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Die Geschichte vom kleinen Mann, der sich ganz gross fühlte
Es war einmal ein kleiner Mann - heute würde man ihn als Zwerg bezeichnen - der in einer Art Paralleldimension lebte und dort, für unsere Verhältnisse, ein äusserst zurückgezogenes und einsames Leben führte. Der kleine Mann selbst aber sah dies ganz anders. Unsere Welt war damals noch unterentwickelt – wir hatten weder Computer noch Fernseher geschweige denn Radio – während diese Paralleldimension, in der eben auch der kleine Mann seine Wege beschreitete, schon um zig Tausend Jahre gegenüber der unseren im Vorsprung war. So war es nicht verwunderlich, dass unser kleiner Mann, unser Zwerg, neben einer HiFi-Stereoanlage und einen Plasma-Fernseher auch einen leistungsstarken Computer hatte, vor dem er die meiste Zeit seines Lebens fristete. Er fühlte sich wohl in seinem Leben, ja gar bedeutungsvoll, obwohl er auf der Strasse kaum Beachtung fand; und auch sein Freundeskreis war nicht gross, zählte gar nur drei oder vier Personen.
Doch die Anerkennung, die er für sich brauchte, fand er vor dem Computer. In einem Internet, das tausend Mal übersichtlicher als unseres war, hatte er sich in einem Forum für Geschichteschreiber angemeldet, und er war dort akzeptiert und anerkannt. Sein Tagesziel bestand nicht darin, viel Geld zu verdienen – dies brauchte er nicht, er hatte genügend geerbt – sondern eine Geschichte zu schreiben, die alle anderen bisherigen übertrumpften. Ausserdem kritisierte er gerne andere Beiträge. Nicht, dass alle anderen Beiträge schlecht waren, im Gegenteil: Oft waren sie genau so gut wie seine oder noch besser, teilweise kopierte er einen Teil einer anderen Geschichte in die eigene, doch er wollte es sich vor sich und Gott und der Welt und ganz sicher nicht vor den anderen Teilnehmer des Forums nicht eingestehen, dass jemand besser war als er. So verschlechterte sich seinen Ruf mit jeder Kritik genau so, wie sein Ruf stieg, wenn er wieder eine Geschichte auf die Internetseite schrieb.
Einmal, da trieb es der kleine Mann zu weit: Er kritisierte wieder eine Geschichte, die zweifelsohne die beste war, die er je gelesen hatte. Doch wie immer, wenn er eine bessere Geschichte las, stieg in ihm die Wut und der Neid auf, und er mokierte sich über dies und jenes an der Geschichte, und in diesem Falle kritisierte er unter der Gürtellinie, zusammenhangslos und zum Teil auch sinnlos. Alle anderen merkten dies. Sie diskutierten über ihn, wie sie dies schon oft über andere Missetäter getan hatten, und dieses Mal entschied die Mehrheit, er solle verbannt werden aus dieser Welt der virtuellen Geschichtsschreiberei, falls er nicht sofort mit diesen unlauteren Kritiken aufhören würde. Als er am Abend davon erfuhr, stieg in im Hass gegen alles und jeden, der im Zusammenhang mit seinem Verweis stand, auf, und er hämmerte zornig auf seine Tastatur ein, schrie den Flachbildschirm an und schmiss seine Infrarot-Maus im Zimmer herum. „Mit mir können DIE das nicht machen, mit MIR nicht!“, kreischte er hysterisch, während er die Maus vom Boden auflas um sie erneut gegen die Wand zu schleudern. Er schwor sich, noch in dieser Nacht eine Geschichte zu schreiben, die alle anderen in den Schatten stellen würde, die alles Bisherige übertrumpfen würde, die schlicht sensationell sein musste. Sein Eifer ging soweit, dass er, ohne auch nur ein Sekundchen Pause gemacht zu haben, überlegte, was er denn schreiben könne. Vieles kam ihm in den Sinn, das meiste verwarf er wieder, weil zu plump oder stupid, anderes, fand er, sei schon zu häufig verwendet worden. Er konnte sich noch so anstrengen, er konnte noch so überlegen und nachdenken, ihm kam nichts in den Sinn. Am Morgen, nach 8 Stunden des Denkens, war sein Kopf leer, sein Geist wie erschöpft.
„Über was soll ich denn schreiben???“, schrie er dann der aufgehenden Sonne entgegen, die gerade über den Sims seines Fensters lugte, dass er geöffnet hatte, um ein wenig frische Luft in seine Wohnung zu lassen. Doch die Sonne blieb stumm, antwortete ihm nicht, und so knallte er wutentbrannt das Fenster zu. Er lief im Zimmer auf und ab, auf und ab, schaute sich um, in der Hoffnung, irgendwo seine Muse zu finden, die ihn inspirierte, doch er fand nichts, ausser vergammelter Emmentaler Käse und ein wenig Saure Milch. Er war lange nicht einkaufen. Er hatte so oder so lange nichts mehr unternommen oder gemacht. Da fuhr ein Blitz durch sein denkendes Hirn, erhellte ihn. Er wusste, was er schrieb. Seine Memoiren. Die Geschichte seines Lebens. Nichts war besser als diese Thematik, nichts interessanter, als über den Sinn des eigenen Lebens zu grübeln. Er setzte sich an seinen Computer, die beschädigte Maus schmiss er in den Abfallkorb, arbeitete sich mit einstudierten Tastenkombinationen bis zu seinem Textprogramm vor und wollte beginnen zu schreiben. Die Überschrift „Das Leben eines kleinen Mannes ganz gross“ hatte er binnen weniger Minuten ausgetüftelt. Er überlegte, womit er denn anfangen konnte, und entschloss sich, mit seinem Lebenslauf zu beginnen, um dann philosophische und poetische Elemente in gewissen Passagen logisch einfliessen zu lassen. Ich bin genial! Der Beste! dachte er sich. Er dachte nach. Was wäre interessant genug, um in seine Memoiren erwähnt zu werden. Er arbeitete sich in seinen Gedanken vor. Nach 2 Stunden war er an seinem dreissigsten Geburtstag angekommen, der 5 Jahre zurücklag und den er vor dem Computer mit einem Stück Pizza und einer Dose Bier verbracht hatte. Auch die nächsten fünf Jahre, Revue passiert in etwa zwanzig Minuten, erbrachten nichts Spezielles, nichts Originelles, dass interessant genug gewesen wäre, um in seiner Geschichte erwähnt zu werden.
Seine Gedanken begannen sich auf einen Satz zu fixieren: Du hast nichts Interessantes getan, gelassen oder erfahren in deinem Leben. Du hast nichts erlebt. Du hast keine Frau, Freunde oder Verwandte. Du hast nichts. Du bist nichts. Immer und immer wieder repetierten sich diese Phrasen in seinem Kopf, seine Augen begannen sich zu verengen, seine Lippen pressten sich zusammen. DU HAST NICHTS UND BIST NICHTS! NICHTS! NICHTS! NICHTS! Sein Atem ging schwerer, seine Augen reflektierten sich in seinem Computerbildschirm, und er sah, wie sie in ihren Augenhöhlen aufgeregt in und her hupften. Sein Gesicht, hager und unrasiert, wurde blass, seine Hände verkrampften sich. NICHTS… Im Gegensatz zu all seinen Fantasien, die er hatte, dass er anerkannt und beliebt sei, wurde ihm beim Verfassen seiner eigenen Historik klar, dass er nichts war und nichts erreicht hatte. Diese Erkenntnis versetzten unseren kleinen Mann in eine Art Schockzustand: Er hatte sich über fünfunddreissig Jahre lang Illusionen gemacht, er sei mächtig, er sei gut, und vor allem: er sei jemand. Dabei war er niemals jemand und wird es wohl auch nie sein. Der kleine Mann stand auf einmal ruhig auf, ging zum Fenster und öffnete es. Er zog die frische Morgenluft ein, atmete sie wieder aus, schloss die Augen und genoss die ersten Strahlen, die von der Sonne abgesendet auf die Erdoberfläche prallten. Nichts… Er stieg auf den Fenstersims, bedächtig und langsam, mit verschlossenen Augen. Nicht mal im Internet findest du Anerkennung und Respekt… du bist NICHTS! Zentimeterweise ging er auf dem Fenstersims vorwärts bis seine Füsse die ins Leere traten und sich, reaktionsbedingt, zurückziehen wollten, doch er liess sie nicht gewähren. Er liess seinen Körper der Höhe von ca. achtzehn Meter die Oberhand und fiel. Er dachte nichts mehr, da er ja nichts war und nichts ist, und so spürte der kleine Mann den tödlichen Aufprall auch nicht. Nichts konnte ja nichts spüren.
Und auch wenn der kleine Mann den Aufprall überlebt hätte, hätte sich nichts geändert: Die anderen Menschen gingen um ihn herum, beachteten die Leiche und sahen auch nicht hin, denn auf dem Boden lag NICHTS.