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Die geschlossene Tür
Für uns Jungs gehörte es damals, Anfang der Siebziger, schon zu unserem Alltag, nackt durch den Garten zu springen und lachend zu versuchen, den eiskalten Fontänen der Rasensprenganlage auszuweichen.
Unsere Eltern waren der Freikörperkultur angetan, und daher war diese Tatsache nichts Außergewöhnliches. Bis zu jenem Tag, an dem wir Adam Krüger im Nachbargarten entdeckten.
Die Krügers waren vor nicht ganz einer Woche in das leerstehende Zechenhaus neben unserem gezogen, und es vergingen lediglich zwei Tage, bis mehrere Männer, die wir hier im Ort noch nie zuvor gesehen hatten, einen mannshohen Bretterzaun zwischen unseren Grundstücken errichteten.
Ich kann mich noch wie heute daran erinnern, wie Mama und Papa an der Tür zum Hinterhof gestanden und den Kopf geschüttelt hatten. Niemand von den Krügers stellte sich bei uns oder einem anderen in der Straße vor, kein nachbarschaftliches „Hallo!“, und erst recht keine Erklärung für diesen Zaun.
Das jetzige Krüger-Grundstück, mit seinem verwilderten Garten und den gewaltigen Tannen, hatte uns Kindern immer als Gelände für die schönsten Piraten- und Indianerspiele gedient, und somit war die Enttäuschung natürlich groß, als es hieß, es zöge jemand dort ein. Und als dann auch noch dieser Zaun entstand, da war es, als vertriebe uns jemand aus einem Land, das wir vor langer Zeit einmal erobert hatten.
Wir versuchten des Öfteren, eine Stelle im Holzzaun zu finden, durch die wir in den Krügergarten lugen konnten, aber das Ding war so dicht wie eine hermetisch abgeriegelte Betonmauer.
Dann kam der Tag, an dem Rudi einen kleinen Plastikkoffer mitbrachte, auf dem ein grinsender Kerl mit Latzhose und einer Säge in der einen, einen Schraubendreher in der anderen Hand, abgebildet war.
Wieder einmal war es hochsommerlich heiß, und das stetige Tackern des Rasensprengers bildete beinahe eine beruhigende Symphonie mit dem gelegentlichen Zirpen der Grashüpfer.
Peter und ich saßen, ausnahmsweise einmal mit einer Badehose bekleidet, auf einer grauen Decke vor einer Landschaft aus Matchboxautos, von denen ich einige erst zwei Tage zuvor zu meinem zehnten Geburtstag bekommen hatte.
Wir blickten auf, als Rudi mit hochrotem Kopf von seinem klapprigen Rad sprang und „Hey, Leute!“ schrie.
Ich hob die Brauen, als er mit diesem seltsamen Koffer mit dem grinsenden Kerl darauf zu uns rüberrannte und sein dicker Bauch unter dem viel zu kurzen T-Shirt hervorschwappte.
Wortlos schob er ein paar Matchboxautos beiseite, ließ sich auf die Decke fallen und legte den Koffer zwischen uns.
„Was is’ das denn?“, fragte Peter, während Rudi ihn schelmisch angrinste.
„Damit werden wir uns einen Spion bauen!“
Als keiner von uns etwas erwiderte, öffnete Rudi sein Präsent. Zum Vorschein kam ein Plastikfach mit einem Handbohrer, einer kleinen Säge, einem Schraubendreher und einem Zollstock.
„Wow!“, sagte ich. „Wo hast ’n das her?“
„Mein Alter hat’s vom Flohmarkt. Und, was sagt ihr?“
Weder Peter noch ich trauten uns, die Utensilien zu berühren. „Was hast du damit vor?“, wollte Peter nach einer Weile wissen.
„Hab ich doch gesagt, wir bauen ’nen Spion.“ Er deutete auf den weißen Holzzaun. „Woll’n doch mal sehen, was da so Geheimnisvolles 'hinter ist.“
Ich grinste über beide Ohren. „Rudi, du bist spitze“, sagte ich ehrfurchtsvoll.
Es dauerte scheinbar ewig, bis Rudi mit Hilfe des viel zu kleinen Handbohrers mehrere winzige Löcher in Kreisform von der Größe eines Colaflaschenbodens in eines der Holzbretter gebohrt hatte. Ich versuchte daraufhin die winzigen Zwischenräume mit dem Schraubendreher herauszubrechen, während mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.
Wir hatten uns für unsere Arbeit eine Stelle ausgesucht, die etwas abseits hinter einem dichten Rhododendronbusch gelegen war, um nicht Gefahr zu laufen, von Mutter durch das Küchenfenster entdeckt zu werden.
Endlich war es geschafft, und es gab den ersten Streit, wer von uns zuerst hindurchgucken durfte. Wir einigten uns auf Rudi, da er das entsprechende Werkzeug mitgebracht hatte, woraufhin ich mich ein wenig murrend zur Seite stellte, da es sich ja immerhin um den Garten meiner Eltern handelte.
„Und?“, fragte ich mit verschränkten Armen vor der Brust. „Was siehste?“
Zunächst antwortete nur Rudis Keuchen. Ich blickte auf seinen von der Sonne geröteten, dicken Nacken, während sein Körper einen undefinierbaren Geruch ausströmte, der mich irgendwie an Schlaf erinnerte.
„Da sitzt einer. Habt ihr gewusst, dass die ein Kind haben?“, fragte er leise ohne sich umzudrehen.
Meinen plötzlich ansteigenden Herzschlag konnte ich nur auf die innere Anspannung zurückführen, schließlich war es logisch, dass wir über kurz oder lang dort drüben jemanden gesehen hätten.
„Lass mich jetzt auch mal!“ Peter drängte Rudis massigen Körper zur Seite und bückte sich, um durch das Loch zu blicken. „Wow“, entfuhr es ihm. Er drehte sich um. „Mensch, Rudi, dagegen bist du ja ’ne Bohnenstange.“ Er lachte leise, blickte noch einmal hindurch. „Was für ’n Schlachtschiff.“
Endlich war ich an der Reihe. Ich versuchte, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen als ich mein Auge dicht an das Loch presste.
Unser ehemaliger Piratengarten wirkte um einiges gepflegter als ich ihn in Erinnerung hatte, der größte Teil der Bäume und Sträucher war verschwunden, das Gras frisch gemäht. Ein seltsam aussehender Vogel hockte auf einer Holzbank und in wenigen Metern Abstand davor ein nackter Junge.
Er saß mit dem Rücken zum Zaun auf der Wiese, und sein gewaltiger Leib wirkte wie ein Gebirge aus gebleichtem Fleisch.
Der im Gegensatz zum Körper klein wirkende Kopf war mit einem hellblonden Schopf bedeckt, der an die verschwitzten Locken eines Babys erinnerte. Auf dem Fleischberg zeigten sich bereits die ersten Auswirkungen der Sonnenstrahlen, die sich in einem sanften Rosa an einigen Stellen äußerten. Ich schluckte; noch nie zuvor hatte ich einen derart dicken Jungen gesehen.
„Was tut er?“ Rudis Frage ließ mich zusammenzucken.
Ja, was tat er eigentlich? Ich versuchte, genauer hinzusehen, doch waren da nur die sich sanft auf und ab bewegenden Fleischmassen seines Rückens. Die Hände selbst konnte ich nicht ausmachen.
„Was tut er?“, fragte Rudi erneut.
„Ich kann es nicht erkennen.“
Jetzt zuckte der Rücken und ein leises Kichern kroch zu uns herüber. Ich schreckte zurück und hockte mich neben den Zaun.
„Was war?“, keuchte Peter.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er hat gelacht.“
Rudi und Peter starrten mich fragend an. „Na und?“
Ich versuchte zu lächeln, als mir die Peinlichkeit meiner Überreaktion bewusst wurde. Gerade wollte ich erneut durchblicken, als Peter bereits sein Gesicht abschirmte.
„Scheiße“, murmelte er. „Der Fettsack ist weg.“
Jetzt drängte ich mich ans Loch und tatsächlich. Da, wo noch vor Sekunden ein nackter Junge gigantischen Ausmaßes hockte, war nur noch das platt gesessene Gras zu erkennen. Ich ließ den Blick schweifen, doch konnte ich durch den eingeschränkten Winkel lediglich einen Teil des Gartens ausmachen. Und da war er nicht. Der Vogel, der auf der Bank gesessen hatte, war verschwunden, und nur noch das rhythmische Tackern des Rasensprengers hinter meinem Rücken war zu hören.
Ich wollte mich gerade wieder umdrehen, als etwas in meinen Augen blitzte. Irgendetwas glänzte auf dem platten Gras in der Sonne.
Ich versuchte zu erkennen, um was es sich handelte, doch je nach Blickwinkel war es entweder verschwunden oder so hell, dass es in den Augen schmerzte.
„Da ist was auf der Wiese“, sagte ich, als ich mich umdrehte.
Rudi schob sich vor. „Sieht aus wie Brei und noch was anderes, das glänzt“, sagte er nach einer Weile.
Peter sah mich belustigt an. „Brei?“
„Ja, irgendwas Flüssiges.“ Er drehte sich zu uns um. „Könnte auch Blut sein.“
Und genau in diesem Moment manifestierte sich ein Gedanke in mir: Wir mussten da rüber!
* * *
„Bist du bescheuert?“ Peter schüttelte den Kopf. „Was, wenn uns einer erwischt.“
„Ja, zum Beispiel der Fettsack“, mischte sich Rudi ein und zog das T-Shirt über seinen dicken Bauch.
„Wir warten einfach, bis die Krügers weg sind. Irgendwann müssen sie ja mal wegfahren.“
„Vielleicht sind sie ja auch noch weg“, rief Rudi aufgeregt. „Als ich vorhin kam, war das Auto nicht da.“
Wir überprüften Rudis Aussage, und tatsächlich stand der rote VW-Käfer der Krügers nicht in der Einfahrt.
„Was ist mit dem Dicken?“, fragte Rudi.
„Wenn er kommt, hauen wir einfach ab“, sagte ich. „Bis der seine Massen in Bewegung gesetzt hat, sind wir längst wieder raus.“
Peter lachte und boxte Rudi auf den Oberarm.
„Arschloch“, sagte dieser.
„Los, kommt. Ich will wissen, was da auf dem Gras ist.“
Peter sah mich an. „Was, wenn sie wiederkommen?“
„Hm …“ Er hatte Recht. Ich überlegte kurz. „Rudi, du bleibst hier. Und wenn du den Wagen die Straße raufkommen siehst, pfeifst du zweimal.“
„Ich will aber auch da rein.“
„Willst du etwa, dass sie uns alle erwischen?“
„Nee.“
„Na also.“ Ich schlug Peter auf die Schulter, und wir gingen durch das kleine Gartentor, während Rudi hinter unserem Rücken schmollte.
Der Weg führte am Haus vorbei in Richtung Garten, und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es hier kälter war, als noch vor dem Tor.
„Scheiße, ist das kalt hier“, sagte Peter wie zur Bestätigung.
Kurz darauf hatten wir das Ende des Hauses erreicht. Der Garten lag direkt vor uns, und vorsichtig sahen wir um die Hausecke.
Ich rechnete jederzeit damit, in das plötzlich auftauchende Gesicht des dicken Jungen zu blicken, und die Haut in meinem Nacken zog sich zusammen.
Von hier aus konnte ich die Stelle, an der er gesessen hatte, nicht erkennen, da ein vertrockneter Busch die Sicht versperrte.
„Soll’n wir wirklich da rein?“ Peters Stimme war so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.
„Ich geh rein“, sagte ich ebenso leise. „Wenn du willst, kannste ja hier warten.“ Innerlich hoffte ich, dass er es nicht tun würde, denn so ganz wohl war auch mir nicht bei der Sache.
„Mitgefangen, mitgehangen“, murmelte er nur.
Gebückt rannten wir zu einem dicken Strauch, der uns auch früher bei unseren Piratenspielen immer als Versteck gedient hatte, und warfen uns in seinem Schatten auf den Boden.
„Scheiße, dass sie so viele Bäume weggemacht haben“, zischte Peter.
Innerlich stimmte ich ihm zu, wenn ich auf die weitläufige Rasenfläche zwischen uns und der Holzbank blickte, auf der vorhin der Vogel gesessen hatte.
„Meinst du, der Fettsack ist im Haus?“ Peter deutete auf das weiß getünchte Krüger-Haus.
Ich sah eine Tür, die einen Spalt breit offen stand, ein winziges, vergittertes Fenster daneben.
„Wenn er kommt, teilen wir uns auf. Du rennst rechts, ich links an ihm vorbei. Und jetzt will ich wissen, was er da drüben gemacht hat.“
Ich ging in die Hocke, sah noch einmal zurück zum Haus – hatte sich die Tür gerade bewegt? – dann rannte ich los, gebückt wie ein alter Indianer, hinüber zum vertrockneten Busch in der Nähe der Bank. Peter folgte.
Von hier aus war der untere Teil des Hauses nicht mehr zu sehen, doch sah ich stattdessen, was da vor der Bank im Gras glänzte.
Langsam gingen wir näher heran.
Peter schob mich beiseite. „Ist das ein Anspitzer?“
Ich nickte, doch viel mehr erschreckte mich das, was drum herum das Gras bedeckte.
„Rudi hatte Recht“, flüsterte Peter. „Da ist Blut.“
Ein Knall weit hinter uns ließ Peter und mich gleichzeitig aufschreien. Geistesgegenwärtig sprangen wir zurück hinter den vertrockneten Busch.
Ich spürte Tränen in meinen Augen, hatte das unbändige Bedürfnis, auf der Stelle loszuheulen. Wenn ich jetzt allein gewesen wäre, hätte ich nach meiner Mutter gerufen. Warum war ich nicht allein?
Ich sah Peter an, der mit roten Wangen durch das Gebüsch hindurch auf das Haus starrte. „Es war die Tür.“ Er blickte nicht auf. „Sie ist jetzt zu.“
„Lass uns abhauen.“ Ich wartete Peters Reaktion nicht ab und rannte los, sah das Haus, das immer näher kam, den Weg, über den wir vor Minuten gekommen waren und auf dem es kälter war, als vor dem Haus selbst.
Kurz bevor ich den Weg erreichte, griff jemand nach meiner Schulter und riss mich herum. Erneut wollte ich schreien, doch dann erkannte ich Peter, der seinen Finger vor den Mund hielt und mich wieder Richtung Gebüsch zog.
„Es war nur die Tür“, sagte er leise, als wir hinter dem Strauch in Deckung gegangen waren.
„Aber vielleicht ist er rausgekommen“, wimmerte ich.
„Siehst du ihn irgendwo?“
Hektisch sah ich mich um. Peter hatte Recht, der Dicke war nirgends zu sehen. „Ja und“, sagte ich. „Wir haben alles gesehen, was wir wollten.“
„Aber was ist mit dem ganzen Blut?“
„Vielleicht hat er sich mit dem Anspitzer seinen Pimmel eingeritzt.“
Peter grinste. „Dann muss der ja ziemlich klein sein.“
Jetzt schmunzelte auch ich, und langsam kroch die Panik aus meinem Körper heraus, um irgendwo, weit weg zu verschwinden.
„Und, was hast du vor?“
Peter schien zu überlegen. „Mich würd’ interessieren, wie’s da drin aussieht.“ Wieder grinste er.
„Du spinnst.“ Er grinste weiter. „Du willst nicht wirklich da rein?“
„Schiss?“
Ich überlegte. Klar hatte ich Schiss, vermutlich hatte ich mir bereits in die Hose gemacht, als vorhin die Tür zugeschlagen war.
„Also, ich geh rein. Kannst ja hier warten.“ Er stand auf.
„Sollten wir nicht Rudi Bescheid sagen?“
Peter winkte ab. „Der ist bestimmt schon abgehauen. Also, kommste mit oder nicht?“
Ich hatte auf einmal das Gefühl, als würde einer von mir verlangen, von einem hohen Baum in einen Stacheldrahtzaun zu springen. Langsam stand ich auf. „Okay, geh’n wir.“
Vor der Tür überkam mich wieder diese Kälte; sie schien vom Haus selbst zu kommen. Vorsichtig berührte ich den Stein und zuckte erschrocken zurück. Tatsächlich war die Wand eiskalt.
Peter tastete unterdessen über die Tür, deren dunkler Lack an den meisten Stellen abblätterte und wie geborstene Hautlappen herabhing. Peter berührte den Knauf, rüttelte vorsichtig daran.
„Lass es lieber sein“, krächzte ich. Die Gewissheit, dass unser Handeln falsch war, schien mich in diesem Moment ersticken zu wollen. Ich keuchte, sog pfeifend die Luft ein. „Es ist doch egal, was er gemacht hat.“ Ich wusste nicht, ob Peter mich überhaupt gehört hatte.
„Sieh dir das hier mal an.“ Er deutete auf den Boden vor der Tür.
Als ich seinem Blick folgte, entdeckte auch ich die winzigen roten Tropfen neben ein paar herabgefallenen Lackresten.
„Mit Sicherheit ist er hier rein“, sagte Peter.
Ich wollte es gar nicht mehr wissen.
Peter drückte an der Tür, und als sie aufsprang, spürte ich ein heißes Pulsieren in meinen Waden, welches in meine Blase schoss und sich dort rasend schnell ausbreitete. Ich merkte, dass mein Mund offen stand, merkte den feuchten Tropfen, der sich einen Weg über meine Lippe bahnte, als Peter die Tür weiter aufschob.
„Oh, mein Gott“, wimmerte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben.
Immer fester presste ich mich mit der Schulter gegen die Wand des Hauses, die Kälte machte meine Haut taub, doch gab sie mir auch eine Art Sicherheit vor dem, was da hinter der Tür hauste.
Ein Poltern schlug uns entgegen, Peter blickte erschrocken zu mir herüber. Und dann ging alles rasend schnell.
Noch heute sehe ich in jedem meiner Träume Peters Gesicht, seinen Blick – fragend? – entsetzt, als die fleischige Hand aus dem Türspalt hervorschoss und sich blitzartig um den Hals meines Freundes krallte. Ich sehe die zu einer blutigen Spitze geformten Fingerkuppen ohne Nägel, ohne Haut. Nur die grauen Knochen. Ich sehe den glänzenden Anspitzer im Gras liegen – „Vielleicht hat er sich seinen Pimmel eingeritzt“ – Nein, es war nicht der Pimmel! – sehe das Blut, das an einem Grashalm herabrinnt.
Ich glaube, Peter wollte noch etwas rufen, als er im gleichen Moment durch die Tür ins Innere gerissen wurde. Der dumpfe Knall der zuschlagenden Tür ließ Lackreste wie winzige Papierflieger zu Boden rieseln.
* * *
Niemals wieder habe ich den Garten der Krügers betreten, niemals habe ich einen von ihnen gesehen, und so wurde auch das Geheimnis um Adam Krüger niemals aufgeklärt.
Die Polizei hatte das Haus durchsucht, doch fanden sie nicht den geringsten Hinweis auf Peter. Noch Wochen später grinste mich sein Foto, welches ihn mit einem spitzen Hütchen bei seinem neunten Geburtstag zeigte, auf unzähligen Plakaten an.
Seine Familie zog noch im selben Jahr von hier fort, und irgendwann verschwanden auch die Plakate.
Die Krügers packten ebenfalls etwa ein Jahr später ihre Sachen. Man munkelte, ihr Sohn sei schwer erkrankt und müsse in einer speziellen Klinik behandelt werden. Ein halbes Jahr nach ihrem Auszug wurde das alte Krüger-Haus abgerissen, um Platz für die erste U-Bahn-Trasse, die durch unseren kleinen Vorort ging, zu schaffen.
Jetzt, fast vierzig Jahre später, stehe ich hier am Grab meines alten Freundes Rudolf. Wir hatten den Kontakt zueinander nie ganz abgebrochen, doch beschränkte er sich in den letzten Jahren auf sporadische Telefongespräche in unregelmäßigen Abständen.
Was damals genau an der Gartentür des Krügerhauses geschah, habe ich ihm nie erzählt. Ich glaube, er wollte es auch gar nicht wissen. Er hatte einfach hingenommen, dass einer seiner Freunde nicht mehr da war.
Als ich ihn sehr viel später einmal darauf ansprechen wollte, sagte er nur: „Mein lieber Freund, ich denke, nicht jede Frage muss beantwortet werden.“ Und dabei war es geblieben.
Auch ich habe inzwischen gelernt, dass manche Türen einfach geschlossen bleiben sollten …