluckt sich fast. Ihre Wangen sind noch gerötet von der Bettwärme, das Haar fällt ihr in langen, dünnen Strähnen bis auf die Brust. Sie trägt ein ausgewaschenes T-Shirt, so kurz, dass ich ihren Bauchnabel sehen kann, ein ovales, dunkles Loch im Fleisch, auf ihrem Slip eine Comic-Katze mit großen, glänzend schwarzen Augen und Kussmund.
„Das ist Sascha, jagt jetzt bei mir im Revier und hilft mir hier und da, ich werde ja auch nicht jünger.“
Emma lächelt. „Gibt’s noch Kaffee?“, fragt sie, und ich nicke und zeige auf die Holztür, die zum Badezimmer führt. „Der Morgenmantel hängt neben der Dusche.“
Sascha stellt die Tasse auf die Anrichte. „Ich muss auch los, bin sowieso schon spät dran.“
„Ruf mich Montagabend mal an, dann gehen wir nochmal alles durch, und wenn du Zeit hast, machen wir das eben mit dem Ansitz.“ Er nickt, bleibt in der Tür stehen und dreht sich noch einmal um. „Ach ja“, sagt er. „Heute Abend ist `ne Party bei uns in der Scheune, mein kleiner Bruder geht ja demnächst zum Bund, da will er’s vorher natürlich nochmal krachen lassen. Also, wenn du Lust hast … “ Er lacht, ich kenne diese Art von Lachen, ein hinterlistiges, ein dreckiges Lachen, ein Lachen, das etwas verstecken soll, und er sieht nicht mich an dabei, er sieht über meine Schulter.
Ich begleite ihn zur Tür und warte, bis die Rücklichter an seinem Subaru aufleuchten.
„Nett“, sagt Emma. Sie hat sich die Haare hochgebunden und trägt meinen alten Bademantel aus blauem Frottee. „Nett“ wiederhole ich. „Ja, nett und `n bisschen dumm vielleicht …“
„Jetzt sag doch so was nicht!“
Ich lächle. Ich stelle die Tasse auf den Küchentisch. „Willst du frühstücken?“
Sie schüttelt den Kopf. „Mir reicht Kaffee, danke.“
Draußen klart der Himmel auf, ein tiefes, kräftiges Blau, kaum Wolken zu sehen. „Ich dachte, bei dem Wetter, da könnten wir doch ins Siebengebirge fahren, kleine Runde um den Drachenfels, da vielleicht `ne Kleinigkeit essen … was meinst du dazu?“
„Ja, das klingt nach `ner guten Idee“, sagt sie. „Kann ich vielleicht vorher noch schnell duschen?“
„Nimm dir einfach ein frisches Handtuch aus dem Regal.“
Sie nimmt noch einen Schluck und stellt die Tasse auf den Tisch. „Bis gleich“ sagt sie und verschwindet im Badezimmer.

Sie braucht mindestens eine halbe Stunde, so sind die Frauen eben, eine schnelle Dusche, und dann … Ich nehme die letzte Toscanello aus der Packung, zünde sie mit einem Streichholz an und kippe den Rest Kaffee in die Tasse. Draußen wird es wärmer, goldener Oktober, überall Eicheln an den Hecken und auf den Feldfluren, man findet kaum noch grüne, dafür ist das Schwarzwild satt. Sascha sitzt seit dem Sommer an, oft drei, vier Tage hintereinander, aber noch hatte er kein Glück. Fünfzig Stunden für eine Sau, das habe ich ihm von vorneherein gesagt, da hat er noch gelacht. Das Abwarten, die Geduld, das Überwinden und das Bereithalten … auf einfache Wege schickt man nur die Schwachen. Ich zünde die Toscanello an, und der erste Zug, der schmeckt wie Urlaub, der schmeckt nach Italien im Spätsommer - das Branden der Gischt, das stetige Auf und Ab der Wellen, die Schaumkronen weiß und sauber, und das Meer ganz nah, sein Geruch in der feuchten Luft, streng, nach Salz und Tang, das leise Verbrennen des Tabaks, die Gespräche der Italiener im Hintergrund, Männer und Frauen, alt und jung, sie alle reden mit ihren Händen, mit ihren Augen, der Espresso ist stark und schwarz, und noch ein Zug, ein tiefer Zug, meine Brust hebt sich; gegrillte Auberginen, nach Trester duftender Grappa, die leicht gebräunten Waden junger Frauen, die dir einen kurzen, kessen Blick über die Schulter zuwerfen, noch ein Zug, Olivenhaine und rotbrauner Sand und Wein so dunkel wie Molasse … „Alles okay bei dir, Papa?“, fragt sie, ich öffne meine Augen, und da steht sie, Emma, Emma mit den nassen Haaren und der kleinen Furche unterm Kinn, Emma aus Berlin, Emma ohne Freund. „Ich hab` nur gerade von Urlaub geträumt, Toskana oder Tirol, Kiachl mit Sauerkraut, dazu literweise Gewürztraminer, ich kann mich gar nicht mehr dran erinnern, solange ist das her …“
Sie nimmt das Frotteehandtuch, das sie sich um die Schultern gelegt hat und trocknet damit ihre Hände ab. „Du wirst noch richtig fett, wenn du ständig so `n Zeug frisst.“
„Bist du fertig im Bad?“
„Nur noch schnell die Haare föhnen, ok?“

Ich drücke die Toscanello auf einem Stein im Beet aus, packe zwei Flaschen Wasser auf die Rückbank und warte im Wagen. Sie trägt braune Cargohose, eines meiner alten T-Shirts und hat sich die Haare streng nach hinten gebunden.
„Siehst so aus, als hättest du dir was vorgenommen.“
„Nicht, dass du nachher noch dein blaues Wunder erlebst, ich geh nämlich seit letztem Jahr regelmäßig bouldern.“
„Was soll das sein?“
„Klettern, Papa, nur in `ner Halle. Kennst du nicht? Sind quasi künstliche Felsen, ist aber wirklich super Training, besser als Mucki-Bude oder so.“
„Künstliche Felsen“, wiederhole ich, ich sage es so vor mich hin, dann starte ich den Motor.

Während der Fahrt starrt sie aus dem Fenster, still zieht die Gegend vorbei; ausgelaugte Wälder, blattlose Bäume, große Rodungen, auf den Kahlschlägen mannshohe Holzpolter, die auf den Abtransport warten. Dann lange, zerstückelte Felder, Weizen, Raps und Mais, der dieses Jahr nur langsam und schlecht wächst. Auf manchen Schlägen ist schon die Zwischenfrucht ausgesät. Ich meide die Autobahn, fahre über Landstraßen, den Rhein im Blick, vorbei an den großflächigen Baumschulen, wo Setzlinge in langen, horizontalen Linien nebeneinander wachsen, ihre Stämme noch dünn und schwach. Ich bemerke es nicht gleich, aber dann erkenne ich ihn doch, den Duft, den sie verströmt.
„Sag mal, hast du was von meinem After Shave benutzt?“
Sie sieht mich an und lacht. „Schlimm?“
„Nein, aber … Old Spice?“
„Ich mag das“, sagt sie und riecht an ihrem Handgelenk. „Außerdem erinnert’s mich an dich.“
Und so wie sie das sagt, braucht es nichts weiter - keine Antwort, kein Erwidern, nichts. Nur Schweigen, Stille. Ich lächle und hoffe, dass sie nicht sieht, wie bitter dieses Lächeln ist. Während ich weiterfahre, lege ich ihr eine Hand auf die Schulter und reibe ihr Haar zwischen meinen Fingern, es ist immer noch ein wenig feucht.

Das Siebengebirge liegt da im feinkörnigen Nebel, der sich von Minute zu Minute auflöst. Wir sehen zu, wie er immer mehr der zerklüfteten Gipfel preisgibt, von den tief liegenden, sich um die Anhöhe schmiegenden Hängen mit den langen Linien aus Weinreben. Dazwischen Burgruinen, vergessene Bauten, quadratische, graue Gebäude, Bunker, Relikte der alten Bundesrepublik. Ich parke am Hang hinter einer Unterführung. Es ist früh, kaum andere Autos da. Wir steigen aus. Die Luft klar und kühl. Nach ein paar Schritten bleibt Emma stehen, um ihre Jacke zuzuknöpfen. Der Weg beginnt als Schotterweg, der flach ansteigt, durch dichten Wald führt. Ich atme tief durch den Bauch, bis meine Lungen gesättigt sind, der Kopf ganz leicht vom Sauerstoff. Nur das Geräusch unserer Schritte, ein leises Scharren, dann das Singen der Vögel, es klingt weit entfernt und fremd. Das Knarren der Äste, die sich im Wind biegen, die Baumkronen, die aneinanderstreichen.
„Weißt du noch, die Geschichte vom Drachen?“, frage ich und bleibe stehen.
Emma geht ein paar Schritte, legt ihren Kopf in den Nacken und lacht. „Die anderen Kinder redeten alle immer über den blöden Siegfried, aber deine Geschichte fand ich viel besser.“
„Weil es die einzige wahre ist … “
Sie sieht über ihre Schulter. „Du glaubst also, den fiesen Drachen hat’s endgültig erwischt?“
„Endgültig.“
„Da wäre ich mir aber nicht so sicher …“
„Nein, den hat’s erwischt. Glaub mir ruhig.“
Sie lacht noch einmal, dann gehen wir weiter. Die Baumkronen schließen sich über uns, es wird dunkler, stiller, der Anstieg allmählich steiler. Ich spüre ein Ziehen, ein Brennen in den Oberschenkeln, mein Körpergewicht lastet auf den Knien, und Emma hat Recht, ich werde zu fett, ich bin schon zu fett. Wir gehen schweigend nebeneinander, die Hände in den Jackentaschen, atmen ganz konzentriert.
„Bist du eigentlich mal in den Ofenkaulen gewesen?“
„Ewig her“, sage ich. „Aber ja, ich bin mal drin gewesen.“
„Und?“
„Dunkel …“
„Ach komm, jetzt lass dir mal nicht alles so aus der Nase ziehen. Dunkel!“
„Na ja, ist wirklich nichts Besonderes, halt eine Höhle, lange Gänge, dunkel, tief, überall liegen Steine rum, paar Fledermäuse, aber mehr ist da nicht.“
Emma spitzt die Lippen. „Und was hast du da drin gemacht?“
„Was soll ich da groß gemacht haben? Ich war damals `n kleiner Junge, wir wohnten gleich um die Ecke in Rheinbreitbach, und einer von den Älteren wusste eben, wo man da reinkommt …“
„Dann war’s so was wie `ne Mutprobe?“
„Mutprobe, nee, ich weiß nicht. Brauchst doch keinen Mut dafür.“
„Aber `n paar sollen sich da drin schon verlaufen haben“, sagt Emma. „Hab‘ ich jedenfalls gehört.“
„Ja, das glaube ich, das glaube ich gerne, sind ja auch viele Gänge, viele Schächte, aber, weißt du - ich verlauf‘ mich nicht, hab‘ ich noch nie.“
Sie geht ein paar Schritte, bleibt an einer Weggabelung stehen, dreht sich um. „Meinst du, man kommt heute noch da rein?“
Ich sehe ihr Lächeln, wie sie wieder die Augenbraue nach oben zieht. „Nein“, sage ich und schüttele den Kopf. „Ich jedenfalls kenne keinen Eingang mehr, der noch offen ist, wirklich nicht. Kalter Heinrich, das war der letzte, den haben sie schon in den Achtzigern zugemauert. Ist besser so, glaub mir, viel zu gefährlich, da unten ist ja mittlerweile alles einsturzgefährdet. Ist ja fast vierzig Jahre her, dass ich da rumgekrabbelt bin, kannst du nicht vergleichen – das wäre heutzutage leichtsinnig.“

Der Weg führt über einen steilen Abhang, gibt den Blick frei auf das Tal, den Rhein, der durch die Sohle fließt, die Wasseroberfläche quecksilbrig in der Morgensonne. Die Luft hier oben ist kühler, ein schwacher Wind kommt von Südwest, weht durch die Wälder, bringt den Geruch von Kien mit sich, warm, erdig, eine Ahnung Terpentin. Das Atmen fällt mir leicht. Über den Hang, danach senkt sich der Weg in eine lange Gerade. Treppen führen zu einem asphaltierten Weg. Der Wald wird lichter. Ich kann die Umrisse eines Gebäudes erkennen, die symmetrischen Muster alten Fachwerks, der große, ausgestellte Erker, die grünen Schirme auf der Terrasse.

Das Milchhäuschen wirkt verlassen. Zwei Gäste an einem Tisch neben dem Eingang, ein älteres Pärchen, die an ihrem Kaffee nippen und aus den Fenstern starren. Ich warte am Tresen, bis die Bedienung in dem schmalen Durchgang zur Küche erscheint. In den hinteren Räumen ist es dunkel, und sie eine Erscheinung – groß, breit, mit einer cremefarbenen Schürze und einer altmodischen Bluse. Sie nimmt einen Bleistift aus einer Tasse, die neben den Spirituosen im Regal steht und notiert sich die Bestellung: eine Tasse Kaffee, draußen aber nur Kännchen!, ein Glas stilles Mineralwasser, einen Latte Macchiato. „Sie sitzen also draußen?“, fragt sie und sieht stirnrunzelnd an mir vorbei durch die offen stehende Tür. Der Wind hat ein paar Blätter auf den Tritt geweht. Eine Gruppe asiatischer Touristen bleibt vor dem Cafè stehen, wahrscheinlich Japaner. Sie tragen Kameras um den Hals, teuer und zerbrechlich aussehende Geräte, sie lachen, ein neugieriges Lachen, dann nicken sie und beginnen, Fotos zu schießen, eins nach dem anderen, ihre Hände umklammern die Apparate, die Finger bleiben in Bewegung. Klick, klick, klick.
„Ja, auf der Terrasse.“
Die Bedienung seufzt. „Gut, bringe ich.“

Emma hat sich ganz nach hinten gesetzt, weit weg von allen, an einen der runden, weiß lackierten Tische. Sie hält die Getränkekarte in den Händen und sieht auf, als ich mich neben sie setze.
„Hier war ich schon ewig nicht mehr.“
„Ist ja nicht viel los.“
„Besser so, haben wir unsere Ruhe.“ Ich greife in die Innentasche meiner Jacke und hole die Toscanello heraus. Als ich mir einen Zigarillo anzünde, schüttelt sie den Kopf und sagt: „Dass du immer noch rauchst …“
„Warum, wieso? Ich hab‘ doch nie nicht geraucht, du kennst mich doch nur so, als Raucher, rauchend.“
„Aber ich glaub‘, ich kenn‘ sonst wirklich niemanden, der raucht, also so“, sagt sie und zeigt auf den Zigarillo, der brennend in meinem Mundwinkel hängt, „ich meine, du rauchst ja echt wie `n Schlot, oder?“
„Ich rauche gerne“, sage ich. „Entspannt mich einfach.“
„Ja, und Mutter musste davon immer husten …“
„Nein, das stimmt nicht, da ist doch gar nicht wahr, sie hat immer so getan, als ob … nein, die musste davon nicht husten, die …“
„Der Kaffee, der Latte Machiatto und das Wasser?“ Die Bedienung stellt das hohe, schlanke Glas mit dem Machiatto vor Emma auf den Tisch, dann nimmt sie das Kännchen vom Tablett, dreht es mit dem Griff zu mir und platziert es auf einem aufgeweichten Bierdeckel.
„Vielen Dank“, sage ich, und sie nickt und stellt noch die Tasse neben die Kanne. Es ist eine einfache, weiße aus billigstem Porzellan, der Rand an einigen Stellen schon abgebrochen. „Kann ich dann auch gleich zahlen, ja?“ Sie bleibt neben mir stehen, öffnet langsam das Portemonnaie aus schwarzem Leder, das sie um ihre Hüften trägt. Ihre Finger sind breit, die Handrücken rot vom vielen heißen Wasser, vom Spülen, von der Arbeit. Ich höre, wie sie den Preis nennt, aber ich denke an etwas anderes - an das Husten meiner Ex-Frau, ihr Gesicht, wie sie sich immer so krümmte, als müsse sie sich gleich erbrechen. Dabei war es nur heißer Rauch. Ich reiche der Bedienung einen Zehn-Euro Schein und sage: „Stimmt so.“
Emma legt beide Hände um das Glas, nippt am Milchschaum. „Weißt du, früher, da war es so, früher hat deine Mutter es geliebt, wenn ich Pfeife geraucht habe … da saßen wir zusammen auf der Couch im Wohnzimmer, sie hat gelesen und ich habe geraucht, und da hat sie nie gehustet, nicht ein einziges Mal.“
Emma zuckt mit den Schultern. „Ist ja auch egal.“
„Nein, ist es nicht, es ist überhaupt nicht egal.“ Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Die Metallstreben drücken sich durch den Stoff meiner Hose. Sie nimmt einen Schluck. „Und mit den Hunden?“
„Was ist mit den Hunden?“
„Du hast gesagt, du verkaufst welche nach Schweden …“
„Ja, ja, das stimmt, nach Schweden, überleg dir das mal.“
„Wenn sie da glücklich sind …“
„Es sind Jagdhunde, Emma.“
Sie nickt. „Kümmerst du dich eigentlich noch um was anderes, als um deine Hunde?“
Die Japaner stehen auf dem Schotterweg in Gruppen zusammen, sehen auf die Kameradisplays, ihre Gesichter leuchten, sie sprechen so leise, als sprächen sie mit sich selbst. „Wo mehr als Vier zusammenhocken, da wird’s ein Deppenhaufen, oder?“ Sie lacht, und ich lege meine Hand auf ihre, die klein wirkt, so klein, immer noch wie die Hand eines Kindes.

Wir lassen uns Zeit, trinken langsam, reden kaum, und wenn, dann nur small talk, über diesen und jenen alten Nachbarn, über Fahrräder mit Elektromotor, äthiopisches Essen, das sehr gut schmecken soll, und den Klimawandel, über den Emma natürlich besser Bescheid weiß als ich. Dann stehen wir auf und gehen. Früher Nachmittag, mehr Betrieb, Wanderer, Mountainbiker, Touristen. Ich kann sie alle riechen – ihr Eau de Cologne, ihre Seifen, der Schweiß, der ihnen aus den Poren dringt. Ich lege meine Hand auf Emmas Schulter, unsere Hüften berühren sich immer wieder, wir gelangen wieder in den Wald, unsere Schritte ganz leise auf dem Boden, der mit feuchten, braunen Nadeln bedeckt ist. Einmal die große Runde um den Lohrberg, wie früher, die metallisch glänzenden Sendeantennen ragen noch in den Horizont, dabei sind die Stationen längst abgestellt, es bleiben stumme Zeitzeugen, die Ära Adenauer, Kohl, Bonn als Hauptstadt, funktionierende Familien und loyale Ehefrauen, treue Ehefrauen, genügsame Ehefrauen … Emma hält an einem der sanft abfallenden Hänge, unten im Tal das Rauschen des Mirbesbach, vor uns erstreckt sich eine nackte Landschaft. Die Erde zerrüttet durch die Spurrillen der Harvester, überall liegen Fetzen heller Baumrinde, über die Stümpfe wächst Holunder, Schwarzdorn, wo früher Wald war, ist jetzt eine einzige Verletzung.
„Ist überall so“, sage ich. „Ist alles kaputtgegangen.“

Auf der Rückfahrt lege ich eine CD von George Brassens ein. Die leise gezupfte Gitarre, die sonore Stimme, die weichen Farben des Nachmittagslicht. Wir fahren, schweigen, ich muss an die Japaner denken, die durch die tiefen, deutschen Wälder stolpern, dabei ein Photo nach dem anderen schießen, wahllos tausende von unbedeutenden Momenten aneinanderreihen. „Doch“, sage ich, ich will es nicht sagen, tue es aber trotzdem, „`s gab da schon jemanden … Anfang des Jahres, ging nicht besonders lang, paar Monate nur, `ne Arzthelferin aus Hennef.“
Emma legt den Kopf auf ihre linke Schulter. „Warum erzählst du mir das?“
„Weil ich dachte, `s würd‘ dich vielleicht interessieren.“
„Nein, warum erzählst du mir das jetzt, auf der Rückfahrt, meine ich. Warum nicht in dem Cafe?“
„Hattest du mich denn gefragt?“
„Du hast das schon richtig verstanden, glaube ich …“
„Ich kann das einfach nicht, mich auf so was einlassen …“
„Auf was denn einlassen?“
„Du hast das schon richtig verstanden“, wiederhole ich, und da wendet sie den Blick ab und sieht wieder aus dem Seitenfenster.

Als ich in den Hof abbiege, sehe ich Saschas Toyota vor dem Haus stehen. Ich parke neben dem Zwinger, steige aus, lasse aber die Schlüssel stecken. Er sitzt auf den Treppen, eine halb gerauchte Zigarette zwischen den Fingern.
„Hannes“, sagt er, als er mich sieht. Er steht auf, sieht auf die Zigarette, auf Emma, dann gleitet sein Blick an meiner Schulter hinab ins Leere.
„Hannes, ich …“
„Ja? Was denn los? Immer raus damit.“
„Mir ist da was passiert. Unten an der Schönen Aussicht.“
„Was ist dir passiert?“
„Ich, also ich … ich hab‘ gedacht - ich hab‘ mittags angesessen, und da …“
Er schüttelt den Kopf, fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. Emma geht an mir vorbei, und ich höre, wie sie die Haustür aufschließt.
„Also was ist los?“
„Ich hab` angesessen, weil … da hatten wir doch drüber geredet, weil ich nur den einen Knopfbock hab‘, und …“
„Komm, hör auf, Sascha, jetzt sag schon.“
„Da kam `n Bock auf den Wildacker, `n Sechser, und den hab‘ ich mit dem Glas beobachtet, und auf einmal steht `ne Ricke neben dem …“
„Und du konntest den Finger nicht gerade lassen?“
„Der stand breit, ich bin perfekt abgekommen, guck durchs Feuer, repetiere, aber dann, die steht da, die bleibt stehen, als wäre nix passiert, ich weiß auch nicht, und dann zieht der Bock übers Feld und is‘ weg.“
„Weg?“
Sascha nickt.
„Und Schweiß?“
„Ich hab nicht geguckt, Hannes, ich war so baff, ich …“
„Du warst so baff?“
„Hannes, scheiße, ich weiß, aber …“
Ich nicke in Richtung seines Toyota. „Nix aber, wir müssen nachgucken gehen, was denkst du denn, aber sofort! Ich geh meine Büchse und den Hund holen, und dann los.“

Er fährt schneller, als erlaubt. Ich halte mich an der Mittelkonsole fest und starre auf die blauen Adern an meinem Handgelenk. Meine Zunge klebt trocken am Gaumen. Bargo im Zwinger auf dem Rücksitz. Sie hechelt, stößt gegen die Gitterstäbe, spürt die aufgeladene Stimmung, die Nervosität. Ich drehe mich auf dem Sitz um, streiche ihr über die Schnauze, heißer Atem, das Zittern der Muskeln. „Nächste Woche, Sascha, nächste Woche ist die Drückjagd, verdammt. Paar Tage nur, paar Tage hätteste stillhalten müssen.“
„Ich weiß, Hannes. Tut mir leid, echt. Keine Ahnung, was da mit mir los war.“
„Gierig! Gierig biste geworden. Da reicht der Knopfbock nicht mehr, da muss noch schnell was anderes her, damit du abends bei der Party den großen Zampano machen kannst. So ist es doch, oder?“
Sascha schweigt.
„Das sind wir der Kreatur einfach schuldig, das ist das Mindeste – sauberer Schuss, und wenn da was schief läuft, auf jeden Fall sofort nachsuchen, das Tier von seinem Leid erlösen, das gehört sich so.“

Es dämmert bereits, als wir am Feldrand halten. Der Wind weht mir kalt ins Gesicht, er hat gedreht, kommt scharf aus Norden, was er in der Gegend selten tut. Ich öffne den Zwinger und lege Bargo den Schweißriemen an, sie versucht sofort, loszuziehen, ihr kräftiger Körper spannt sich an, sie senkt die breite Brust, hält die Nase tief, nimmt Witterung auf, ich kann sie kaum mehr halten.
„Wo ist der Anschuss?“
Sascha sieht über das Feld, zeigt auf eine Totholzhecke, zuckt mit den Schultern. „Da hinten.“
„Hast du nichts markiert?“
Er schüttelt den Kopf und senkt den Blick. Dann sagt er leise: „Nein, hab‘ ich nicht, ich hab nichts markiert.“

Wir gehen los, Sascha ein paar Schritte hinter mir, langsam, schwerfällig. Bargo zieht vorneweg, die Nase unten, auf dem feuchten Boden, sie schlägt einen Haken, rechts, links, korrigiert sich selbst.
„Musst immer den Anschuss markieren“, sage ich, Sascha bleibt stehen, und ich höre, wie er ausatmet.
„Denk nächstes Mal dran, ja?“
Er geht an mir vorbei, über das Feld, bis an den äußersten Rand, der mit dünnem Farn und Springkraut bewachsen ist. Dahinter beginnt der Wald; die Baumwipfel zeichnen sich scharf vor dem wolkenlosem Himmel ab, in den Rückegassen ist es schon dunkel. Blaue Stunde. Ich suche nach Anschußzeichen, mein Blick schweift über den Boden, Bargo zieht stärker, hechelt, es ist anstrengend, die Erde ist aufgeworfen, tief, jeder Schritt mühsam, der Puls schlägt bis in die Kehle, und auf der Zunge der Geschmack von Kupferpfennigen. Bargo bleibt am Feldrand stehen, den Fang kurz über der Erde. Da ist ein handtellergroßer Fleck, Schweiß in großen Tropfen, dunkel, fast schwarz, kleine Gewebestücke. Ich berühre die Stelle mit den Fingerspitzen, das Blut ist noch feucht, noch frisch.
„Leber“, sage ich und hebe eins der Stücke auf, zerkaue es langsam, ein bitterer, metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. „Vielleicht auch Milz.“ Ich stehe auf, leuchte den umliegenden Bereich mit der Taschenlampe ab, Bargo bellt, kurz, laut, will arbeiten, ein paar Schritte weiter auf der Grasnarbe die ersten Ausrisse der Flucht, mehr Schweiß, ich schnalle den Hund, der mit einem entschlossenen, weiten Sprung über das Gebüsch in der Dunkelheit verschwindet.

Durch einen flachen Siefen, unten brackiges Wasser, ein stehendes Rinnsal. Der Hang ist steil, abschüssig, überall Holunder und morsche Baumstämme, ich gehe langsam, setze immer einen Fuß vor den anderen, bleibe im Gleichgewicht. Der Gewehrriemen reibt über die dünne Haut an meinem Hals, eine offene Stelle zwischen Hemd und Jacke, ich ziehe den Riemen auf die Schulter, der kurze, dicke Lauf der Mauser ganz nah am Knochen - ich spüre das Gewicht, das kühle Metall der Waffe. Bargo vorneweg, ihr gedrungener, muskulöser Körper wird unter der Anstrengung leichter, die Bewegungen elegant, das Suchen der Fährte ein Tanz. Zehn Meter voraus, sie zieht mit ihrer ganzen Kraft, und dann schlägt sie an, ein knappes, lautes Bellen, ich folge mit großen Schritten, ein Ast schlägt mir die Mütze vom Kopf, Dornen kratzen über meinen Handrücken, als ich sie wieder aufhebe.

Die Lichtung liegt am Ende des Waldstücks, eine gerodete, breite Fläche, umgeben von Schwarzdorn, der schon kniehoch steht. Schweiß, abgestriffen auf einem Stück feuchtem Gras, nur ein paar Sprenkel, dann eine kleine, dunkle Lache, in der sich das letzte Tageslicht spiegelt.
„Wie lange ist das her?“ frage ich, Sascha bleibt hinter mir stehen.
„Heute Morgen, gegen zehn vielleicht, ja, zehn, halb elf.“
„Ist lange krank, liegt im Wundbett, vielleicht schon verendet, der Bock.“ Sascha nickt stumm, ich sehe an ihm vorbei auf Vierheilig, es liegt ein pulsierender Schimmer über dem Dorf, als stünde es in Flammen, ein großes Feuer, weit entfernt am Horizont.

Bargo stöbert im Gebüsch, findet einen Weg, ein verwilderter Tritt, der uns wieder in den Wald führt, zurück auf weichen, laubbedeckten Boden, weiter in die Fuhrt eines ausgetrockneten Flusses, über Steine und umgestürzte Bäume, bis vor einen Bestand junger Birken. Die Stämme sind nicht dicker als mein Arm, aber sie stehen dicht gedrängt, ganz eng beieinander, kaum Platz für ein Hindurchkommen; eine natürliche Grenze. Und Bargo, unermüdlich, ihre Instinkte zeigen ihr den Weg, das Tier kennt nur das Wollen, nur den drängenden Impuls, Beute zu finden, die Beute ist die Ursache ihrer gesamten Existenz. Um die ersten Birken herum, ihr Gewicht stemmt sich gegen Riemen, und ich bedeute Sascha, er soll sich einen Weg suchen, ab auf die Knie, über den lehmigen Boden, und unter einem Stamm, kriechen, auf allen Vieren. Ich gehe, bis der Bestand ein wenig lichter wird, aber es geht nicht hindurch. Ich ziehe am Riemen, aber Bargo lässt nicht locker, sie hastet weiter, folgt einer Spur, verliert sie wieder, korrigiert sich selbst. Dann tut sich ein Siefen vor uns auf, Bruchsteine säumen die Flanken, Überreste einer Brücke, unten ein tiefes, morastiges Loch. Ich stelle einen Fuß in den Abhang, um mich abzustützen und mir Überblick über das Terrain zu verschaffen. Sascha leuchtet mit seiner Taschenlampe über den Grund, und da hebe ich die Hand – Schweiß, ein paar Tropfen nur, im grellen Licht glitzern sie hellrot auf dem dunklen Untergrund.
„Hier“, sage ich, ich spüre Bargos warmen Körper an meinem Unterschenkel, sie umkreist den Schweiß mit ihrem Fang, nimmt die Witterung wieder auf, ich höre sie atmen, Speichel an ihren Lefzen, dann ein lautes Bellen, und sie ist weg, die Flanke hinunter bis ins flache Wasser.

Sascha stöhnt. Als ich mich umdrehe, fährt er sich mit der Hand über das Gesicht, als sei es ein Versehen gewesen.
„So ist das eben“, sage ich. „Jeder ist für seinen Schuss selbst verantwortlich.“
„Meinst du, wir finden den Bock noch?“
„Warum, hast du was Wichtigeres vor?“
Er beißt sich auf die Unterlippe und schüttelt den Kopf.
„Saufen kannst du später immer noch …“
Wir folgen dem Verlauf des Siefen, vorbei an verrosteten Kulturzäunen, überwucherten Holzpoltern und alten Autoreifen. Es ist dunkel, die Luft zieht kalt vom nassen Boden herauf, mit jedem Schritt wird die Welt mehr zu einem abstrakten Schwarz-Weiß.

Als wir wieder am Toyota ankommen, trockne ich Bargo mit einem Handtuch das Fell, streichele ihr sanft über die Schnauze, dann frisst sie ein Stück Trockenfleisch aus meiner Hand und springt auf den Rücksitz. „Das ist Jagd“, sage ich zu Sascha, der neben der offenen Fahrertür steht und eine Zigarette raucht. Ich nehme das Magazin aus meiner Büchse und lege sie in das Futteral. Auf der Rückfahrt sprechen wir nicht. Das Haus liegt ruhig da. Sascha hält mit laufendem Motor in der Einfahrt und legt beide Hände auf das Lenkrad. Er atmet tief ein, wartet ab, legt sich die Worte zurecht, dann sagt er: „Tut mir wirklich echt leid.“
Ich öffne die Beifahrertür. „Das nützt dem Bock aber nichts, dass es dir leid tut.“
Er legt eine Hand auf den Schaltknüppel und sieht in den Seitenspiegel.
„Montagabend …“, sage ich noch und schließe die Tür. „Wir sehen uns Montagabend.“

Ich schultere die Büchse und lasse Bargo vom Rücksitz, sie knurrt leise, wartet neben mir, dann legt Sascha den Rückwärtsgang ein. Die Reifen des Toyota graben sich durch Buntkies, das gedämpfte Rot der Rückleuchten erhellt für einen Augenblick das Schieferdach und die holzverkleidete Wand des Hauses. Ich schließe das Gatter auf, und Bargo drückt ein letztes Mal ihre Schnauze gegen meine Hand, ich streichele über ihren Kopf, reibe die Enden ihrer Ohren zwischen meinen Fingern, sie dreht sich auf den Bauch und streckt sich aus. Ich schließe das Gatter ab, bleibe unter dem Geweih stehen, das über der Tür hängt – ein Zwölfender, den ich vor Jahrzehnten in Norwegen erlegt habe. Wie er an der Lichtung auftauchte, aus dem Nichts, ein Geist, und wie er da im tiefen Schnee stand, mit seinem mächtigen Kopf, erhaben und furchtlos.

Nachdem ich die Haustüre aufschließe, fällt mir die Stille auf; da ist kein Geräusch, das aus der Tiefe zu mir dringt, nichts. Die Zimmer im Untergeschoss dunkel, kalt, verlassen. Auf der Treppe Emmas Rucksack und ihre Wanderstiefel. Ich klopfe gegen die Badezimmertür, warte, klopfe noch einmal. Dann lege ich die Büchse auf den Küchentisch, hole das Handy aus meiner Jackentasche, wähle ihr Nummer. Die Mailbox springt an. Ich lege auf, stecke das Handy wieder in die Tasche und gehe nach oben, lasse dabei das Licht ausgeschaltet. Die Tür zu ihrem alten Zimmer steht offen, ich zögere, gehe schließlich doch hinein. Ich knipse die Lampe über dem Schreibtisch an. Ihre Sachen liegen auf dem Bett verstreut – Hose, Socken, mehrere Oberteile, Duschgel, Seifen, Lippenstifte. Der ganze Raum duftet nach ihr. Mein Blick bleibt bei der gerahmten Photographie hängen, die sie immer gemocht hat, die ihr nie peinlich wurde, wie so viele andere. Auf dem Photo, da war sie fünf oder sechs Jahre alt, sie hatte sich an einer Tischkante gestoßen und eine Platzwunde an der Augenbraue, die im Krankenhaus geklebt wurde. Sie steht in der Küche, neben dem Kühlschrank, die Lippen aufeinandergepresst, mit einem Auge halb schielend, das Gesicht noch ein wenig blutverschmiert, ganz das beleidigte kleine Kind. Ich muss lachen, setze mich auf die Bettkante und strecke meine Hand aus, lasse sie auf der Decke liegen, die ganz klamm ist. Stille, ich höre auf die Stille, die im Haus so allgegenwärtig geworden ist. Eine Stille, die jahrelang andauert, die kein Ende nimmt. Ich schließe die Augen, sehe, wie es früher war: Lachen, Musik, American Beauty von Grateful Dead, die Gerüche einer Küche, die ständig benutzt wird, der feuchte, warme Wasserdampf, der unter den Badezimmertüren hervordringt, das Kommen und Gehen, Schritte auf der Treppe, das Knarren des Holzes, die kühle Luft, die durch das Untergeschoss weht, die dichte, volle Wärme des Feuers, das Reden und Lesen, das Essen am Tisch, das Leben. Ich verweile ein paar Augenblicke in diesem Tagtraum, dann stehe ich auf, gehe wieder nach unten und nehme die Autoschlüssel von der Kommode.

Im Auto riecht es nach kaltem Rauch und Hundefell. Ich bleibe im Dunkeln sitzen, lehne mich im Sitz zurück, hole das Handy aus der Jackentasche, wähle noch einmal ihre Nummer. Wieder die Mailbox. Bargo bellt, als ich losfahre, ich sehe sie hinter den Gitterstäben aufgeregt und mit wedelndem Schwanz hin und herlaufen. Während ich auf die Landstraße abbiege, lege ich das Handy mit dem Display nach oben auf das Armaturenbrett. Es leuchtet kurz auf, die Digitaluhr zeigt Viertel nach Zehn an. Ich schalte das Fernlicht an, auf den Feldern sitzen ein paar Hasen zusammen, Katzen lauern auf niedrigen Mauern, die die Grundstücke begrenzen, das Licht reflektiert grün in ihren schmalen Augen. Sie feiern in der Scheune, hat Sascha gesagt, ich drossele das Tempo, biege rechts in eine Gasse, vorbei an einem der Gehöfte, das auf selbst gemalten Plakaten schon mit dem Verkauf von Weihnachtsbäumen wirbt. Am Ende einer Stichstraße steht das Haus von Saschas Eltern, ein dreistöckiger Bau aus der Gründerzeit, umgeben von einer halb verfallenen Mauer aus rotem Backstein. Weiter im Schritttempo. Ein paar Jugendliche sitzen auf der Treppe vor dem Haus, rauchen Zigaretten, halten Bierflaschen in den Händen, lachen. In dem Verbindungsweg hinter dem Haus parke ich den Defender neben ein paar Mülltonnen und steige aus. Ich lasse den Schlüssel stecken, lehne die Fahrertür an. Mir kommen zwei Jungs entgegen, sie tragen Baseballkappen und weite Parkas, ich nicke ihnen zu und frage: „Ist das hier die Party von Saschas Bruder?“, einer antwortet im Vorbeigehen, genau das isse‘. Ich atme ein, die Luft ist kälter geworden, riecht nach Winter und nassem Laub. Das Tor vor dem Haus steht offen, neben dem Eingang parkt Saschas Toyota, auf der Ladefläche liegen abgepackte Dachsparren und Bitumenfolie. Warmes Licht hinter den Fenstern der unteren Etage, die Haustür steht offen, dahinter Bewegung, ein stetiges Kommen und Gehen, Musik, auf den Treppen immer noch die gleichen Jugendlichen. Sie können kaum älter als Emma sein, das sehe ich an ihren Gesichtern, die so unverbraucht und neu sind, und aus ihren Blicken spricht nichts als Neugierde, Neugierde und Unwissenheit. Ihr Lachen verstummt, als ich vor der ersten Stufe stehenbleibe und die Hände aus den Taschen nehme.
„Wo kann ich den Sascha finden, auf der Party oder in der Scheune?“
„`n Abend erstmal“, sagt ein Junge, er hat blonde, lange Haare, sein weißes Hemd trägt er halb offen über der schwarzen Jeans.
„Ist dir nicht kalt?“
Er prustet, schüttelt den Kopf und nimmt ein Schluck aus seiner Flasche Bier. „Nee, mir ist nicht kalt, auf keinen Fall.“
„Okay“, sage ich. „`n Abend erstmal“, und er zuckt mit den Schultern. „Ich such den Sascha aber immer noch.“
„Dem geht’s nicht so gut“, sagt eines der Mädchen, „der war kurz hier, vor `ner Stunde oder so, ich glaub‘, der ist oben auf seinem Zimmer.“
„Was wollen Sie denn von dem?“ Der Junge mit dem weißen Hemd dreht die Bierflasche zwischen den Händen, nimmt noch einen kleinen Schluck.
„Nur kurz was fragen, ich will ihn nur was fragen.“
„Hat der etwa Scheiße gebaut?“
Ich schüttele den Kopf. „Geht um was auf `ner Baustelle, nein, der hat keine Scheiße gebaut.“
„Dann ist ja gut.“
„Könnt ihr mir `n kleinen Gefallen tun?“
Der Junge stöhnt auf. „Gehst du“, sagt er leise, und das Mädchen nickt und steht auf.
„Danke dir.“ Ich gehe ein paar Schritte zurück, warte in der gekiesten Einfahrt. Der Junge stellt die leere Flasche auf die Fensterbrüstung. „Auch `n Bier, Meister?“
„Ich muss noch fahren.“
„Na, wer nicht will, der hat schon“, sagt er und verschwindet dann im Haus.

Sascha erscheint einen Augenblick später in der Diele, bleibt im Türrahmen stehen. „Hannes?“, fragt er und fasst sich kurz ans Kinn. „Was … hast du den Bock doch noch gefunden?“
Ich bedeute ihm mit einer Handbewegung, zu mir zu kommen.
„Können wir in Ruhe sprechen.“
Er kommt die Treppe runter, bleibt vor mir stehen, ich kann an seinem Atem riechen, dass er jede Menge Hochprozentiges getrunken hat. Er hält die ganze Zeit den Blick gesenkt, und als ich sage: „Nein, ich habe den Bock nicht gefunden“, da schüttelt er den Kopf und atmet schwer aus. „Ich, verdammt, das ist so eine Scheiße, Hannes, ich weiß echt nicht, wie mir das passieren konnte, also …“
„Passiert ist passiert.“ Ich lege eine Hand auf seine Schulter. „Reden wir Montagabend drüber, und dann kannst du mir auch mal verraten, wer dir den Bock überhaupt freigegeben hat.“
„Hannes, ich wollte …“ – „Aber deswegen bin ich gar nicht hier, Sascha“, unterbreche ich ihn. Er hält inne und sieht mich mit einem Stirnrunzeln an.
„Meine Tochter, ist die hier, auf der Party?“
„Deine Tochter?“
„Du hast sie heute Morgen gesehen. Ist sie vielleicht hier?“
„Nein, also nee … da würd‘ ich mich sicher dran erinnern, hundertprozentig, wenn die hier wäre, nee.“
„Bist du dir sicher?“
„Hannes, ich … klar.“
„Okay“, sage ich und schüttele ihn ein wenig durch. „Montagabend.“
„Ist denn was passiert, ich meine, mit deiner Tochter …“
„Ist nichts passiert, nein, war sicher nur ein blödes Missverständnis, kennst das doch.“
„Okay, dann …“
„Und trink nicht so viel.“ Als ich gehe, wird die Musik lauter, dumpfer, dröhnender Bass, der die Fenster vibrieren lässt. Eine Flasche zerbricht auf den Treppenstufen, der laute und grelle Schrei eines Mädchens, danach lautes Lachen.

Ich fahre nicht schneller als vierzig Stundenkilometer. Fernlicht. Das Display des Handys immer im Blick. Einmal um das Karree aus Feldern, an der Bushaltestelle vorbei, der baufälligen Kapelle, über deren Restauration die Lokalpolitiker seit Jahrzehnten streiten und an der man noch die Einschusslöcher der Amerikaner sehen kann, 97th Army Division, die großen Befreier. Ich fahre bis Vierheilig, Geschäfte säumen die Hauptstraße, alle geschlossen, die Neonreklame über der Orthopädie RAHM blinkt, an den meisten Wohnhäusern sind die Rollladen heruntergelassen. Im Wendehammer der Grundschule drehe ich. Emma war die ersten vier Jahre hier, ihre Klassenlehrerin hieß Frau Frank, eine zugeknöpfte, alte Dame, die SPD wählte und das auch jedem mitteilte, aber Emma war immer eine gute Schülerin, eine sehr gute Schülerin, sie hat nie Ärger gemacht, nie.

Ihr Körper auf weite Entfernung zuerst nur eine Ahnung in der Dunkelheit, doch dann, im grellen Scheinwerferleicht, da bin ich mir sicher. Sie geht auf dem schmalen Weg zwischen Asphalt und Feld, im Schatten der hohen Maispflanzen. Sie trägt einen Lodenmantel von mir, mit braunen Lederapplikationen auf den Schulterpartien, ihre Haare sind zu einem dünnen Zopf gebunden. Ich überhole sie, halte mit laufendem Motor und schalte den Warnblinker an. Als ich höre, wie ihre Schritte näher kommen, mache ich den Motor aus und steige aus dem Wagen.
„Emma.“
Sie hebt die Plastiktüte hoch, die sie in der Hand hält. „War nur kurz bei der Tankstelle“, sagt sie. „Ist doch okay, oder?“
„Warum hast du denn nichts gesagt, ich meine …“
Sie zieht einen Mundwinkel nach oben. Das Geräusch von klirrendem Glas aus der Tüte. „Wieso, du hattest was zu tun, und da dachte ich, wird schon in Ordnung sein.“
„Ja, aber … ich meine, alleine rumlaufen, mitten in der Nacht, da kann doch sonst was passieren, Emma, du musst …“
„Was soll denn da schon groß passieren? Also Papa, wirklich, schon vergessen, ich leb‘ in Berlin.“
„Das macht es auch nicht besser.“
„Jetzt reg dich nicht auf.“
„Ich reg mich nicht auf, ich …“
„Du hattest kein Bier mehr, das war alles, alles gut.“
„Bier“, wiederhole ich, und sie nickt. „Ja, Bier.“ Dann greift sie in ihre Jackentasche und holt eine Schachtel Marlboro lights heraus. „Und die hier.“
„Zigaretten?“
„Ja, hatte ich irgendwie Lust drauf, keine Ahnung, `s ist einfach nix mehr für mich, hab auf dem Weg eine geraucht, aber nach der Hälfte weggeschmissen.“
„Du hast mal geraucht?“
„Hab vor zwei Jahren aufgehört.“
„Okay“, sage ich. „Na dann.“
Das Licht im Fond geht automatisch aus, wir stehen uns in der Dunkelheit gegenüber. Der Himmel ist sternenklar. Ich erkenne den großen Wagen, da ist noch eine andere Formation, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. „Fahren wir wieder nach Hause?“

Sie stellt die Tüte in das Fach auf der Mittelkonsole und schließt die Beifahrertür. „Was war denn los?“
„Ach“, sage ich und starte den Motor. Ich fahre weiter bis zur nächsten Kreuzung, biege in einen Forstweg ab, nehme eine Abkürzung. „Der Sascha, das ist … Weißt du, der ist noch jung, da denkt man einfach nicht richtig nach. Konnte seinen Finger nicht grade lassen, weil er auf seiner Party da rumprahlen wollte, was für ein toller Hecht er doch ist, und dann, dann passiert so was eben.“
„Habt ihr den Bock gefunden?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, haben wir nicht. Alles versucht, Bargo hin, zurück, Spur verloren … manchmal ist das so, da kannst du alles machen, und am Ende nützt es nichts.“ Eine Weile schweigen wir, fahren einfach. Dann dreht sie ihren Kopf zur Seite, sieht mich an und fragt: „War es der, den wir heute gesehen haben, der alte?“
Ich zucke mit den Schultern. Sie sinkt zurück in den Sitz, vergräbt den Körper in meinem Mantel, der ihr viel zu groß ist. Dann höre ich, wie sie einatmet, tief und langsam. Der Mond eine schmale Sichel, die weit weg scheint, über den Wäldern, hinter der Ville. „Nein“, sage ich dann, als ich hinter den Kiefern das Haus erkenne, mein Haus, unser Haus, unser Zuhause. „‘s war nicht dein Bock, nicht der alte, es war irgendein anderer. Kannst mir ruhig glauben, ehrlich.“
Sie sagt nichts. Sie lächelt nur.

Später sitzen wir vor dem Haus auf der niedrigen Holzbank. Die Planken sind feucht, aber das macht nichts. Emma öffnet ihr zweites Bier und stellt die Dose auf die Erde vor der Bank. „Sag mal, hast du dir echt Sorgen gemacht?“
„Was meinst du?“
„Wegen eben … Ich war wirklich nur kurz bei der Tankstelle …“
„Ja“, sage ich. „Weiß ich doch.“ Ich nehme einen Schluck. Ich hatte lange kein Bier mehr. Es ist kalt und schmeckt metallisch. „Mir ist das auch mal passiert“, sage ich auf einmal, ich weiß gar nicht warum. „Früher hat mich immer das Jagdfieber gebeutelt – aber so richtig schlimm ...“
„Ja?“
„War damals auch so alt wie der Sascha, und `ne ganz ähnliche Geschichte. Von nichts `ne Ahnung, aber Hauptsache große Klappe.“
Sie lehnt sich zurück, für einen Moment betrachten wir den Mond, der ganz langsam hinter den Baumkronen verschwindet. „Weißt du, was seltsam ist?“, fragt sie und holt die Zigaretten aus der Tüte. „In Berlin, in der WG, da ist mein Zimmer eigentlich viel kleiner als hier, aber …
„Ja“, unterbreche ich sie, „ich weiß schon, was du meinst.“ Sie hält mir die offene Schachtel hin, es sind rote Marlboro. Ich ziehe eine Zigarette heraus, spüre den Filter weich und elastisch an meinen Lippen. „Hab schon ewig keine mehr geraucht“, sage ich, und sie lacht und nimmt sich auch eine aus der Schachtel. Wir sitzen nebeneinander auf der Bank, der Mond ist längst hinter den Bäumen verschwunden.
„Hast du mal Feuer?“, fragt sie, und ich hole das alte Zippo aus meiner Jackentasche.
„Ich dachte, du hast aufgehört?“
„Heute nicht“, sagt sie. Ihr Gesicht leuchtet im Schein des Feuers kurz auf, dann sehe ich nur noch die Glut in der Dunkelheit.

 

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist glaubwürdig beschrieben und obwohl das Thema Jagd so gar nicht meins ist, fand ich viele Aspekte, besonders die Nachsuche, neu und interessant.

Moin @petdays

samma, sachst du Abend Jimmy um kurz vor zwei - ich bin `n alter Mann, da lag ich schon lange im Bett!

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar. Ist ja ein recht langer Text, da ist es nicht selbstverständlich, dass man dranbleibt, deswegen umso schöner, wenn du durchgehalten hast. Ich glaube, auf längere oder lange Strecke das Niveau zu halten, ist immens schwer, und ich hatte hier, bei diesem Text auch immer wieder mit diesen Fragen zu kämpfen: ich würde gerne weiterschreiben, aber will das überhaupt jemand lesen? Ist ein großer Unterschied, schreiben und lesen, und man weiß nie, ob der Leser dran bleibt, ob er aussteigt. Ich muss gestehen, ich denke zuerst mal nicht an irgendeinen Leser, ich schreibe es so, wie ich es für richtig halte, richtig für den Text, der sich manchmal ganz wild und mäandernd entwickelt. Natürlich habe ich da schon eine Idee, einen groben Plan, aber wie sich das entwickelt, an welchen Eckdaten, ist immer unterschiedlich, und hier steckte auch irgendwie diese Länge, diese Ausdehnung, auch wenn da gar nicht so viel passiert im Grunde, aber die Charaktere mussten einfach atmen. Deswegen bin ich da im Beurteilen der Lesbarkeit ganz schlecht.

klingt sehr unlecker, aber ein interessanter Vergleich. Als Kirschbaumbesitzerin habe ich den Duft direkt in der Nase.

Ja, stimmt, wo du es sagst, wirkt es nicht so lecker. Ich weiß auch gar nicht, ob Kirschen tatsächlich vergären können, aber es sollte dieser bestimmte, leicht säuerliche, organische Geruch sein, den ich vor allem bei Gamay empfinde. Vielleicht liege ich aber auch total falsch.

Gruss, Jimmy

 

„So hieß der Pudel von Schopenhauer.“
„Von Schopenhauer … “
„Ja, Schopenhauer war ein deutscher Philosoph, der …“
„Ich weiß schon, wer Schopenhauer war, keine Sorge.“
„`tschuldigung“, sagt sie schnell. „War nicht so gemeint.“
Hi Jimmy

Es geht mir eigentlich nur um einen Aspekt, zu dem ich noch mal was beitragen möchte. Du nennst Schopenhauer, beim ersten Mal lesen habe ich auch eine Anspielung auf Nietzsche gelesen (hast du evtli rausgenommen, hab den Text aber kein zweites Mal gelesen).
Beides finde ich an sich eine gute Möglichkeit, eine zweite Ebene zu eröffnen - auch zwischen Vater und Tochter. Klar: die Spur, die gelegt wird, darf nicht einfach versanden, dann ist es sinnlos, die Fährte zu legen.
Und du könntest so houellebecqumäßig einiges draus machen. Zum Beispiel ein Dialog zwischen Vater und Tochter. Eine Auseinandersetzung über Schopenhauer bietet sich mMn weniger an, die Aphorismen zeigen keine eindeutigen Positionen, aber wenn du dir die Personenbeschreibung Schopenhauers anschaust, wäre ein Vergleich zu dem Hund möglich, das Schopenhauer als ziemlich verwachsen geschildert wird.
Nietzsche finde ich sehr aktuell, die Frage des Übermenschen, der die Menschen satt hat aufgrund ihrer Beschränktheit, dieses Thema führt zu der Frage, wozu der Mensch -gefangen zwischen Natur und Technik (die ihm überlegen ist, beinahe schon ein Übermensch) noch gebraucht wird, was es bedeutet, dass Gott tot ist, wo der von dir beschriebene Kerl steht. Ja, da sehe ich einiges an Potential, was die Tochterfigur auch schärfen würde, ihr ein klareres Profil geben könnte. Nietzsche nur als Vorläufer der Nazidenkweise zu sehen, ist ohnehin zu kurz gegriffen.

Okay, so viel oder wenig an Anregung.

Einen angenehmen Weihnachtstag
Isegrims

 

Alles so flüssig, kein Wort zu viel oder zu wenig. Du regst mein Kopfkino an, ich bin ständig mitten im Setting, nah an den Protagonisten. Du hast eine poetische Art zu schreiben, das mag ich. Regst alle Sinne an. Schön!

Hallo @Silvita,

das klingt gut, so soll es ja auch sein. Ich bin ein großer Verfechter davon, die Sinne anzusprechen, damit holst du den Leser mitten rein ins Geschehen, wenn du es gut machst.

Da hab ich für mich festgestellt, dass ich noch kein so genaues Bild von Emma in meinem Kopf hatte. Bei mir hat sich das eher nach und nach entwickelt, was ich aber stimmig fand.
Ist glaube ich immer schwierig, das selber abzuschätzen. Man hat ja selber ein Bild im Kopf, also oft jedenfalls, und für den Autoren ist das meistens ein sehr klares, sehr umrissen - ich persönlich halte nicht so viel davon, einen Protagonisten total exakt zu beschreiben, also das reine Beschreiben der physischen Attribute oder der Kleidung. Ich weiß gar nicht mehr, warum genau, aber ich versuche es so zu handhaben, dass ich damit immer noch etwas anderes verbinde, also nicht nur um das reine Erwähnen, das Aufzählen, sondern es mit einer Art Mehrwert verbinde, die etwas über den Charakter erzählt. Oder so. :D

Nach den Wortdopplungen gucke ich, hast du sehr aufmerksam gelesen, ist mir nicht aufgefallen, super. (Ich hasse Wortdopplungen sehr, deswegen!)

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar!

Hallo @Isegrims

danke dir für deinen Kommentar.

Beides finde ich an sich eine gute Möglichkeit, eine zweite Ebene zu eröffnen - auch zwischen Vater und Tochter. Klar: die Spur, die gelegt wird, darf nicht einfach versanden, dann ist es sinnlos, die Fährte zu legen.
Verstehe ich nicht. Welche Fährte? Hier bei dem Dialog mit Schopenhauer gibt es doch bereits eine zweite Ebene - sie nimmt einfach mal an, und unterstellt vielmehr, dass ihr Vater keine Ahnung habe, wer Schopenhauer überhaupt sei. Ich finde das schon tiefblickend, denn es ist ziemlich arrogant und auch herablassend, und er reagiert auch genau so schroff, wie man das erwarten würde. Ich denke nicht, dass es da eine Spur gibt, die einfach versandet.

Und du könntest so houellebecqumäßig einiges draus machen. Zum Beispiel ein Dialog zwischen Vater und Tochter.
Ich weiß nicht, wie Ullebeck das lösen würde, aber so eine Art Ping-Pong Dialog, wo es im Grunde dann mehr um die Eitelkeiten des Autoren geht (schau mal was ich weiß!), das würde mir hier als billiger Taschenspielertrick vorkommen, als eine prätentiöse Konstruktion, die der Charakterentwicklung nur scheinbar schmeichelt.

Ja, da sehe ich einiges an Potential, was die Tochterfigur auch schärfen würde, ihr ein klareres Profil geben könnte.
Ganz ehrlich: Ich sehe dieses Potential nicht. Ich weiß nicht, wie das Verhandeln über irgendwelche philosophischen Fragestellungen, ob jetzt Schopenhauer, Nietzsche, Lyotard, Hegel oder Foucault oder sonstwer - etwas über die Figuren verraten sollten? Wie sollte das ein Profil der Tochter klarer werden lassen? Weil sie dann großmundig oder wortgewandt irgendeinen philosophisches Strohmannargument vorbringt? Vielleicht, um den Vater blosszustellen, aber das wäre redundant, weil sie diesen Fehler bereits begangen hat, sie hat bereits angenommen, der Vater wisse nicht, wer Schopenhauer sei. Der Vater macht mir jetzt auch nicht den Eindruck, als würde er abends noch die Werke von bedeutenden Philosophen studieren, ein solcher Dialog würde mir also bestenfalls manieriert und aufgesetzt vorkommen, also einfach nicht echt genug für das Setting.

Nietzsche nur als Vorläufer der Nazidenkweise zu sehen, ist ohnehin zu kurz gegriffen.
Das ist ja kein echtes Argument in dem Text, es ist (oder war) ja nur eine dieser vorschnellen Behauptungen - ähnlich wie ich das öfters bei Kant höre, der ja jetzt auch diskreditiert wurde, weil er für die Todesstrafe war. Im Grunde sollte das diesen Typus Berliner Student darstellen, woke und politisch absolut korrekt, der zu allem eine vorschnelle, selbstgefällige Meinung hat, eher ein Urteil, aber zu Recht ist mir das um die Ohren geflogen, weil es eben doch nur eine Karikatur ist, ein Klischee, ein Stereotyp, der dann aber nie gewinnbringend gebrochen wird, nie dekonstruiert - deswegen ist das auch gekürzt worden. Das war also nie eine im Text tatsächlich ernst gemeinte Behauptung, sondern sollte eher der Charakterisierung dienen. Ist aber einfach zu dick, zu offensichtlich, zu wenig subtil für den restlichen Sound im Text, der ja eher zaghaft und zögernd, tastend ist.

Gruss, Jimmy

 

Lieber @jimmysalaryman

das klingt gut, so soll es ja auch sein. Ich bin ein großer Verfechter davon, die Sinne anzusprechen, damit holst du den Leser mitten rein ins Geschehen, wenn du es gut machst.

Da stimme ich Dir aus vollstem Herzen zu und Du hast das wirklich super umgesetzt.

Ist glaube ich immer schwierig, das selber abzuschätzen. Man hat ja selber ein Bild im Kopf, also oft jedenfalls, und für den Autoren ist das meistens ein sehr klares, sehr umrissen - ich persönlich halte nicht so viel davon, einen Protagonisten total exakt zu beschreiben, also das reine Beschreiben der physischen Attribute oder der Kleidung. Ich weiß gar nicht mehr, warum genau, aber ich versuche es so zu handhaben, dass ich damit immer noch etwas anderes verbinde, also nicht nur um das reine Erwähnen, das Aufzählen, sondern es mit einer Art Mehrwert verbinde, die etwas über den Charakter erzählt. Oder so.

Ja, da hast Du Recht. Das brauch ich als Leser auch nicht. Es gibt Bücher, da kommt bei jeder erwähnten Figur erstmal ein großer Absatz mit genauer Beschreibung der Frisur, jede Einzelheit des Gesichts, der Klamotten. Das ist auf jeden Fall too much :)

Nach den Wortdopplungen gucke ich, hast du sehr aufmerksam gelesen, ist mir nicht aufgefallen, super. (Ich hasse Wortdopplungen sehr, deswegen!)

Gern geschehen.
Ah ok :) Ich dachte an manchen Stellen, dass Du sie bewusst eingesetzt hast. :bounce:
Ich hasse die auch, in fremden Texten fallen sie mir auf, nur leider in den eigenen nicht :D

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar!

Gern geschehen.

Ich wünsche Dir einen gemütlichen Sonntag.

Liebe Grüße,
Silvita

 

Hallo @jimmysalaryman ,

lange Zugfahrten sind für Novellen gut. Ich mochte die Figuren. Da merkt man, dass Du bereits Erfahrung mit dem Schreiben, aber auch Talent hast, in der realen Welt hinter Charaktere zu schauen. Sonst kämen sie einem nicht so bekannt vor, die Väter und Töchter, Ex-Frauen mit Cabriofahrern.
Zudem hast Du mich entführt auf eine Wanderstrecke meiner Kindheit. Als Kind erzählte ich immer meinen Homies, dass das glitzerige Spiegeln der Sonne im Rhein das Rheingold wäre, das durch das Wasser scheint (war mir schon klar, dass das nicht so war, aber ich erzähle halt gerne Geschichten).
Was mir auch etwas fehlte, war ein Ende. Im Prinzip hätte die Geschichte so weitergehen können. Die Figuren sind zwar prima entwickelt, aber die Story führt sie nirgendwo hin. Da fehlt mir etwas die Erkenntnis, zumindest vielleicht beim Vater, der versteht oder eben nicht verstehen will, dass seine Tochter ihm längst entwachsen ist; seine Fürsorge nicht mehr braucht. Hier noch ein paar Kleinigkeiten:

Lange Streifen am Straßenrand. Hafer. Raps. Erbsen. Dahinter
Erbsen – so sieht die Einöde aus. Schönes Bild.
Auf der Innenseite des Zeigefingers eine Tätowierung – ein Schnäuzer mit gezwirbelten Enden, ganz in schwarz
Das fand ich eigenartig. Wer tätowiert sich denn so etwas? Ich habe mich gefragt, ob mir das etwas über ihren Charakter sagen soll. Sie wirkt auf mich aber eher nach Schmetterling oder so.
Küchenstuhl.
„Du hast ja richtig aufgeräumt“, sagt sie und zieht grinsend die Fingerspitzen über die Tischplatte.
Da fehlt ein Komma.
Ich starre auf die rot glühenden Ziffern des Weckers. 5:24. Die Sonne wird in einer Stunde aufgehen. Es
Und dort ein Punkt.
Wir gehen durch die Waschküche ins Innere. In der Küche ist es schon hell, das erste volle Licht, es riecht nach Rosmarin und Wacholder.
Lecker ?. Schönes Bild.
Sie trägt ein ausgewaschenes T-Shirt, so kurz, dass ich ihren Bauchnabel sehen kann, ein ovales, dunkles Loch im Fleisch, auf ihrem Slip eine Comic-Katze mit großen, glänzend schwarzen Augen und Kussmund.
Diese Details mag ich an Deiner Schreibe.
er. „Heute Abend ist `ne Party bei uns in der Scheune, mein kleiner Bruder geht ja demnächst zum Bund, da will er’s vorher natürlich nochmal krachen lassen. Also, wenn du Lust hast … “
Ich dachte immer, beim Bund ließe man es krachen. ?
sehen. „Ich dachte, bei dem Wetter, da könnten wir doch ins Siebengebirge fahren, kleine Runde um den Drachenfels, da vielleicht `ne Kleinigkeit essen … was meinst du dazu?“
?
Ist ja so ein wenig Tabu, aber warum sehen den Väter so genau auf ihre Töchter, wenn sie in die Pubertät kommen? Weil
Ich glaube, das liegt (bei den meisten) eher daran, dass sie in ihren Töchtern noch das Kind sehen und der Gedanke, dass sie sexuelle Wesen sind, nicht gerade leicht ist.

Ich mag Deinen Vater als Figur, aber durch diese Stellen, habe ich die ganze Zeit etwas Böses erwartet. Ich weiß nicht, ob das Dein Ziel war. Jedenfalls habe ich den Vater als größere Bedrohung empfunden als Sascha, die Waffen oder den dunklen Wald.
LG
Mae

 

Ich mochte die Figuren. Da merkt man, dass Du bereits Erfahrung mit dem Schreiben, aber auch Talent hast, in der realen Welt hinter Charaktere zu schauen. Sonst kämen sie einem nicht so bekannt vor, die Väter und Töchter, Ex-Frauen mit Cabriofahrern.

Vielen Dank für deinen Kommentar, ich habe mich sehr gefreut.

Naja, man sagt ja immer, Autoren und Menschenkenntnis, aber ich mag das nicht glauben. Ich denke, viele Menschen verhalten sich schon auch einfach stereotyp, offensichtlich, durchschaubar, und dann ist es nicht mehr so schwierig. Ich habe mich allerdings auch schon derbst in Menschen geirrt, da halte ich meine Hand nichts mehr ins Feuer! Was mich halt interessiert, ist schon der Naturalismus, wie ist das Wirkliche in der zwischenmenschlichen Beziehung, wie kann man das realistisch gestalten, ohne jetzt eine Dokumentation zu schaffen? Mir ist natürlich bewusst, immer ist es eine Inszenierung, immer nur ein Abbild, aber da lege ich Wert drauf, echte Charaktere - die müssen nicht immer gleich funktionieren, sie sollen jedoch lebendig wirken, auf ihre Weise. Und vielleicht ist es auch wirklich so, dass viele meiner Text etwas plotlos sind, also da passiert etwas, aber es sind eher Zustandsbeschreibungen, es gibt keine Lösung, kein Warum. Ich mag auch selber Geschichten lesen, in denen (scheinbar!) nichts passiert, in denen nur so die Zeit verrinnt.

Zudem hast Du mich entführt auf eine Wanderstrecke meiner Kindheit. Als Kind erzählte ich immer meinen Homies, dass das glitzerige Spiegeln der Sonne im Rhein das Rheingold wäre, das durch das Wasser scheint (war mir schon klar, dass das nicht so war, aber ich erzähle halt gerne Geschichten).
Ich war letztens mit meinem Bruder dort wandern, und es war so, dass jeder von uns Geschichten erzählen konnte, also Sagen, aber jeder von uns kannte die unterschiedlich, eine etwas andere Version, das fand ich interessant, dass diese Mythen immer weiter wachsen, jede Generation hat ihre eigene Variation. Rheingold, da gibt es ja wirklich wilde Stories, wo Leute überzeugt sind, da liegen Schätze, die müssen nur gefunden und geborgen werden, ganz krass.
Was mir auch etwas fehlte, war ein Ende. Im Prinzip hätte die Geschichte so weitergehen können. Die Figuren sind zwar prima entwickelt, aber die Story führt sie nirgendwo hin. Da fehlt mir etwas die Erkenntnis, zumindest vielleicht beim Vater, der versteht oder eben nicht verstehen will, dass seine Tochter ihm längst entwachsen ist; seine Fürsorge nicht mehr braucht.
Ja, ich verstehe das. Ich bin damit auch noch nicht zufrieden. Ich habe mir schon etwas überlegt, vielleicht, dass sie in der Nacht das Bier vor dem Haus trinken, und sie dann einen Dialog haben, wo dem Vater klar wird, (oder wo dem Leser aus diesem Dialog klar wird), es gibt kein Zurück mehr, aber so oder so wird es weitergehen ... lege ich mir im Kopf schon zurecht.

Ich glaube, das liegt (bei den meisten) eher daran, dass sie in ihren Töchtern noch das Kind sehen und der Gedanke, dass sie sexuelle Wesen sind, nicht gerade leicht ist.
Ganz genau, ich denke, dass wird ihm (oder soll ihm, dem Vater) in der Geschichte klar werden, aber dazu muss man ja erstmal anerkennen, dass sich etwas verändert hat, und das sieht man immer zuerst selbst, glaube ich. Natürlich kann man da keinen Allgemeinplatz draus machen, oder sollte das nicht tun, hier in der Geschichte hat diese Erkenntnis ja etwas latent Bedrohliches, aus einem Kind wird eine Frau, vielleicht ist dem Vater das bis jetzt wirklich nicht aufgefallen ... so war es jedenfalls geplant. Nicht der eine große Schock, sondern das langsame Einsickern.

Ich mag Deinen Vater als Figur, aber durch diese Stellen, habe ich die ganze Zeit etwas Böses erwartet. Ich weiß nicht, ob das Dein Ziel war. Jedenfalls habe ich den Vater als größere Bedrohung empfunden als Sascha, die Waffen oder den dunklen Wald.
Ich glaube, ich würde das auch erwarten. Man denkt ja immer, der hat eine Waffe, der wirkt irgendwie auch unzufrieden, mit sich selbst, mit der Welt, was passiert da? Ich würde jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, hier habe ich jetzt die Erwartungen des Lesers mal so richtig schön unterwandert, aber ein bißchen ist das vielleicht so, auch wenn das jetzt keine bewusste Entscheidung war, sondern sich so organisch gefügt hat.

Dieses Tattoo-Sache mit den Finger ist, oder war mal, so eine Modeding. Gibt es also tatsächlich!, ich habe es auch nicht geglaubt.

Also, danke dir und guten Rutsch erstmal.

Gruss, Jimmy

 

Hey Jimmy,

mach ich das mal so. Ein schönes Stück lesen, Stellen rausschreiben, irgendwann Pause machen und kommentieren, so lange ich noch weiß, was ich zu den Stellen sagen wollte :D
Mal schauen, vielleicht gibts also noch eine zweite Runde später.
Sehr schön, mal wieder was von dir zu lesen. Ich bin jetzt bei der Szene, wo sie von dem neuen Freund ihrer Mutter erzählt.


„Ja, Schopenhauer war ein Philosoph, der …“
„Ich weiß schon, wer Schopenhauer war, keine Sorge.“

Ich bin mir nicht sicher, ob er es wirklich weiß, was ich nett finde. Er will sich nicht die Blöße geben, so habe ich das interpretiert. Andererseits ist er schon ein sehr kultivierter Typ. Er spricht das Jäger-Latein fließend und beschreibt seinen Wein wie ein Connaisseur. Das ist eine schöne Mischung. Grob und fein treffen aufeinander.

Der Griff des Korkenzieher

des Korkenziehers

ist aus Metall und kalt

er ist bestimmt aus Edelstahl oder?

an vergorene Kirschen im Spätsommer

Einmal war ich Gast bei so einer Vorstellung eines Weingutes. Der Winzer hat erzählt, dass es den meisten Leuten schwer fällt, den Geschmack eines Weines mit Worten zu beschreiben. Einmal aber hätte ein Teilnehmer gesagt, der Wein schmecke "nach den Himbeeren, die er als kleiner Junge im Dorf seiner ..." – so was in der Art. Jedenfalls hat es den Winzer beeindruckt und von deinen vergorenen Spätsommerkirschen hätte er bestimmt auch geschwärmt :D

„Ich hab für uns beide gekocht, Wildschweingulasch.“
„Papa“, sagt sie leise und verzieht die Mundwinkel.
„Was denn? Was ist denn los?“
„Ich ess‘ kein Fleisch … schon seit zwei Jahren nicht mehr.“

Das ist eine schöne Stelle. Ich will das nicht totanalysieren. Hier steckt aber viel zwischen den Zeilen: über ihre Beziehung, seine Art, wie sie damit umgeht und wie zwei Jahre manchmal mit einem Wimpernschlag vergehen.

„Ja, ja das wäre gut.“

ja, ja, das wäre gut – Komma, oder?

Ich rüttelte an der Sprosse.

rüttele

sie streckt die Finger aus, um den elektrischen Zaun zu berühren

So eine schöne kleine Aktion. Das bringt ihn bestimmt zum Schmunzeln.

einen Fingerbreit gemahlene Bohnen

'Fingerbreit' ist wie das englische 'Fuß' so eine Maßangabe, die die Hände bzw. Füße mit ins Bild nimmt. Das passt gut zum Essen (zumindest das mit den Händen:D). Einen Fingerbreit Bohnen. Das gibt dem eine Stofflichkeit, weil es auch das Gefühl der Bohnen an der sensitiven Haut der Fingerkuppen anspricht. Es ist ja immer Gebot, die Sinne anzusprechen beim Beschreiben. Da leistet dieses kleine Wort und auch andere Maßangaben dieser Art Gutes.

mit der .308 in die

In der wörtlichen Rede ist dieser Punkt vor dem 308 natürlich nur für den Leser, was einen komischen Effekt hat. Heißt nicht, dass ich ihn weglassen würde. Ich denke, es nimmt sich nichts, aber aufgefallen ist es mir schon.


Bis hierhin ein sehr gut geschriebener Text, sehr genießbar. Er führt in die Lebenswelte der beiden ein und folge ich gerne, werde aufmerksam für kleine Progressionen in der Handlung. Ich bin gespannt, ob es so ein doch ruhiger Text bleibt oder ob das nur die Kontrastfolie für die Eskalation danach ist. Zurück zum Text. (wenn ichs nicht sofort weiterkommentiere, hat mich der andere Schreibttisch wieder, der bei dem es zur Zeit leider zu wenig um schöne Texte geht).

Bis gleich oder später!

 

Bis hierhin ein sehr gut geschriebener Text, sehr genießbar. Er führt in die Lebenswelte der beiden ein und folge ich gerne, werde aufmerksam für kleine Progressionen in der Handlung. Ich bin gespannt, ob es so ein doch ruhiger Text bleibt oder ob das nur die Kontrastfolie für die Eskalation danach ist. Zurück zum Text.

Danke dir, @Carlo, für deinen Kommentar,
ich weiß gar nicht, was ich jetzt genau tun soll, einfach mal abwarten, oder soll ich dir teils/teils antworten? Ich bin ratlos, hilf mir mal. :D

Gruss, Jimmy

 

Kommentieren, abwarten, wie du magst :D (kannst gerne warten, habs ja bald zusammen). An dem Abend habe ich es dann doch nicht mehr geschafft. Die Geschichte geht jetzt erst richtig los, glaube ich. Und deswegen werfe ich lieber vorher nochmal ein paar Gewichte ab. Ich bleibe jetzt mal bei diesem Vorgehen.

So, wie sie da sitzt, ganz entspannt, mit offenen Haaren und aufmerksamen, wachen Blick

aufmerksamem, wachen Blick.
(bin mir da gerade tatsächlich gar nicht sicher, ob wegen des Kommas nicht beides mit 'm' ist)

Ein Welpen muss kurz nach der Geburt

Ein Welpe ohne 'n' oder? Ist zumindest die Flexion laut Internet.

Ich spüre die Wärme ihrer Körper, als sie sich um meine ausgestreckte Hand sammeln, sie wittern den Rüdemann, sie warten. Ein Welpen muss kurz nach der Geburt an den Zwinger gewöhnt werden, ansonsten wird es immer schwieriger. Der Zwinger härtet sie ab, denn ein Hund, den du erfolgreich bei der Jagd einsetzen willst, muss bei jedem Wetter raus. Wenn du sie an den Zwinger gewöhnst, werden sie jammern, sie werden jammern und bellen, aber eins darfst du nie tun, du darfst sie niemals aus dem Zwinger holen, denn dann lernen sie, dass jemand kommt, um sie von ihrem Alleinsein zu erlösen. Nein, du bist es, der bestimmt, wann der Hund den Zwinger verlassen darf, nur du alleine, sonst niemand.

Hier passiert was. Das enthält allgemeine Sachinformationen, sagt etwas, aber nicht zu viel über deinen Protagonisten aus. Er ist in seinem Umgang mit Tieren sehr bewusst, nicht nur bei der Jagd. Wie er über die Machtverhältnisse zwischen Hund und 'Herren' spricht, ist nicht ohne Respekt. Er ist sich einfach dieses Verhältnisses und seiner Implikationen bewusst.
Gleichzeitig hat diese Passage etwas von einer Ansprache an den Leser. Die Frage ist, ob ich mich im Sinne der Appellstruktur dieses Textes mit dem konstruierten 'Du' identifiziere. Das ist bei mir auf jeden Fall passiert. Die Stelle hat mich ein bisschen irritiert. Aber ich nehme das so hin. Bin dann schnell wieder in der Geschichte. Es ist nur so ein Kippmoment.

Ton wechselndes Klagen, ein schnelles Hin und Her, zitternd, entrückt. 23:19. Wärme unter der Decke, Muskeln entspannen. Die Müdigkeit kommt schnell.

Warum hast du 'Uhr' nicht dazugeschrieben? Das ist der zweite Wechsel für mich. Auf einmal kriegt das etwas Logbuch-mäßiges und der Text durch die Abfolge von Appell, Logbuch und dann Traumsequenz kurz sogar etwas Collagenhaftes. Spannend auf jeden Fall. Das schaue ich mir im Fazit vielleicht nochmal an.

ihre Knöchel drücken auf meine Schneidezähne, bis sie mit einem hellen Knacken abbrechen, der Geschmack von Blut, der sich im Rachen ausbreitet, und da ist ein feiner Schmerz, der vom Kiefer über das Felsenbein pulsiert, aber ich spüre ihn nicht, ich spüre den Schmerz nicht …

die Traumsequenz verrät viel und ich finde sie gut geschrieben. Ein ganz typisches Element mit den brechenden Zähnen. Aber viel wichtiger, finde ich, dass er den Schmerz nicht spürt (allerdings sagt er vorher 'da ist ein feiner Schmerz', also fühlt er ihn ja doch). Finde immer wichtig, wie die Traumbilder im Traum selbst bewertet werden. Das hat am meisten Aussagekraft, finde ich.

ihr Atem, warm und nah, ich kann ihre Haut riechen, ihr Haar, salzig wie eine Marsch, dann öffne ich meine Augen, ihr Fleisch, das auch mein Fleisch ist, so weiß wie Milch, und der Himmel über uns stahlfarben, die Wolken rasend schnell, sie legt ihre Hände auf meinen Mund, formt

Ja, spätestens hier bekommt es etwas Erotisches, was zu Spannung führt, weil das ein heißes Eisen ist. Ich frage mich dann natürlich, wird der Text in diese Richtung führen und lese weiter.

Hitze auf meinem Gesicht, Hitze überall, Haut, Unterleib. Ich atme lautlos in die Dunkelheit des Zimmers, drehe meinen Kopf zur Seite und sehe dabei an die Wand, es dauert nicht lang. Dieses Gefühl habe ich fast vergessen, dieses eine, ewige Gefühl - das warme Beben nach der letzten Berührung, es gibt kein Zurück mehr, das Zucken, das Vibrieren, die zitternden, ganz langsam erschlaffenden Muskeln

Das ist verschleiernd geschrieben. Vielleicht will er als Erzähler hier einfach nicht explizit werden. Für mich ließt es sich trotzdem wie ein 'feuchter' Traum bzw. seine Ejakulation (ich hoffe, ich setze mich jetzt in die Nesseln? :D Aber die Bilder haben für mich etwas Sexuelles).

Ich schlürfe das Stew aus der Kelle, die Stücke zergehen auf der Zunge, so zart sind sie. Zwei Jahre kein Fleisch.

hehe, das ist Liebe. Gulasch zum Frühstück.

Könnten wir endlich mal die neue Kanzel aufstellen unten am Herdchen aufstellen

ist doppelt

ist es schon hell, da erste volle Licht
das

Sascha

finde die Exposition der Figuren sehr gelungen. Ist auch sehr ausgewogen, wie du da Sasha ins Geschehen einführst.

Er zeigt auf die Trophäe, die im Wohnzimmer über dem Kamin hängt. „Du warst schon überall, hast alles erlegt, was du wolltest – und ich hab erst `n Knopfbock.“

Das fand ich super. Da wird für mich die Hierarchie zwischen den beiden deutlich und auch so etwas zwischen Anerkennung, Bewunderung und Neid sowie die andere Seite: Jovialität, aber auch Großzügigkeit.

gebaut, für’s draußen sitzen

fürs "Draußensitzen" müsste es sein, oder?

„Morgen … “ Sie spricht ganz leise, haucht die Worte.
„Emma“, sage ich und drehe mich um. „Meine Tochter, ist ein paar Tage zu Besuch.“
Sascha lächelt, senkt den Blick, dann sagt er: „Hallo“, und verschluckt sich fast. Ihre Wangen sind noch gerötet von der Bettwärme, das Haar fällt ihr in langen, dünnen Strähnen bis auf die Brust. Sie trägt ein ausgewaschenes T-Shirt, so kurz, dass ich ihren Bauchnabel sehen kann, ein ovales, dunkles Loch im Fleisch, auf ihrem Slip eine Comic-Katze mit großen, glänzend schwarzen Augen und Kussmund.

Hier wird die Story für mich zum Selbstläufer. Das hast du alles wirklich gut eingefädelt. Ich kann mir denken, wie er sich als Vater fühlt, aber auch vor dem Hintergrund seines Traumes. Du zeigst Sasha, der sich fast verschluckt, das reicht. Es wird hier alles klar, ohne Spannung einzubüßen.

Also, wenn du Lust hast … “ Er lacht, ich kenne diese Art von Lachen, ein hinterlistiges, ein dreckiges Lachen, ein Lachen, das etwas verstecken soll, und er sieht nicht mich an dabei, er sieht über meine Schulter.

Vielleicht könnte man das sogar weglassen. Das wird in seinem Kommentar auch deutlich. Ich bin zwiegespalten. Einerseits entsteht Spannung, weil man den Konflikt als Leser sofort (eventuell noch vor deinem Protagonisten) checkt, andererseits wird hier ja auch nochmal eine Abneigung, fast so etwas wie Hass vorbereitet.

„Ja, nett und `n bisschen dumm vielleicht …“

Oh, ja, das denke ich auch ... :D
Jetzt bin ich gespannt.

 

Okay, diese Unterbrechungen sind echt das Letzte :lol:
Jetzt bin ich wenigstens durch. Ein sehr guter Text, finde ich.

Emma zuckt mit den Schultern. „Ist ja auch egal.“
„Nein, ist es nicht, es ist überhaupt nicht egal.“ Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Die Metallstreben drücken sich durch den Stoff meiner Hose. Sie nimmt einen Schluck. „Und mit den Hunden?“
„Was ist mit den Hunden?“
„Du hast gesagt, du verkaufst welche nach Schweden …“
„Ja, ja, das stimmt, nach Schweden, überleg dir das mal.“
„Wenn sie da glücklich sind …“
„Es sind Jagdhunde, Emma.“
Sie nickt. „Kümmerst du dich eigentlich noch um was anderes, als um deine Hunde?“

das ist ein starker Schlagabtausch. Spannend, dass er das einfach so wegsteckt. Aber es passt auch zu ihm.

„Du hast das schon richtig verstanden, glaube ich …“
„Ich kann das einfach nicht, mich auf so was einlassen …“
„Auf was denn einlassen?“
„Du hast das schon richtig verstanden“, wiederhole ich, und da wendet sie den Blick ab und sieht wieder aus dem Seitenfenster.

Genau wie hier. Die Tochter höchstens mal mit dem durchgepolsterten Boxhandschuh geknufft.

Geschmack von Kupferpfennigen

fand ich eigentlich schön. Aber ich muss dich ärgern: woher weiß er, wie die schmecken?

Durch ein flachen Siefen

einen ?

das her?“ frage ich,

Komma


----

Mir hat dieser Text in vieler Hinsicht sehr gut gefallen. Dieses Jägervokabular, allein deshalb lohnt es sich schon. Dann die zarte Beziehung zwischen Vater und Tochter, die zwischendrin einen auch unbehaglichen Drive bekommt (zumindest für mich). Wo ich mich nochmal Frage, wo die Liebe von Eltern anfängt und wo sie aufhört. Alles sehr intim erzählt. Da sind wirklich tolle Details drin, die sich einbrennen. Der Schweiß bzw. die Stücke vom angeschossenen Bock, die er auch noch probiert und bestimmt. Diese Beschreibungen vom Geschmack etwa der Zigarren; aber auch einfach diese unzähligen super genauen und gewissenhaften Beschreiben – da liest man einfach gern. Und, wie gesagt, es brennt sich ein. Ich erinnere mich auch noch regelmäßig an Lekos Salzmandeln aus deinem Café-Text.
Diese kleinen Zweifel, wenn die Tochter was sagt, wenn sie meint, dass er etwas fett geworden ist zum Beispiel oder das er gern was über den Neuen der Mutter wissen würde. Dann diese Stille im Haus und was das mit ihm macht. Da sind viele großartige Momente drin. Wie du an den Zwischenkommentaren vielleicht gemerkt hast, dachte ich, das geht in eine andere Richtung. Ich hatte ja vermutet, dass sich die zitierte Anmerkung deines Prots bewahrheitet, dass Sasha da eine Dummheit unterlaufen ist (die er noch schwer bereuen wird). Da gehts hin, dachte ich. Vor allem, weil die Tochter ja auch noch auf den Zug aufspringt, und weil dieses Besitzenwollen und darin so eine Eifersucht beim Protagonisten spürbar wird. Vor allem, glaube ich, hatte ich mir Sasha zuerst älter vorgestellt, nicht in Emmas Alter, eben wegen des Jagens und seines Umgangs mit dem Protagonisten. Deshalb habe ich Sasha für sein 'dreckiges Grinsen' für einen Moment noch mehr gehasst. Dass er die Dreistigkeit und Überheblichkeit hat, im Haus des Prots dessen junge Tochter anzubaggern (obwohl er vielleicht Ende dreißig ist), als wäre sein Kollege so ein seniler Sack, der das nicht merkt. Es ist eben auch diese Gier, die ihn später den Bock schießen lässt (obwohl man diese Perspektive zum Schluss nochmal hinterfragt, als Sasha sich volllaufen lässt, in gewisser Weise reuig wirkt). Da hatte ich deinen Protagonisten auf jeden Fall schon das Gewehr laden sehen. Ist natürlich übertrieben. Und so hat es mir gut gefallen, dass das in meinem Kopf und nicht in deiner Geschichte passiert ist. Die schafft es auch ohne Bleihagel. Ich war super gespannt und hab mit deinem Prot mitgefiebert, wie man so sagt. Einzig das Ende liegt mir noch so auf der Zunge. Er versucht ihr Sicherheit zu geben, was sie durchschaut und anerkennt. Sie ist eben kein kleines Kind mehr. Ich denke nochmal darüber nach, ob mir da vielleicht was von ihm fehlt. Insgesamt ist das wirklich eine sehr gute Geschichte, finde ich. Atmosphärisches, mit einer eigenen Sprache, sehr treffenden Figuren und toll erzählt. Auf jeden Fall eine Lese-Empfehlung.
Vielleicht kannst du ja etwas aus den Anmerkungen mitnehmen, muss ja nicht immer die große Kritik sein.

Viele Grüße
Carlo

 

Hallo @Carlo Zwei

vielen Dank für deinen Kommentar, ich habe mich, wie immer, sehr gefreut.

Ist ein langer Text, der entwickelt sich bei mir auch immer noch in der Hinterhand, verändert sich nach Monaten, wird dichter, weil man natürlich immer auch ein gleiches Niveau anstrebt, der Text soll auf das ganze Volumen gut sein, die Intensität halten. Ich finde, es ist oft so, dass einem erst nach einer gewissen Zeit klar wird, was wirklich wichtig in dem Text ist, und auf was man eher verzichten könnte und sollte, wie ein roter Faden, der vielleicht vorher nicht so deutlich erkennbar war.

Wo ich mich nochmal Frage, wo die Liebe von Eltern anfängt und wo sie aufhört. Alles sehr intim erzählt.

Ich glaube ja, das hier ist der Kern der Geschichte. Sicherlich ist das auch ein Amalgam, wie jeder Text, mehrere Schichten, mehrere kleine Subplots, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen - nur manchmal ist es so, dass man da auch den Überblick verliert, deswegen ist es gut, wenn ein Leser das so präzise zusammenfügen kann. Ich würde das jedenfalls so unterschreiben, das ist die main line im Text.

Ich hatte ja vermutet, dass sich die zitierte Anmerkung deines Prots bewahrheitet, dass Sasha da eine Dummheit unterlaufen ist (die er noch schwer bereuen wird). Da gehts hin, dachte ich. Vor allem, weil die Tochter ja auch noch auf den Zug aufspringt, und weil dieses Besitzenwollen und darin so eine Eifersucht beim Protagonisten spürbar wird.

Ja, das wäre der große BANG in der Story, aber ich wollte es leise haben, das passte irgendwie besser. Obwohl, natürlich ist es so, das könnte man auch wieder als Konstruktion auffassen, also zuerst die Erwartungshaltung diesbezüglich schüren, dann in eine ganz andere Richtung gehen. Wie man es macht ... Ich habe viele Filme gesehen in letzter Zeit, die im Grunde unspektakulär sind, die eben auf Twists und das große Finale verzichtet, sondern eher naturalistisch, wie et eben is, so in äscht! Ich glaube, jeder Autor macht das, unweigerlich auf Effekt hin schreiben, vor allem bei kürzeren Texten, das passiert, denke ich, ganz unbewußt, eben weil alles so verdichtet sein muss, und ein Effekt besitzt eben auch einen Erinnerungswert - ich kann mich nur an wenige Stories wirklich gut erinnern, die meisten hatten aber einen Effekt, wie Palahniuks "Guts", der die von Thom Jones, wo er seinen Mäusen Kaffeepulver zu fressen gibt. Ich denke, für so etwas sind Stories ja auch da, weil sie auch von diesem einen Effekt leben können, das könne ein Roman nicht, oder nur sehr schlecht, da braucht es schon einen sehr, sehr guten Autoren, um einen Roman nur auf diesen einen Effekt hin zu schreiben, der dann auch wirklich funktioniert. Wie dem auch sei, hier sollte vielleicht der große Knall im Hintergrund dräuen, sich aber nie wirklich einlösen, natürlich mit dem Ziel, die Spannung aufrecht zu erhalten, da tickt man als Leser ja oft doch recht einfach, ich ja auch: Tut er es, oder tut er es nicht? Reicht meistens. Ich denke, wenn man einmal eine Erzählinstanz etabliert hat, die glaubwürdig ist, bleibt man dran.


Einzig das Ende liegt mir noch so auf der Zunge. Er versucht ihr Sicherheit zu geben, was sie durchschaut und anerkennt. Sie ist eben kein kleines Kind mehr. Ich denke nochmal darüber nach, ob mir da vielleicht was von ihm fehlt.

Ja, das Ende. Ich kaue da auch noch drauf rum, ob das wirklich so passt. Es ist ja eher eine symbolische Freigabe, daher auch der Titel ... Fliege hat schon Ähnliches angemerkt, ich bin mir nicht sicher, ob das Verhältnis dann nicht kippen würde, weil es schon aus seiner Sicht erzählt wird, ich bin mir aber, wie gesagt, nicht sicher.

Danke dir, ist viel Gutes drin, in dem Kommentar, ich lese den sicher noch ein zweites und ein drittes Mal, und komme nochmal drauf zurück.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman, Wow ... deine Geschichte habe ich auf Einmal durchgelesen und sie hat mir seht gut gefallen! Die Jagd ist zwar nicht mein Ding - obwohl mein Schwager Jäger ist - aber du hast alles sehr bildend geschrieben, so alles andere auch.
Ich hätte gerne weiter gelesen, aber leider war da nichts mehr.

:thumbsup:

Herzliche Grüße,
Schwerhörig

 

Hallo @Schwerhörig

danke dir fürs Lesen, und schön, wenn dir der Text gefallen hat. Leider ist er nur so lang, wie er lang ist, da kann ich nichts dran ändern. Vielleicht wird die nächste Geschichte länger.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

ich hatte ja immer gehofft, einen ausführlichen Kommentar schreiben zu können. Ich habe die Novelle schon vor längerem gelesen, relativ kurz nach dem Einstellen (aber ohne diese KZ/Nietzschebezug den es wohl mal gab), bin aber bisher nicht dazu gekommen, meinen Kommentar loszuwerden. Jetzt muss ich quasi aus der Erinnerung schreiben, was ich mir gemerkt hatte, bevor der Leseeindruck vollends verblasst ist. Das ist natürlich einerseits schlecht, weil ich Details vergessen habe, andererseits vielleicht ganz gut, weil ich mich gezwungenermaßen aufs Wesentliche konzentriere.

Für mich ist das in erster Linie eine Geschichte über einen Mann, der Sinnbild ist, für jemanden, der ein wenig aus der Zeit gefallen ist und seinen Platz in der veränderten Welt sucht. Die Beziehung zur Tochter ist da eine Projektionsfläche, weil sie ihm bewusst macht, dass er eigentlich nicht mehr dazu gehört, nicht zur modernen Gesellschaft und auch nicht zum Leben seiner Tochter.

Mir ist der Protagonist sympathisch, selbst wenn er vielleicht "problematische Ansichten hat" (z. B. Frauenbild), denn mir ist persönlich jemand mit einer Haltung lieber, selbst wenn sie altmodisch erscheint, als jemand, der sein Fähnchen ständig in den Wind des stärksten Trends dreht und meint sich deshalb über die "Rückständigen" stellen zu müssen.

Die ganzen Problematik kristallisiert sich für für mich in der Nachsuche. Ich bin kein Jäger, kenne mich auch nicht damit aus, aber für mich hat das etwas von Ehre, dass man das angeschossene Tier nicht einfach seinem elendigen Schicksal überlasst, sondern sich die Mühe macht, es zu suchen und zu erlösen und vor allem auch vorher die Mühe macht, seinen Job als Jäger ordentlich zu erledigen und nicht nach Trophäen zu schielen. Die eigentliche Trophäe ist also, das Tier nach den Regeln der Kunst zu erledigen und nicht, es irgendwie zu erwischen.

Mir gefällt das sehr gut, weil es ein Kontrapunkt ist zu unserer heutigen Kultur der Schnelligkeit und geringen Nachhaltigkeit und einen Wert darstellt, der nichts mit Bildung zu tun hat, sondern etwas mit Haltung.

Die Haltung des Protagonisten führt aber letztlich dazu, dass er seine Frau verloren hat, in Konflikt mit dem Jungjäger gerät und womöglich sogar seine Tochter verliert, was mich für die tiefe Tragik des Textes ausmacht. Er wird nicht belohnt dafür, dass er Haltung bewahrt. Aber am Ende gibt es diesen Lichtblick, dass er seine Tochter doch nicht verliert, sondern dass sie ihn akzeptiert und sogar respektiert. Es ist also nicht alles verloren.

Ich habe in den Kommentaren etwas von erotischer Aufladung zwischen Vater und Tochter gelesen. Das sehe ich gar nicht bzw. nicht im problematischen Rahmen. Ihm wird nur bewusst, dass seine Tochter zur Frau wird, mit allen Folgen. Und ich glaube für Eltern ist der Gedanke einfach immer schwierig, dass die Kinder älter werden und irgendwann Sex haben (so wie einem als Kind irgendwann die Vorstellung gruselt, dass die Eltern (oder noch schlimmer Großeltern) Sex haben). Und natürlich sieht man es dann als Vater nicht gerne, wenn die Tochter halbnackt rumrennt (kurzes T-Shirt).

Insgesamt ist der Text sehr sinnlich geschrieben, was für mich sehr gut zum Setting passt. Mir fällt immer auf, dass Menschen, die stärker mit der Natur verbunden sind, tendenziell sinnlicher Leben (früher hatte man auch kein Verfallsdatum auf der Milch ...) und ich denke, dass der Beruf als Jäger das auch erfordert, dass man eben alle Sinne einsetzt. Zumindest habe ich das im Rande in meinem Umfeld mitbekommen.

Also, für mich ein sehr guter Text und ich finde die Länge gerade richtig, um das zu transportieren, was ich herausgelesen habe.

Mehr als diesen Leseeindruck kann ich gerade nicht liefern, aber den wollte ich noch dalassen, bevor der tolle Text wieder in den Tiefen des Forums verschwindet.

Gruß
Geschichtenwerker

 

Für mich ist das in erster Linie eine Geschichte über einen Mann, der Sinnbild ist, für jemanden, der ein wenig aus der Zeit gefallen ist und seinen Platz in der veränderten Welt sucht

Hallo @Geschichtenwerker,

ja, das mag gut sein. Ich glaube, er hat einen Platz gefunden, aber er weiß eben noch nicht, ob das der richtige ist, oder ob das überhaupt ein Platz ist. Ich denke, aus der Zeit gefallen, da muss man mit vorsichtig sein, das wirkt wie so eine Trope schon - einsamer Mann, aus der Zeit gefallen, da erzählt sich die Geschichte oft von selbst. Ich weiß aber natürlich, was du meinst, und ich sehe das zum großen Teil genauso - die Gefahr besteht eben, schnell in dieses Klischee abzudriften, das wäre nicht so optimal.

Die Beziehung zur Tochter ist da eine Projektionsfläche, weil sie ihm bewusst macht, dass er eigentlich nicht mehr dazu gehört, nicht zur modernen Gesellschaft und auch nicht zum Leben seiner Tochter.

Ja, ich glaube, er ist außen vor, er hat sich irgendwie eingerichtet in seinem Leben post-Ehe, und man weiß ja nicht so richtig, ob ihm das gefällt, darüber macht er keine Angaben, der Text gibt das auch nicht her, er sagt nur einmal kurz, er würde keine Beziehung mehr wollen, aber das sagt er immerhin zu seiner Tochter - würde man seinen eigenen Kindern so etwas verraten? Ist ja auch immer etwas spekulativ, finde ich. Aber ich denke, sie wollen das herausfinden, ob sie noch zu seinem Leben gehört, das wollen beide, deswegen ist auch diese leise Form wichtig, dieses Herantasten, weil natürlich keiner genau weiß, was passieren wird, wie sie sich verstehen.

Die eigentliche Trophäe ist also, das Tier nach den Regeln der Kunst zu erledigen und nicht, es irgendwie zu erwischen.

Das ist jetzt ein Jagd-spezifisches Thema, aber natürlich, klar, besser ist es, keine Nachsuche zu produzieren. Jeder Jäger schießt mal schlecht, wegen Jagdfieber etc, aber man ist halt auch für seinen Schuss verantwortlich und sollte den Finger gerade lassen, wenn man spürt, es wird nichts, oder es könnte nicht gut ausgehen. Das ist ja oft die größte Überwindung, sich die eigenen Grenzen bewusst zu machen.
Die Haltung des Protagonisten führt aber letztlich dazu, dass er seine Frau verloren hat, in Konflikt mit dem Jungjäger gerät und womöglich sogar seine Tochter verliert, was mich für die tiefe Tragik des Textes ausmacht. Er wird nicht belohnt dafür, dass er Haltung bewahrt. Aber am Ende gibt es diesen Lichtblick, dass er seine Tochter doch nicht verliert, sondern dass sie ihn akzeptiert und sogar respektiert. Es ist also nicht alles verloren.
Ist schön, dass du das so liest. Vielleicht war das gar nicht so intendiert, aber so, wie du es jetzt sagst, klingt es natürlich richtig; im Grunde kann man das nicht so genau sagen, wie seine Haltung in dieser vergangenen Beziehung ausgesehen hat, das lässt der Text ja offen, man kann das nur vermuten. Natürlich ist das aber eine Möglichkeit.

Und ich glaube für Eltern ist der Gedanke einfach immer schwierig, dass die Kinder älter werden und irgendwann Sex haben (so wie einem als Kind irgendwann die Vorstellung gruselt, dass die Eltern (oder noch schlimmer Großeltern) Sex haben).
Sehe ich ähnlich. Das ist ja ein großes Thema, mich würde das extrem belasten, das ist auch so ein untergründiges Ding im Text, er hat sie lange nicht gesehen, hat sie einen Freund?, etc, etc, ihm fällt eben auf, sie ist eine Frau, und dann meint man implizit natürlich auch etwas anderes, sie ist sexuell reif, da muss man, denke ich, erstmal eine gemeinsame Basis finden.
Insgesamt ist der Text sehr sinnlich geschrieben, was für mich sehr gut zum Setting passt. Mir fällt immer auf, dass Menschen, die stärker mit der Natur verbunden sind, tendenziell sinnlicher Leben (früher hatte man auch kein Verfallsdatum auf der Milch ...) und ich denke, dass der Beruf als Jäger das auch erfordert, dass man eben alle Sinne einsetzt. Zumindest habe ich das im Rande in meinem Umfeld mitbekommen.

Schwierig zu sagen. Näher an den Elementen, näher am Puls des Seins, ich bewundere solche Menschen, die die Zeichen der Natur lesen können, das ist selten geworden. Ich würde dir zustimmen, es ist ein sicher intensiveres Leben, unbedingt.

Also, für mich ein sehr guter Text und ich finde die Länge gerade richtig, um das zu transportieren, was ich herausgelesen habe.

Mich hat dein Kommentar sehr gefreut, und ich bedanke mich bei dir für deine Zeit, Geschichtenwerker!

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,
Ich wollte dir auch einen kurzen Kommentar zu deiner Geschichte hinterlassen.
Souverän geschrieben, vielschichtig, mit Liebe zum Detail in den Beschreibungen von Mensch und Natur. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht beide vorherrschenden Themen in dem Text, die Beziehung zu seiner Tochter (zuerst dachte ich seltsamerweise da sitzen Bruder und Schwester im Auto) und diese Jagdthematik, eine eigene Geschichte verdient hätten. So springt es ein wenig hin und her. Sicher, irgendwie sind die beiden Stränge auch ineinander verwoben (der Bock, von dem sie nicht will, dass der Vater ihn schießt z.B.), aber bisweilen kommt es mir trotz der Länge des Textes vor, als wäre das etwas gequetscht und es herrscht so ein wenig der Kampf um die "Vorherrschaft" über den Leser. Egal, es bleibt eine intensive Leseerfahrung. Wobei ich sagen muss, dass an der einen oder anderen Stelle viellicht weniger etwas mehr gewesen wäre, bisweilen ergehst du dich für meinen Geschmack dann doch zu sehr in Beschreibungen, die für sich genommen schon ansprechend sind, aber bei mir die Tendenz zur Ermüdung hatten. Nicht ganz, aber die Gefahr war da ;-) Aber das ist sicherlich Geschmackssache sowohl des Autors als auch des Lesers.

Die stärkste Szene war für mich diese Suche nach dem Tier, das der Sascha verfehlt hat. Da hatte ich richtig das Gefühl dabei zu sein, quasi den beiden über die Schulter zu schauen. Sehr intensiv. Leberfetzen, metallischer Geschmack, der Hund, echt gut. Überhaupt die Jagd. Ohne jetzt eine Grundsatzdiskussion über das Thema Jagd, Tiere töten für den Fleischgenuss usw. anfangen zu wollen, mir als jemand, der dem eher skeptisch gegenüber steht, haben die Ausführungen dennoch sehr gefallen. Der Jargon, diese Nutzung einer für Außenstehende fremden Sprache, was ja auch so eine Art Bund zwischen ihm und Sascha bedeutet. Gerade in den Dialogen kam das für mich richtig authentisch rüber. In den Nicht-Dialog-Szenen wäre vielleicht etwas weniger Fachsprache gut gewesen, andererseits ist es ja seine Perspektive und er würde sicherlich genauso denken, mit eben diesen Worten. Ich fand es letztendlich auch nicht schlimm, nicht alles zu verstehen, die Gesamtwirkung war hier bestimmt wichtiger. Wer will, kann ja googlen ;-)

Zwei Anmerkungen habe ich noch. Bei der Eingangsszene bin ich mir nicht sicher, ob da noch Hafer und Erbsen stehen würden, denn etwas weiter hinten schreibst du, es sei ein goldener Oktober. Da wächst eigentlich nur noch wenig auf den Feldern. Selbst der Raps wird normalerweise (nicht immer) vor dem Weizen abgeerntet. Lupine könnte sein als Zwischenfrucht bzw. Vorfrucht vor dem Winterweizen.

Und: Kühe grasen. Äsen tut das Wild.

Ansonsten, guter Text, mit klitzekleinen Längen. Starke Jagdszene. Gern gelesen.

Beste Grüße,
Fraser

PS. Du schreibst, du gehst selbst jagen. Ich hoffe, du benutzt bleifreie Munition? Ist auf alle Fälle gesünder ;-) Und wird wohl bald eh verpflichtend.

 

Hallo @Fraser,

danke dir für deinen Kommentar.

Sicher, irgendwie sind die beiden Stränge auch ineinander verwoben (der Bock, von dem sie nicht will, dass der Vater ihn schießt z.B.), aber bisweilen kommt es mir trotz der Länge des Textes vor, als wäre das etwas gequetscht und es herrscht so ein wenig der Kampf um die "Vorherrschaft" über den Leser.

Irgendwie sind die nicht ineinander verwoben, die sind schon bewusst so gestaltet, und der jagdliche Hintergrund dient ja im Grunde zur Amplifzierung der Metaphorik, der titelgebenden Freigabe, auch im übertragenen Sinne, da ist ja eine Doppeldeutigkeit enthalten. Er zögert ja auch keine Sekunde, als Sascha da auftaucht, er macht sich keine Gedanken um seine Tochter, die aus Berlin gekommen ist und ihn besucht, er spricht nicht mal ein Wort mit ihr darüber. Ich finde eher, beide Stränge bedingen einander.

Wobei ich sagen muss, dass an der einen oder anderen Stelle viellicht weniger etwas mehr gewesen wäre, bisweilen ergehst du dich für meinen Geschmack dann doch zu sehr in Beschreibungen, die für sich genommen schon ansprechend sind, aber bei mir die Tendenz zur Ermüdung hatten. Nicht ganz, aber die Gefahr war da
Verstehe ich. Mir passiert das regelmäßig, dass ich manchmal über die Stränge schlage, um einen Text möglichst sensual zu verfassen, ich finde, er wird so auch angreifbarer, weil natürlich die Nähe zum Kitsch immer da ist, das ist eine schmale Grenze. Da heißt es Kill your darlings!, wie man so schön sagt, um die Statik im Text nicht zu gefährden, und ich denke, wenn sich der Text noch etwas gesetzt hat, in zwei, drei Monaten, dann werde ich den nochmal entschlacken.
Guter Punkt.

Ich fand es letztendlich auch nicht schlimm, nicht alles zu verstehen, die Gesamtwirkung war hier bestimmt wichtiger.
In seinem Buch über das Schreiben sagt Robert Olmstead, dass Fachbegriffe, dezent eingesetzt, dem Text eine gewisse Autorität verleihen - präzise Sprache bedeutet, man weiß, wovon man spricht. Ich jedenfalls nehme Olmstead alles immer ab, wenn er über Natur und Farmen schreibt, weil er auf einer neuenglischen Ranch aufgewachsen ist, ganz seltsam. Man kann das natürlich auch übertreiben - viele waren von Alte Erde etwas verstört, weil da viel in der Jägersprache gesprochen wird, aber Personen mit dem gleichen Kenntnisstand werden eben so miteinander reden, das darf man nicht verwässern, finde ich.

Die stärkste Szene war für mich diese Suche nach dem Tier, das der Sascha verfehlt hat. Da hatte ich richtig das Gefühl dabei zu sein, quasi den beiden über die Schulter zu schauen. Sehr intensiv.
Ja, die habe ich eigentlich ganz anders geplant, gar nicht so ausgebreitet, aber dann ging es nicht anders, diese Szene musste atmen, damit sie wirken kann. Schön, wenn sie dir gefällt.

Bei der Eingangsszene bin ich mir nicht sicher, ob da noch Hafer und Erbsen stehen würden, denn etwas weiter hinten schreibst du, es sei ein goldener Oktober. Da wächst eigentlich nur noch wenig auf den Feldern. Selbst der Raps wird normalerweise (nicht immer) vor dem Weizen abgeerntet.
Siehst du, überlesen. Hatte ich die Szene am Anfang zuerst anders verortet, von der Jahreszeit her, bei uns kommt der Raps im August ab (erinnere ich mich korrekt, denn da war die letzte Dürckjagd) der Mais etwas später. Das mit dem Weizen weiß ich nicht, bei uns kam der letztes Jahr aber als erstes ab, ich meine sogar vor dem Sommer, das weiß ich noch genau, weil ich eine Sau im Weizen erlegt habe. @Morphin könnte helfen, da er ja Landwirt ist.
Du schreibst, du gehst selbst jagen. Ich hoffe, du benutzt bleifreie Munition? Ist auf alle Fälle gesünder ;-) Und wird wohl bald eh verpflichtend.
Ja, ich jage selbst. Ich führe mehrere Waffen, bei meiner meistgebrauchten Mauser verwende ich bleifreie Munition, bei meinem Drilling nicht. Für wen gesünder? Für das Tier? Oder meinst du wegen dem Verzehr nachher? Oder für die Umwelt? In NRW ist bleifreie Munition bereits verpflichtend (ich jage aber in der Pfalz, deswegen brauche ich die Reste noch auf.)

Ja, guter Kommentar, bringt noch mal was zum Nachdenken. Danke dir für deine Zeit!

Gruss, Jimmy

 

Mahlzeit,

das Abernten der Frucht ist von einigen Faktoren abhängig.
1. Welche Frucht ist es? (Bspw. Wintergerste oder Sommergerste)
2. Wann wurde die Frucht gesät (nasses Frühjahr?)
3. Wo wurde gesät? (auf der Schwäbischen Alb im kalten Tal, im Rheintal auf den Lößböden oder in den schweren Moorböden im Emsland?
4. Wie ist das Großklima/wie ist das Mikroklima?

Raps kann je nach obigen Bedingungen von Mitte Juli bis Mitte August geerntet werden. Kölner Bucht ist früh, Siegerland sicherlich zwei Wochen später. Rheintal früh, Alb kann locker 3 Wochen später sein. Roggen und Weizen sind die letzten Brotgetreide, können bis Ende August gedroschen werden. Das erste Getreide ist die "Biergerste" (Sommergerste). Kann im oberen Rheintal schon Anfang Juli beginnen. Dann werden die Mähdrescher gesäubert und die Wintergerste kommt. Danach hat man ein wenig Zeit die Gerstenfelder zu grubbern und das Stroh einzuarbeiten. Die Bauern mit Hafer sind ein wenig in Zeitdruck, weil der Hafer meist mit Roggen und Gerste die Reife erreicht.

Manchmal muss es auch ziemlich schnell gehen. Eine Woche Regen in der Milchreife (zerquetscht man das Korn mit dem Fingernagel, tritt milchige Flüssigkeit aus) kann die Ernte um anderthalb, zwei Wochen verzögern. Das Korn muss hart sein und günstigenfalls 14% Feuchte aufweisen am Abend vorher. Dann geht es los und möglichst in einem Rutsch durch. Je nach Fläche arbeitet man da schon mal 2 Tage durch.

Als letztes Getreide kommt der Mais. Zuckermais ist eher selten, kommt aber hier unten im Rheintal immer mehr (wird nun mal wärmer). Das meiste ist Silagemais. Vom Feld ins Fahrsilo. Und wenn man meint, es herrscht nun Ruhe, kommt die dreckigste Angelegenheit von allen: die Zuckerrüben.

Sodele.
Morphin

 

Hallo @jimmysalaryman,
Ich noch mal kurz.

Ja, ich jage selbst. Ich führe mehrere Waffen, bei meiner meistgebrauchten Mauser verwende ich bleifreie Munition, bei meinem Drilling nicht. Für wen gesünder? Für das Tier? Oder meinst du wegen dem Verzehr nachher? Oder für die Umwelt? In NRW ist bleifreie Munition bereits verpflichtend (ich jage aber in der Pfalz, deswegen brauche ich die Reste noch auf.)
Gesünder für dich. Für Leute, die viel Wild essen, das mit Bleimunition erlegt wurde (Jäger und deren Familien vor allem), kann das schon gesundheitlich bedenklich werden. Und für die Umwelt ist es natürlich auch besser, bleifrei unterwegs zu sein. Für das Tier wahrscheinlich nicht wegen der besseren Tötungswirkung von Bleimunition im Vergleich zu anderen Geschossen.

Hm, vielleicht sollte ich mir dann mal endlich "Alte Erde" besorgen, wenn da auch so schön "gefachsimpelt" wird...

Beste Grüße,
Fraser

 

das Abernten der Frucht ist von einigen Faktoren abhängig.
1. Welche Frucht ist es? (Bspw. Wintergerste oder Sommergerste)
2. Wann wurde die Frucht gesät (nasses Frühjahr?)
3. Wo wurde gesät? (auf der Schwäbischen Alb im kalten Tal, im Rheintal auf den Lößböden oder in den schweren Moorböden im Emsland?
4. Wie ist das Großklima/wie ist das Mikroklima?

Raps kann je nach obigen Bedingungen von Mitte Juli bis Mitte August geerntet werden. Kölner Bucht ist früh, Siegerland sicherlich zwei Wochen später. Rheintal früh, Alb kann locker 3 Wochen später sein. Roggen und Weizen sind die letzten Brotgetreide, können bis Ende August gedroschen werden. Das erste Getreide ist die "Biergerste" (Sommergerste). Kann im oberen Rheintal schon Anfang Juli beginnen. Dann werden die Mähdrescher gesäubert und die Wintergerste kommt. Danach hat man ein wenig Zeit die Gerstenfelder zu grubbern und das Stroh einzuarbeiten. Die Bauern mit Hafer sind ein wenig in Zeitdruck, weil der Hafer meist mit Roggen und Gerste die Reife erreicht.

Manchmal muss es auch ziemlich schnell gehen. Eine Woche Regen in der Milchreife (zerquetscht man das Korn mit dem Fingernagel, tritt milchige Flüssigkeit aus) kann die Ernte um anderthalb, zwei Wochen verzögern. Das Korn muss hart sein und günstigenfalls 14% Feuchte aufweisen am Abend vorher. Dann geht es los und möglichst in einem Rutsch durch. Je nach Fläche arbeitet man da schon mal 2 Tage durch.

Als letztes Getreide kommt der Mais. Zuckermais ist eher selten, kommt aber hier unten im Rheintal immer mehr (wird nun mal wärmer). Das meiste ist Silagemais. Vom Feld ins Fahrsilo. Und wenn man meint, es herrscht nun Ruhe, kommt die dreckigste Angelegenheit von allen: die Zuckerrüben.

Sodele.
Morphin

Hallo @Morphin,
Gute Zusammenstellung, danke.
Noch die Frage von mir: gibt es denn in der Gegend tatsächlich Anbau von Lupinen? Dachte, das ist eher was für die sandigen Böden hier bei uns im Nordwesten.
Beste Grüße,
Fraser

 

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