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Die Gehirnschuld
Sieh nicht nach oben. Auf keinen Fall schau in den Himmel!
Und als er es doch tat, da stellte sich die Götterdämmerung als Triaden explodierender Regenbögen heraus, deren Farbfontänen gewaltig auf die Erde peitschten, um alles und jeden zu verdorren.
Elias begriff nicht, weshalb etwas so Wunderschönes seiner vor ihm laufenden Mutter die Beine abriss und das Fleisch verkohlte.
"Es geht Ihnen schlecht, nicht wahr?"
Der Mann war ein stiller Schatten im Winkel seiner geröteten Augen. Mal links, dann wieder rechts. Kristallklar klang seine Stimme, als wäre Elias ein roher Diamant und die peinliche Befragung bloß der letzte Schliff, um einen guten Bürger aus ihm zu formen.
"Sehr ... schlecht."
Jetzt befand der Schatten sich wieder rechts. Elias wagte nicht, seinen Kopf zu drehen.
"Nun, es wird schlimmer. Da kann man nichts machen. Glauben Sie mir, ich habe es weißgott versucht, aber ohne die Pain ist Menschen wie Ihnen leider nicht zu helfen."
Der Schatten löste sich auf.
"Nochmal aufdrehen!"
Und als der elektrische Strom Elias Schläfen durchfräste, als treffe eine Säge auf Holz, verlor er unter herzerweichendem Schreien sein Bewusstsein.
Manchmal denke ich, es könnte anders sein.
Du hast es aber doch gesehen.
Ja, habe ich.
Dann hör auf mich. Anders geht nicht.
Wer bist du eigentlich?
Dein Verstand, vielleicht.
Wir sprechen nicht wirklich miteinander.
Nein, da hast du Recht.
Was willst du von mir?
Du hast sie gesehen, die Götterdämmerung?
Ja, aber ich begreife sie nicht. Was war die Götterdämmerung?
Riesige Sternenschiffe, mein Freund. Sie feuerten vom Weltraum aus.
Weshalb habe ich überlebt?
Du hast dich in dieser Höhle versteckt. Kannst du dich nicht erinnern?
Ich ... keine Ahnung.
Mach dir keine Sorgen. Bald wirst du dich erinnern.
"Wie geht es Ihnen heute?"
Diesesmal gab es keinen Schatten. Der Mann stand direkt vor seinen Augen und Elias Pupillen weiteten sich vor Entsetzen.
"Ich weiß, scheußlicher Anblick, sein eigenes Antlitz zu sehen, nicht wahr?"
Das konnte unmöglich ein Spiegel sein. Es war ...
"Das ... bin ... ich?"
"Ja, noch immer. Obwohl wir Sie wohl ziemlich übel zugerichtet haben. Tut mir Leid. Also, mein Freund, jetzt, da alles aus ist: Was können Sie mir über die Götterdämmerung erzählen?"
Elias schluchzte heftig.
"Aber ich weiß doch nichts."
"Das ist leider tragisch!" - Der klare Stimmkristall wurde von einem wütenden Schmettern gesprengt, das in den Ohren schmerzte.
"Sehr, sehr tragisch, mein Freund, denn es gibt kaum noch Stellen, an denen du Schmerz empfinden könntest. Reicht es dir nicht, wenn ..."
"Weshalb sietzen Sie mich denn nicht ..."
"Halt dein Maul! Soll ich dir was sagen? Du bist fertig mit der Welt. Am Ende."
Eine Hand packte seinen Nacken. Ein Wirbel knackte.
"Schau in den Spiegel! Genauso, wie du in den Himmel gesehen hast, und sag mir, was du erkennst!"
Ich glaube, die Erinnerung kehrt langsam zurück.
Na, siehst du. Alles halb so schlimm.
Doch ich habe so viele Fragen.
Denk an deine Mutter. Ihr hat es beide Beine abgerissen.
Aber daran trug doch die Götterdämmerung Schuld.
Meinst du? Sind also immer die anderen Schuld?
Das nicht, aber ...
Die Sternenschiffe sind wegen dir aufgetaucht, weil du in den Himmel gesehen hast.
Aber ... ich wollte das doch nicht.
Jetzt weine nicht. Es gibt ja eine Möglichkeit, es wieder gut zu machen.
Doch wie?
Die Kommandozentrale der Befehlshaber. Sie tragen eine Mitschuld. Du musst sie auslöschen.
Wie komme ich zu ihnen?
Ganz einfach: Verlasse diese Höhle.
"Gute Nachrichten. Gleich wird es Ihnen wieder besser gehen."
Elias versuchte sich erfolglos auf dem Stuhl auszustrecken.
"Sie sietzen mich wieder. Allein dies ist schon so schön."
Der Schatten sprang von einer Seite zur anderen.
"Aber es kommt noch besser. Wir haben Ihr Äußeres vollkommen regenerieren können."
"Das ist soooo ... schöööön."
"Machen wir es doch mit einem Countdown."
"Ja, das würde mich freuen."
"Also, ich zähle jetzt von zehn rückwärts, und Sie sind wieder ganz der Alte. Zehn."
Elias Angst begann zu weichen.
"Neun."
Er konnte es ...
"Acht."
... wieder gutmachen.
"Sieben."
Die Stimme war unheimlich ...
"Sechs."
... kristallklar.
"Fünf."
Sie hatten ihm die nötige ...
"Vier."
... Waffe gegeben.
"Drei."
Alles würde jetzt wieder ...
"Zwei."
... ins Reine kommen.
"Eins.
Sie sind wach."
***
Er hatte einen grauenvollen Traum gehabt und fühlte sich wie gerädert. Die Menschenmassen um ihn herum machten Elias nervös.
Selbst der Fahrstuhl war voller Leute. Kaum auszuhalten.
Plötzlich bekam er eine undefinierbare Angst, seiner Mutter könnte etwas geschehen sein. Sie war eine tiefreligiöse Frau. Beide Gedanken standen in keinem Zusammenhang. Wie kam er auf solchen Unfug?
Im Büro gab es dermaßen viel zu tun. Elias ging es bereits scheußlich, wenn er nur daran dachte. Und dann dieser Termin.
"Ihr Gast wäre jetzt da."
Elias zögerte, ehe er die Gegensprechanlage betätigte.
"Nun, er möchte doch bitte gerne hereinkommen."
In seinem Hirn arbeitete es heftigst. Gast, Gast, Gast ... Gast! Da war es wieder. Vor der Sitzung noch einige private Worte wechseln. Ganz unoffiziell natürlich. Russland und sein Machtgehabe und ... warum fiel ihm das Denken so schwer?
"Schön, dass es ohne Reibungen geklappt hat. Kommen Sie doch bitte ... möchten Sie etwas trinken?"
Elias öffnete seinen Aktenkoffer.
"Ich habe dieses Brausepulver. Ich hoffe, Sie sind erfreut. Ich habe es bei einem kleinen Händler gekauft, der die Spezialitäten Ihres Landes ... man will ja auch nicht immer bloß Kaffee ... ich kann die Schrift zwar nicht entziffern, aber Sie können mir höchstwahrscheinlich sagen, ob ich eine gute Wahl ... na, dann ist die Überraschung ja gelungen."
Elias ging zu dem Sodaspender und warf einen flüchtigen Blick nach draußen.
Seltsam ... der Himmel sah so bunt aus.
"Ich lasse nur noch etwas Wasser ins Glas, Herr Minister, und ..."
Eine gewaltige Explosion erschütterte das Gebäude der vereinten Nationen.