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Die Goldfisch-Methode
Wissen Sie, wie viel Ihr Leben wert ist? Ich weiß es. Vor zehn Jahren traf ich eine Abmachung mit einem Jungen. Heute ist er vierundzwanzig, Auftragskiller und sitzt mir gegenüber; seine Hand hält eine Magnum, deren Lauf zwischen meine Augen zielt. In seinem Gesicht erkenne ich so etwas wie Mitleid, aber auch den unbedingten Willen, das Versprechen auszuführen, das er mir geben musste.
Damals dachte ich, mir selbst eine Frist von eben diesen zehn Jahren setzten zu müssen, in denen ich mein Leben in den Griff zu kriegen hoffte. Ich gab dem Jungen fünfzig Mäuse, damit er mich umbrächte, sollte ich es nicht schaffen. Für diese Summe bekommt man in einem Mittelklassehotel in Bombay nicht einmal eine Tasse Tee.
So viel ist also mein Leben wert: Weniger als einhundertfünfundzwanzig Milliliter Orange Pekoe.
Der Junge heißt eigentlich Georg, doch alle nennen ihn den goldenen Fisch, weil er eine Schwäche für orangefarbenes Haar hat und nach der Goldfisch-Methode lebt: Plane dein Leben höchstens drei Sekunden im Voraus. Was keinesfalls bedeutet, er wäre dazu nicht imstande. Nein, er ist lediglich davon überzeugt, Pläne zu verfolgen führe ins Verderben.
Bei der ganzen Geschichte gibt es einen Haken: Ich stehe kurz davor, mein Leben zu zähmen, ich benötige noch einen Monat, höchstens. Aber der fünfzehnte August ist heute. Vier Wochen. Null komma null-null-zwo-drei-fünf, gerundet natürlich, wenn man diese Zeitspanne, gerechnet an meiner jetzigen Lebensdauer, angeben will. Mit fünfundzwanzig Jahren sollte man keine Geschäfte mit Kindern besiegeln, schon gar keine, bei denen Geld im Spiel ist. Nur, wozu sich Gedanken machen? Ich rechne mit weniger als zwei Prozent Überlebenschancen, und Georg die Situation zu erläutern wäre nicht nur Zeitverschwendung sondern schlichtweg dumm.
Und dennoch, irgendwie hänge ich am Leben, daran, wie es geworden ist und noch werden könnte. Nicht alles in den letzten Jahren misslang, manches lief glatter als erwartet, und seit Maria diese Dessous trägt...
Georgs Hand zittert, ob vor Aufregung oder Angst kann ich nicht beurteilen. Vermutlich hat auch die geschwollene Armbeuge etwas damit zu tun. Immer wieder späht er zur Digitaluhr. Irgendwie amüsiert mich der Gedanke, um Punkt fünfzehn Uhr fünfzehn zu sterben. Keine Sekunde früher, keine Sekunde später. Es ist jetzt zehn nach drei.
Ich beginne mit den Beinen zu wippen und bringe Georg durcheinander, ohne es zu wollen. Als könne er die Spannung nicht mehr ertragen, erschlafft sein Körper, er lässt die Waffe sinken und stützt sich mit beiden Armen auf seine Oberschenkel. Die Hand, die den Griff umklammert, schwingt wie eine Sense hin und her, den Kopf hält er gesenkt.
Sieht einem Auftragskiller gar nicht ähnlich, zwischendrin die Nerven zu verlieren, ohne einen Versuch des Verbergens zu unternehmen. Georg steht auf und wandert durchs Zimmer. Das Haar ist schweißverklebt. Vielleicht liegt es auch an dem überheizten Zimmer, in dem ich vor Kälte zittere.
Ich beobachte ihn stumm, versuche aber, nicht zu viel zu starren. Er sagt nichts mehr, seit er mir den Mund verbunden hat. Wozu auch, ich könnte doch nicht antworten, und eine verbale Folterung sieht ihm nicht ähnlich. Außerdem glaube ich nicht, dass er das drauf hätte. Ganz ehrlich.
Zuvor sprach er von Versprechen unter Männern und entschuldigte sich für die Nase, die er mir, so war er überzeugt, einschlagen hatte müssen, um mich überwältigen zu können.
Allmählich fühle ich die abgeschnürten Hände und Füße nicht mehr. Nun, die Blicke der Zuschauer schneiden ohnehin tiefer ins Fleisch. Georg hat drei seiner Freunde mitgebracht. Sie sitzen auf der Couch, rauchen und warten. Ich frage mich, wozu das Publikum. Georg hat Prahlerei nicht nötig, jedenfalls glaube ich das, oder er möchte in irgendeine höhere Liga aufsteigen, die mir unbekannt ist. Als Beweis dient der Mord an einem Freund vor Zeugen. Möglich ist es immerhin, und unter diesem Gesichtspunkt ist mein Tod wenigstens zu etwas nütze. Obgleich ich mich seit Jahren nicht mehr zu Georgs Freunden zähle.
Zwölf nach drei. Georgs Schwäche für aufdringlich klappernde Sohlen zerrt an meinen Nerven. Die drei stört offenbar überhaupt nichts, sie ignorieren das Pochen an der Tür ebenso wie den Gestank nach fauligem Abfluss und altem Blut, der aus dem Bad strömt.
Dreizehn nach drei. Ich beschließe, nicht abergläubisch zu sein.
Vierzehn nach drei. Ich habe ein Déjà-vu. Plötzlich geht mir alles zu schnell. In einer Minute soll alles vorbei sein? Ich weiß, es kann nicht so sein. In letzter Sekunde kommt immer etwas dazwischen. Wie beruhigt man sich selbst, wenn man der Verursacher ist? Noch zwanzig Sekunden.
Georg hat sich wieder vor mir niedergelassen, der Lauf seiner Magnum drückt eisig gegen meine Stirn. Er mag es nicht, wenn man ihn Profi nennt, doch genau das ist er in diesem Augenblick. Ruhiger habe ich ihn nie erlebt; und weiter entfernt ebenso wenig.
Er fragt mich, ob ich bereit sei. Ich nicke. Für Zweifel ist es zu spät. Er beginnt, die Sekunden abwärts zu zählen. Ich zähle nicht mit.
Zehn. Neun. Acht. Sieben.
Und was, wenn die Uhr falsch läuft? Absurder Gedanke, ich schüttle im Geiste den Kopf.
Sechs. Fünf. Vier.
Mein rechter Nasenflügel juckt.
Drei. Zwei.
Das Herz rast, ich dachte das wäre...
Eins. Guter Goldfisch.