Die Gemeinschaftsaufgabe
Auf einmal wachte Jonas auf. Ein lautes Würgen war im Hausflur zu hören. Die Betonwände des Plattenbaus ließen jeden Laut durch. „Was ist denn das für ein Lärm? Ihr spinnt wohl! Mitten in der Nacht.“, schrie eine männliche Stimme von oben durch den Flur. Dann Stille. Jonas grapschte auf seinem Nachttisch herum, um das Licht seines Weckers einzuschalten. Halb drei. Draußen war es dunkel. Nur der Mond erhellte den Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes.
Der saure Geruch war am nächsten Morgen überall im ganzen Flur wahrnehmbar. Doch Jonas bemühte sich nur noch rechtzeitig zur Vorlesung zu kommen. Er will sich ja irgendwann einmal Bachelor of Science nennen dürfen. Aber als er die Pfütze mitten im Eingangsbereich vor den Briefkästen liegen sah, packte ihn schließlich der Ekel. Elegant, ja fast akrobatisch balancierte er seine Füße um diese heterogene Ansammlung von Flüssigkeiten und Stückchen, die bestimmt einmal eine leckere Mahlzeit waren. Schlammige Schuhabdrücke zeugten davon, dass schon viele andere vor ihm versucht haben, das Gleiche zu tun. Im Schlamm waren einige durchsichtige Kristalle zu erkennen – vielleicht zerbrochenes und dann zertretenes Glas.
An Nachmittag hatte sich die Situation immer noch nicht sehr viel verändert. Ein aufmerksamer Mieter hatte einen Zettel hinter der Glastür befestigt, auf dem Stand: „Der Verursacher möge dies wieder entfernen! Hochachtungsvoll Ihr Mitmieter.“ Eine alte Frau stieg mühselig die Treppe hinauf. Sie hatte den Kellereingang benutzt um dem Halbverdauten nicht zu begegnen. Bereitwillig trug Jonas ihre Beutel in die zweite Etage und wurde mit einem misstrauischen Blick gewürdigt. Er und sein Freund wurden schon seit der Gründung der Wohngemeinschaft mit kritischen Augen betrachtet. Besonders von ihren Nachbarn. Ein Glück, dass jeder am Wochenende zurück zur Familie fuhr und somit auch die „potentielle Lärmquelle“, wie sie hinter ihrem Rücken oft bezeichnet wurden, weg war.
Doch als Jonas am nächsten Montag wiederkam, wollte er am liebsten wieder umkehren. Der Zettel hing immer noch und auch der Fleck war nicht verschwunden. Also, nahm er den Hintereingang. Er hätte nicht kommen müssen, denn an diesem Tag begannen die Semesterferien, doch ein Fußballspiel der Regionalmannschaft veranlasste ihn zur Wiederanreise.
Kaum war die Wohnungstür ins Schloss gefallen, hörte Jonas wie Stimmen die Treppe hinauf kamen. „... das war bestimmt diese Kiffer-WG.“, sagte die Stimme eines Greises. Jonas wurde neugierig und schielte durch den Spion in den Hausflur. Es war der von oben. Neben ihm gingen eine Frau und ihr Freund, beide Ende dreißig und elegant gekleidet. „Ja, und mein Freund muss all dies ertragen, wenn er mich besuchen kommt.“, klagte die Frau. Der Mann schwieg.
Jonas spürte jetzt, wie der Geruch in die Wohnung eingedrungen war und öffnete alle Fenster. Eine frische Brise drückte sofort neue Luft ins Zimmer. Als wenn dies das nötige Dope war, griff Jonas nach einem Lappen und einem Eimer, ließ ihn mit Wasser und Allzweckreiniger volllaufen und ging hinunter zur Pfütze. Obwohl der Flur leer war, fühlte er sich beobachtet. Trotz allen Ekels war der Fleck bald im Eimer und auch die Fußspuren waren beseitigt. Doch bevor Jonas die Sachen zusammenpacken konnte, öffnete sich die erste Wohnungstür im Erdgeschoss. „Na, was haben wir denn da!“ Der Blick des Mannes, der sich in der Tür aufbaute, glich dem eines Kojoten, der seine Mahlzeit war. Nach weiteren Worten, öffneten sich weitere Türen. Als wenn die Tat ein Schuldgeständnis war, freute sich jemand: „Endlich ist der Täter gefunden!“ Jonas schloss die Ohren und packte alles zusammen. Die hungrigen Blicke verschlungen alles, was er tat.
Auf dem Weg zur Wohnung traf er wieder den Greis mit der Frau und ihrem Freund. Erst jetzt fiel Jonas auf, dass das Glas der Armbanduhr des Mannes zerbrochen war; einzelne Scherben fehlten. „Musst du nicht in der Uni sein?“, fragte der Greis höflich. Er wusste nicht das Semesterferien waren. Woher auch? Was wussten die Leute in diesem Haus schon voneinander? Obwohl die Wände doch jedes Wort durchließen.