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Die Geschichte eines Schlafs
Liebenswürdigkeiten
Es ist Nacht. Ich weiß nicht wie spät, aber ich habe schon geschlafen, bin auch noch nicht richtig wach und warte auf den Traum, der eben noch so nah war, dass ich ihn fast anfassen konnte. Es ist unsinnig, jetzt aufzustehen, mitten in der Nacht. Ich sehe es ein. Ich halte meine Augen fest verschlossen und starre von innen auf die flirrenden Lider. Die winzigen, nächtlichen Geräusche nehmen in der Stille monströse Ausmaße an und die Anstrengung trotzdem schlafen zu wollen, macht mich endgültig wach.
Nebenan höre ich sie schnarchen, will sie nicht wecken indem ich an den Kühlschrank gehe und mir eine Scheibe Schinken nehme. Mit Schinkenduft im Hals einschlafen, das wäre schon schön, aber ich will sie nicht wecken und sie werden so leicht wach. In ihrem Alter hat man einen federleichten Schlaf. Es ist das Alter ohne Hunger, Schlaf und Bewegung, das wie ein Warten aussieht. Nur nachmittags, wenn sie auf dem Sofa über einer Illustrierten einnicken, kriegt man sie kaum wach. Man kann mehrmals an ihnen vorbeigehen, mit Schuhen, oder auch die quietschende Schranktür öffnen. Man kann sogar direkt neben ihnen stehen und über eine Szene im Fernsehen lachen. Nachmittags macht es ihnen nichts aus. Aber nachts hat sich eine Furcht eingeschlichen. Sie kam mit den ersten Krankheiten, die sich nicht heilen ließen, mit den Falten und der dauernden Müdigkeit. Nachts ist es zu still, als dass sich die Angst ignorieren ließe und sie können nicht anders, als in dieser Stille auf das Ende zu lauschen.
Sie haben mich spät gezeugt, mit sechsunddreißig. Heute wäre das normal, aber damals, als sie mich bekamen, war es die Ausnahme. Es war das Einzige, in dem sie Vorreiter waren und sicher nicht mit Absicht. Sie reden nicht davon und manchmal kommt es mir vor, als hätten sie gar keine Vergangenheit, als wären sie nur zum Essenkochen und wegen der leeren Felder im Kreuzworträtsel da. Aber nebenbei achten sie noch auf mich und ich beginne schon auf sie zu achten.
Plötzlich fällt mir ein, warum ich aufgewacht bin. Eine alte Erinnerung, aber jetzt bin ich erwachsen und es ist unnötig. Trotzdem bin ich wach, da ist nichts zu machen. Hier ist auch kein Traum, in den ich mich einlullen könnte. Ich denke nur daran, wie Vater gleich aufstehen wird, um auf die Toilette zu gehen, die meinem Zimmer gegenüber liegt.
Es ist ganz deutlich und kommt mir dennoch unwirklich vor. Das Geräusch der Schiebetür und der träge Atem, der sich nähert und der an meiner Zimmertür verklingt, nur für einen Moment, und dann wieder eine Schiebetür, diesmal meine, und ich sehe seinen groben Schatten da stehen, obwohl er kein Licht gemacht hat. Sein Atem ist jetzt ruhiger, will mich nicht wecken, ist vorsichtig, genauso vorsichtig, wie die Schritte auf meinem Teppich, die immer näher kommen. Ich spüre sein Gesicht über mir und kann hinter meinen Schlaf vortäuschenden Lidern ahnen, wie er prüfend über mir steht, mein Vater, der mich nicht wecken will und schaut, ob er leise genug war. Ein zufriedenes Atmen ist es jetzt, froh, dass ich so schön schlafe, dabei bin ich wach, wie ich immer wache, wenn er auf die Toilette will, ob er nun in mein Zimmer kommt oder nicht.
Er hat feste Zeiten, immer gegen drei und ich wache auf, kurz bevor er geht. So sind wir eingespielt und ich verpasse es selten. Nur, dass ich es heute noch weiß, wundert mich. In meinem Zuhause, das nicht mehr hier ist, das jetzt vierhundert Kilometer entfernt liegt, schlafe ich durch. Es gibt dort niemanden, der nachts aufsteht und an meinem Zimmer vorbeigeht. Es ist erstaunlich, dass ich immer noch eingespielt bin, nach all den Jahren des Durchschlafens.
Ich spüre ihn noch im Raum, aber er sieht mich nicht mehr an, so kann ich meine Augen vorsichtig öffnen und gucken, was er macht. Sein Rücken beugt sich über meinen alten Schreibtisch, der vollgeklebt ist mit kitschigen Aufklebern, deren Abbildungen ich gar nicht sonderlich mochte, als Kind, die ich nur hingeklebt hatte, weil sie zum Hinkleben da waren. Ich schließe die Augen lieber wieder und lausche. Das muss wohl auch eine Art Vorahnung sein, denn ich höre tatsächlich ein Geräusch, ein Plätschern von dort, wo mein Vater steht, wo die Aufkleber sind und ich früher meine Hausaufgaben gemacht hatte. Jetzt bin ich ganz wach. Das Plätschern wird heftiger, ein Rauschen, dann wieder Tröpfeln, noch ein kurzes erzwungenes Rauschen und dann nichts mehr. Ich richte mich im Bett auf, die Augen nun weit offen und ein Klopfen an den Schläfen.
Was!, denke ich und sage es auch laut, so dass mein Vater sich nach mir umdreht und ich seinen schlaffen, grauen Schwanz aus der Hose hängen sehe. Sein tröstendes Gesicht kommt im Dunkel auf mich zu und seine Hand streicht mir übers Gesicht. Sie riecht nach Urin, nach abgestandenem Urin. „Was!“, sage ich wieder und er streicht wieder über mein Gesicht und sagt „Schlaf ruhig weiter“, als wenn nichts gewesen wäre, aber hat er nicht eben gerade ..., hat er nicht auf meinen Schreibtisch gepinkelt? Und das sage ich dann auch laut, aber er hört es nicht und ich zweifle schon daran, dass ich es überhaupt gesagt habe und mit einer leisen Hoffnung überlege ich, dass er womöglich auch nicht auf meinen Schreibtisch gepinkelt hat, doch dann höre ich die Tropfen, die hinter ihm von der Tischkante auf den Stuhl fallen. Es ist ja wahr! Er hat es getan und ich suche nach Gründen, oder Ausreden, wie so etwas passieren konnte. „Mach dir keine Gedanken“, sagt er, der irgendwie mein Grübeln erahnt. „Morgen ist es wieder trocken.“ Ich sehe ihn erschrocken an und sage flüsternd, dass es stinken wird. Vater schweigt einen Moment, als suche er die richtigen Worte. Dann setzt er sich auf die Bettkante und antwortet nachdenklich: „Das glaube ich nicht. Ich habe mir extra Mühe gegeben.“
Nun weiß ich nichts mehr, wünschte mir nur, ich wäre doch aufgestanden, um mir eine Scheibe Schinken zu holen, aber ich bin nicht sicher, ob das etwas geändert hätte. Ich sollte etwas sagen, irgendwie protestieren und ihn auffordern, die Schweinerei wegzuwischen, aber er sitzt so selig an meiner Seite und sieht mich besorgt an, dass ich nichts sagen kann und nur entsetzt in sein Gesicht starre. „Schlaf jetzt weiter“, sagt er bestimmend und richtet sich schon auf. „Aber wer macht das jetzt weg!“, rufe ich dann doch noch hinterher, laut und deutlich, damit es möglichst real klingt und er es nicht überhören kann.
„Wegmachen?“, fragt er und dreht sich zu mir um. „Warum wegmachen?“ Er sieht mich ehrlich erstaunt an und erklärt mir, dass wir es natürlich liegen lassen, damit es trocknet. „Nein“, sage ich und dann nichts mehr, weil ich nicht verstehe. Vater beugt sich herunter und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, auch seine Lippen riechen danach. „Mach jetzt kein Theater, sonst wird Mutter noch wach.“ Ich, Theater? Er, Er, Er hat in mein Zimmer gepisst. Aber das sage ich nicht, nur wieder nein und dass ich nicht einschlafen werde, solange es noch da ist und tropft.
Wir reden von ES und so ist es leichter, denn ich kann nicht anders über die Pisse meines Vaters reden. Er antwortet nicht, sieht mich nur bedauernd an und ich bekomme ein Gefühl, als würde er gleich ein Schlaflied für mich singen, dabei hat er noch nie gesungen, zumindest kann ich mich an so was nicht erinnern. „Vater, ich bin erwachsen“, schluchze ich und im selben Augenblick fällt mir ein, dass es auch für ein Kind unentschuldbar ist. Mein Vater nickt und sagt: „Ich weiß, mein Kind.“ Dann steigen mir Verzweiflungstränen in die Augen, die ich aber nicht zeigen will, obwohl ich sicher bin, dass er sie ohnehin in der Dunkelheit nicht sehen kann. Vielleicht brauche ich nur das Licht anschalten und alles wäre wieder gut. Ich stemme die Arme auf und will hoch, aber er hält mich zurück, drückt mich wieder ins Kissen und summt nun tatsächlich so was wie ein Lied. Ich starre ungläubig in sein Gesicht und denke: Vielleicht ist es jemand anderes, gar nicht mein Vater, sondern ..., ja wer, wer sollte es sein?
Wieder sage ich „Ich bin erwachsen“ und er nickt. Nickt und summt und wartet, dass ich einschlafe und ich frage mich, ob er mir eine Scheibe Schinken aus der Küche holen würde. Ich will mir den Geruch von diesem Schinken vorstellen, will nicht mehr dieses Andere. Ich lausche auf sein Summen und hoffe, dass, wenn ich mache was er verlangt, alles ungeschehen sein wird. Es kostet viel Anstrengung nicht an das Andere zu denken und sich ganz dem Summen hinzugeben und schließlich muss ich vor lauter Anstrengung wohl eingeschlafen sein und immernoch mit dem Summen im Ohr wache ich auf. Da ist auch wieder die Schiebetür, die vorsichtig aufgeht. Es ist hell und meine Augen müssen sich erst dran gewöhnen.
Da sind die wohligweichen Umrisse meiner Mutter, die mir in ihrer liebevollen Fürsorge das Frühstück ans Bett bringt. Sie ist überzeugt, dass ich so erschöpft von meinem eigenen Leben bin, dass ich von vorn bis hinten bedient werden muss. Der Duft von Brötchen und zerlaufener Butter steigt mir in die Nase und ich sehe auch eins mit Schinken. Meine Mutter gibt mir einen Kuss und rückt den Stuhl neben mein Bett und ich schreie: „Nein! Nicht auf den Stuhl!“ Mutter lässt ihn verschreckt los und sieht von mir zu dem Stuhl und fragt schließlich verwirrt, was denn los sei, der Stuhl wäre doch ganz in Ordnung.
„Der ist nicht in Ordnung“, antworte ich. Sie sieht sich den Stuhl näher an, skeptisch, und ruckelt an den Stuhlbeinen, kann aber nichts finden. Es muss getrocknet sein, denke ich.
„Was soll damit nicht in Ordnung sein?“, fragt mich meine Mutter und ich kann es ihr nicht sagen. Ich will auf keinen Fall mein Frühstück auf diesem Stuhl haben und ich sage es ihr, aber sie fängt nur wieder an zu schimpfen, von Krümeln und Resten und frischer Bettwäsche und Regeln, damit sie nicht soviel Arbeit hat und ihre ganze Fürsorge verschwindet dahinter. Schließlich nimmt sie den Teller mit den belegten Brötchen wieder mit. Ich kann es ihr nicht erklären. Ich kann es niemandem erklären und ich denke: Es sind nur vierhundert Kilometer und mit dem Zug bin ich in fünf Stunden da.