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Erscheint im Weltenportal Nr. 4
Die grüne Phiole
Staubpartikel flimmerten im schräg einfallenden Licht, das durch die mit Blei eingefassten Butzenfenster brach. Von draußen schallte das Geklapper von Hufen auf dem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Dampfkutschen herauf.
Marie saß in ihrem Schaukelstuhl und starrte auf die soeben fertig gestellte Apparatur. Auf einem Mahagoni-Tischchen daneben lagen die Lochkarten und die Phiole bereit.
Am nächsten Tag sollte die Maschine abgeholt werden. Sie selbst zum Palast bringen durfte sie nicht. Der Zutritt war ihr strengstens untersagt.
Und alles bloß, weil sie versuchte, die Machenschaften des Regenten zu unterbinden. Es war doch nur ein winziger Putschversuch. Außerdem ein recht erfolgloser. Ihre Anhänger ließ er hinrichten. Jedenfalls die, von denen er erfuhr. Ihr selber wurde das Glück zuteil, weiterleben und arbeiten zu dürfen. Dafür stellte er ihr dieses Domizil zur Verfügung. Streng bewacht, versteht sich.
Wenn alles klappte, würde sich das schon bald ändern. Der Plan war so simpel, dass sie sich fragte, warum sie nicht früher darauf gekommen war. Vielleicht hatte es genau so kommen müssen. Wer weiß?
Sie griff nach der Phiole und betrachtete sie nachdenklich. Die grüne Flüssigkeit im Innern schwappte herum und leuchtete im Sonnenlicht fluoreszierend.
Sie straffte die Schultern, schob die Schutzbrille in die Haare und blies sich eine wirre Strähne aus der Stirn.
Mit dem Niederschlagen ihrer Antimiliz-Gruppe erledigte sich ihre Beziehung. Dabei hatte sie ihn geliebt. Zumindest am Anfang, bevor er sich derart veränderte. Damals, als er noch Alexej hieß und sich noch nicht von jedermann mit „dem Regenten“ anreden ließ. Schon als Kinder waren sie die besten Freunde. Alexej, Marie und Anjuschka. Zu dritt stromerten sie in den Gassen der Stadt oder in den Gängen des Palastes herum und stellten allerlei Unfug an. Später teilten sie abwechselnd sein Bett. Außer den beiden Frauen wusste kaum jemand von seinem Geheimnis - der Herzschwäche.
Mit der Zeit veränderte sich alles. Der Mann, in den er sich verwandelte, entsetzte sie dermaßen, dass sie keinen anderen Ausweg sah.
Und nun saß sie in diesem goldenen Käfig fest. Wenigstens erlaubte er Marie, ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Entwerfen und Bauen von Maschinen, nachzugehen. Hin und wieder zwang er sie dazu, Aufträge für ihn zu erledigen, ansonsten ließ er ihr freie Hand bei ihren Projekten.
Dieses Mal musste sie ihm ein besonderes Musikinstrument erschaffen. Zur Belustigung seiner adligen Marionetten und um der Frau an seiner Seite zu imponieren. Sie beneidete Anjuschka nicht um diesen Platz. Doch ihre Freundin aus Kindertagen hatte es schließlich so gewollt.
Marie beschloss, das Instrument ein letztes Mal zu testen.
Seufzend legte sie den filigranen Gegenstand auf den Tisch zurück und stand auf. Sie richtete ihr mit Kupferfäden durchwebtes Korsett und strich den Rock glatt. Dann befüllte sie die Behälter mit glühenden Kohlen, um das Wasser zu erhitzen. Ratternd setzten sich die Zahnräder in Gang und die Maschine erwachte zum Leben.
Sie nahm eine Lochkarte vom Stapel und speiste damit den Einschub.
Augenblicklich begannen die Kolben zu arbeiten, das Instrument dampfte und ratterte mit einem solchen Getöse, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. So war das nicht geplant. Da musste sie noch einmal ran und nachjustieren.
Mit Schraubenschlüsseln bewaffnet machte sie sich an die Arbeit. Zog hier ein paar Schrauben nach, stellte da ein Zahnrad ein, blies den Kohlenstaub von den Kolben, damit nichts blockierte.
Als Marie sich über das Herz der Maschine beugte, blieb sie mit dem Ärmel an einem Schraubgewinde hängen und schnitt sich daran tief in das Fleisch.
„Scheiße, verfluchte! Tut das weh!“, rief sie.
Blut sprudelte heraus und benetzte die Zahnräder, bevor sie einen ölverschmierten Lappen darauf pressen konnte, um die Blutung zu stoppen.
Mit gerunzelter Stirn begutachtete sie den Schnitt. Er war tief und müsste genäht werden.
„Verdammt!“, flüsterte sie.
Sie eilte zur massiven Holztür und trat mit den Stahlkappen ihrer Schnürstiefel gegen die Messingbeschläge.
„Hey!“, brüllte sie.
Das Guckloch wurde geöffnet und ein Paar schlammfarbene Augen starrten hindurch.
„Was willst du?“, herrschte der Soldat sie an.
Sie hielt den blutenden Arm in die Höhe. „Ich hab mich verletzt. Ich brauche medizinische Versorgung.“
„Ich schicke jemanden“, erwiderte er knapp und schob die Luke krachend zu, bevor Marie noch etwas sagen konnte.
Wütend trat sie erneut gegen die Tür, drehte sich um und ließ sich aufstöhnend in den Schaukelstuhl fallen. Während sie wartete, drückte sie sich weiterhin den Öllappen auf die Wunde. Es brannte höllisch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Daria, die Medizinerin. Zur Begrüßung tippte sie sich leicht an das Federhütchen, das korrekt auf dem streng frisierten Haupt saß. Die elegant gekleidete Frau, mit extravagantem Reifrock und kupfernen Nieten bestücktem Oberteil, stand seit Ewigkeiten in den Diensten des Regenten.
„Oh, du hast dich ja dieses Mal wirklich verletzt. Das werde ich nähen müssen, meine Liebe“, flüsterte sie, während sie sich über den Arm beugte.
„Au, pass bitte auf“, jammerte Marie. „Das war doch keine Absicht. Hmm, aber vielleicht ist das sogar besser so. Die wären uns sicher bald auf die Schliche gekommen. Beim letzten Mal hatte ich schon so ein ungutes Gefühl.“ Marie nickte mit zusammengezogenen Augenbrauen in Richtung Tür.
„Hab keine Sorge. Mir vertraut er.“ Aufmunternd nickte ihr die Medizinerin zu und versorgte die Wunde mit so schnellen Handgriffen, dass Marie Mühe hatte, ihren Bewegungen zu folgen.
In einem von den Wachen unbeobachteten Moment schob sie Daria einen Gegenstand hinüber, den diese unauffällig unter dem Verbandsmaterial versteckte.
Nachdem die Medizinerin den letzten Stich verknotete, packte sie die Verbände und blutigen Tupfer zusammen und stopfte alles in ihre Tasche. Rasch erhob sie sich und nickte den Wachen zu, als Zeichen, dass sie fertig war.
Seufzend blickte Marie der Frau durch das verschwommene Fensterglas hinterher, nachdem sie gegangen war. Daria eilte über das Kopfsteinpflaster, die lederne Arzttasche fest an den Oberkörper gepresst, zu ihrer Dampfkutsche, deren Dach im Sonnenlicht glänzte.
Passanten flanierten vorbei. Herren mit eleganten Gehröcken und Zylindern führten ihre mit Federn und Schirmchen geschmückten Damen spazieren. Brave Bürger, die ihre gewöhnlichen Leben führten. Nicht ahnend, was um sie herum und im Bauch des Hügels, auf dem sich der Palast über der Stadt erhob, vor sich ging.
„Wenn ihr bloß wüsstet“, murmelte Marie, schüttelte traurig den Kopf und machte sich erneut an die Arbeit. Mit Vorsichtigen Bewegungen beendete sie die Nachjustierungen, schraubte das Instrument zusammen und polierte das Metall auf Hochglanz. Dabei stöhnte sie jedes Mal gequält auf, wenn sie ihren Arm anspannte und der Schmerz einschoss.
Als sie es erneut probierte, ratterten und schnurrten die Zahnräder. Nach Einschub der Lochkarte bewegten sich die Kolben leise ploppend auf und ab. Aus den Ventilen entwich zischend der Dampf. So sollte es sein. Zufrieden stützte sie die unverletzte Hand in die Hüfte.
Dann setzte die Musik ein.
Zuerst ertönten zackige Geigenklänge, zu denen sich bald Waschbrett-Geschrammel und tiefe Basstöne mischten, das Ganze wurde von hellen Glockenklängen untermalt. Kaum zu glauben, dass alles nur von der Maschine stammte.
Marie konnte nicht anders. Sie tippte anfangs mit der Fußspitze auf den Dielenboden. Als die Bajolele hinzu kam, vergaß sie für einen Moment den Schmerz, raffte die Röcke und tanzte übermütig durch die Werkstatt. Stapfte dabei immer heftiger mit den Stiefelabsätzen auf den Boden und drehte sich wilder und wilder im Takt der schnellen Melodie, die sich zu den rhythmischen Eigengeräuschen des Instrumentes gesellte.
Sie hatte es geschafft! Es war perfekt. Nun musste der Rest auch noch klappen.
Am nächsten Morgen wurde heftig gegen die Tür gehämmert, bevor sie mit einem Krachen aufflog. Marie wischte sich die schweißnassen Hände an ihrem Rock ab und sah erwartungsvoll zum Eingang.
Wuchtige Waffen im Anschlag, strömte ein halbes Dutzend mechanischer Wachen in den trüben Raum. Die glänzenden Panzer klirrten und quietschten bei jeder Bewegung. Sie verteilten sich in der Werkstatt und flankierten die Tür.
Seit den frühen Morgenstunden tigerte sie durch ihr Gefängnis. Gewaschen und aufreizend zurecht gemacht. Sie wählte absichtlich ein enges Unterbrustkorsett, welches das Atmen erschwerte. Der Rock war so gerafft, dass er einen großzügigen Blick auf ihre Netzstrumpfhose freigab. All das, in der Hoffnung, dass der Regent persönlich kam, um das Instrument abzuholen. Sie wollte ihn noch einmal sehen. Trotz allem.
Doch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Stattdessen tauchte ein einfacher Handlanger auf, der ein paar bulligen Trägern befahl, das Instrument herauszuschaffen.
Bevor er aus der Werkstatt rauschte, wandte er sich an Marie. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck, als wäre sie ein schmutziges Insekt, schaute er zu ihr herab und sagte: „Als Lohn, kannst du den Wachen eine zusätzliche Materialbestellung geben. Aber ich warne dich. Übertreib es nicht!“
Sie nickte schluckend und drückte einem vorbei gehenden Handlanger den Stapel Lochkarten in die Hand.
Dann war der ganze Spuk vorbei. Die Tür flog krachend hinter ihnen ins Schloss.
Alleine mit sich, ihren Gedanken, Werkzeugen und Maschinen, schlich sie durch die Werkstatt.
Die Stirn an die kühle Scheibe gelehnt, sah sie dem Trupp hinterher, wie sie das Instrument über das regennasse Kopfsteinpflaster zu der Dampfkutsche trugen. Nun lag es nicht mehr in ihrer Hand.
Weit oben auf dem Hügel stand Anjuschka in ihren Gemächern und blickte in den verregneten Morgen hinaus. Von ihrem Turm aus konnte die zierliche Frau die ganze Stadt überschauen.
Die nassen Dächer glänzten kupfern in den Strahlen der Sonne, die durch die Regenwolken brachen.
Es kribbelte in ihrem Bauch vor Aufregung. Der besondere Tag war gekommen. Zum Mittagsbankett sollte dieses neuartige Instrument vorgeführt werden.
Doch zunächst wartete sie auf ihre Leibärztin.
Der Regent wünschte sich dringend einen Sohn. Weder sie, noch ihre Marie erfüllten ihm bisher diesen Wunsch. Wenn es nach Anjuschka ging, blieb er auch weiterhin unerfüllt. Doch das durfte sie ihm unter keinen Umständen zeigen. Zum Wohle des Plans.
Nun kam die Medizinerin jeden Morgen vorbei und verabreichte ihr spezielle Injektionen.
Mit der Zeit wurden sie enge Vertraute und der Besuch einer der wenigen Lichtblicke des Tages.
Zum wiederholten Male fragte sie sich kopfschüttelnd, was sie ritt, sich in diese Lage zu bringen. War es das alles wert?
Schließlich klopfte es an der Tür. Sie eilte mit gerafften Röcken hin, um zu öffnen.
„Guten Morgen Daria! Da bist du ja endlich. Was hat dich denn aufgehalten?“, zwitscherte sie.
Anjuschka ergriff die Unterarme der drahtigen Frau und zog sie ins Zimmer. Das sonst so strenge Gesicht der Medizinerin wurde weich.
„Guten Morgen meine Liebe. Ich habe es nicht früher geschafft. Ein kleines Flugschiff ist über der Stadt abgestürzt. Es war ewig kein Durchkommen.“
„Oh nein! Es wurde hoffentlich niemand verletzt?“
„Leider doch. Der Aeronaut und seine Passagiere sind dabei vollständig verbrannt.“
„Oh, wie schrecklich! Zum Glück bist du nun hier.“ Anjuschka strich ihr über die Arme.
Daria schob die jüngere Frau von sich weg und betrachtete sie besorgt.
„Aber lass dich einmal ansehen. Du wirst von Tag zu Tag durchsichtiger.“
Anjuschka winkte ungeduldig ab.
„Sag, hast du es?“, drängte sie und schielte auf die lederne Arzttasche.
„Hier drin“, entgegnete Daria und klopfte auf die Tasche. „Jetzt liegt es bei dir. Es hängt viel von deinem Gelingen ab. Du weißt, was du zu tun hast?“
Anjuschka nickte eifrig. Sie hatten das alles unzählige Male durchgekaut und es war ihr nur allzu bewusst, welche Verantwortung auf ihren Schultern lag. Nicht auszudenken, was geschah, wenn sie versagte.
Die Medizinerin öffnete die Tasche, holte das metallene Spritzenbesteck heraus und bereitete alles für die Injektion vor. Dann, beinahe beiläufig, reichte sie Anjuschka einen Gegenstand, den diese hastig unter ihrem Mieder verbarg.
Keine Sekunde darauf klopfte es. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde die Tür aufgerissen. Für einen Augenblick blieb Anjuschka das Herz vor Schreck stehen, um dann mit dreifacher Geschwindigkeit weiter zu Hämmern.
Der Regent betrat den Raum mit schweren Schritten.
„Einen guten Morgen“, polterte er und mit knappen Blick auf Daria: „Oh, noch hier?“
„Ja, Eure Lordschaft. Ich brauche noch einen winzigen Moment.“ Daria stellte konzentriert die filigranen Rädchen der Spritze ein und zog eine Flüssigkeit auf.
„Euch auch einen guten Morgen, Regent“, beeilte sich Anjuschka zu sagen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Backenbart.
Er zückte seine goldene Taschenuhr und warf einen Blick darauf.
„Beeile dich! Ich erwarte dich gleich im Speisesaal“, befahl er knapp, machte kehrt und nickte ihnen zu.
Die beiden Frauen warfen sich vielsagende Blicke zu. Dann beendete die Medizinerin rasch ihre Arbeit und eilte aus dem Raum.
Unzählige Kerzen tauchten den Repräsentations-Saal in bernsteinfarbenes Licht.
Gigantische Zahnräder, polierte Rüstungen und Waffen schmückten die Wände, reflektierten das flackernde Licht und warfen es zurück.
Das Instrument stand in der Mitte des Raumes auf einem hölzernen Podest, die Kolben und Zahnräder mahlten und stampften rhythmisch vor sich hin. Die Ventile stießen in kurzen Abständen Rauchwölkchen aus. Rundherum saß die feine Gesellschaft, bestehend aus hochrangigen Adligen und ihren Begleiterinnen an Banketttischen und labten sich an den feinsten Speisen und erlesensten Weinen.
Sie unterhielten sich raunend. Dabei wanderten ihre Blicke immer wieder zu der glänzenden Maschine. Hinter vorgehaltenen Händen und Fächern wurden die verschiedensten Mutmaßungen geäußert, was dieses Wunderding wohl vermochte.
Die Luft war erfüllt von Bratenduft und den Rauchschwaden der rußigen Kerzen.
Zwei mechanische Soldaten in goldenen Rüstungen öffneten die Flügeltüren am Saalende und platzierten sich zu beiden Seiten. Die armlangen Gewehre geschultert, aufgezogen und einsatzbereit. Hinter den Visieren starrten ihre leblosen Gesichter in den Raum. Man konnte die Einspritzventile unter dem Metall ihrer Brustpanzer gluckern hören.
Der Regent schritt in den Raum, begleitet von Anjuschka, die ihren behandschuhten Arm auf seiner Hand platziert hatte. Neben dem bulligen Mann sah die zarte Frau beinahe verloren aus. Sie nahmen am erhöhten Kopfende der Tafel Platz.
Alle Blicke ruhten auf dem Regenten. Sie unterbrachen ihre Gespräche und ließen die Bestecke sinken.
Er wartete einen Moment. Genoss sichtbar zufrieden die Aufmerksamkeit. Dann gab er dem Maschinisten mit einem Wink zu verstehen, dass er beginnen konnte.
Augenblicklich eilte der hutzelige Mann herbei, bereitete die Apparatur vor und schob die erste Lochkarte in den Schlitz.
Anjuschka lehnte sich vor, um besser sehen zu können. Wie gebannt starrte sie auf das Podest. Seit Stunden wartete sie schon unruhig auf diesen Augenblick. Den ganzen Vormittag über konnte sich kaum auf ihre Pflichten und die Gespräche mit dem Regenten konzentrieren.
Sie warf einen flüchtigen Seitenblick auf ihn. Er saß mit verschränkten Armen zurückgelehnt da, die harten Gesichtszüge verrieten keinerlei Gefühlsregung.
Als die ersten Klänge ertönten, richteten sich die Herren auf und die Damen fächerten sich wie in Zeitlupe Luft zu.
Während des Stücks, das an Fahrt gewann und immer schneller wurde, rutschte die Gesellschaft auf ihren Sesseln hin und her.
Anjuschka konnte einigen von ihnen ansehen, dass sie am Liebsten aufgesprungen und sich im Takt der Melodie bewegt hätten. Doch das ziemte sich selbstverständlich nicht. Ihr selbst erging es nicht anders.
Einzig und allein der Regent zuckte mit keinem einzigen Muskel.
Die letzten Töne verhallten und für endlose Sekunden verharrten die Menschen mit offenen Mündern. Schließlich hielt es sie nicht mehr in den Sitzen. Einige sprangen auf, stets mit einem Auge auf den Regenten, um die kleinste Regung möglichen Missfallens zu registrieren.
Anjuschka klatschte begeistert und lehnte sich zu ihrem Sitzpartner.
„Oh, es ist wundervoll! Ein Meisterwerk!“, rief sie, bemüht den Applaus zu übertönen.
„Ja. Ich muss zugeben, dieses Mal hat sie sich selbst übertroffen.“
„Meint ihr, ich darf es mir einmal ansehen? Vielleicht auch selbst ausprobieren?“
Er blickte sie selbstgefällig lächelnd an und nickte ihr mit einer auffordernden Geste zu.
„Oh, danke!“, flötete sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann lief sie leichtfüßig zu dem Podest, umrundete es und sah sich das Musikinstrument von allen Seiten genau an.
So unauffällig wie möglich tastete Anjuschka die Rückseite ab, bis sie fand, was sie suchte. Behände, durch die Maschine von allen Blicken gut geschützt, zog sie die kleine Phiole unter ihrem Mieder hervor.
Der daumengroße Gegenstand kam ihr tonnenschwer vor und drückte sich bei jeder Bewegung verräterisch in ihren Leib, seit sie ihn am Morgen von Daria erhielt.
Sie seufzte erleichtert auf, als die Phiole in der Öffnung verschwand.
Im nächsten Moment drehte sich der Maschinist um und bedeutete ihr mit einem Nicken, näher zu kommen. Er nahm eine Lochkarte vom Stapel und zeigte ihr, wo Anjuschka sie einschieben sollte.
Andächtig speiste sie das Instrument mit der Karte. Dann trat sie einen Schritt zurück, legte den Kopf schief und beobachtete, wie es zu arbeiten begann. Nun gab es keinen Weg mehr zurück.
Die Schritte zu ihrem Platz kamen ihr vor, als würde sie wie auf Watte gehen. Ihre Knie zitterten vor Anspannung.
„Alles in Ordnung, meine Liebe?“, fragte der Regent sie ungewohnt freundlich.
Sie nickte mit zusammengepressten Lippen. Fast tat es ihr leid, was sie getan hatte. Doch für Reue war es zu spät.
Die ersten Töne erklangen bereits. Die Geigenklänge setzten ein und als das Banjolelen-Element ein hohes D anzupfte, zerbrach die Phiole im inneren des Instruments. Die grüne Flüssigkeit trat aus, floss über die Zahnräder und verteilte sich in der Apparatur.
Als die Flüssigkeit mit Sauerstoff in Berührung kam, stieg Rauch auf, der als feine, kaum wahrnehmbare Schwaden durch die Luft schwebte. Er verteilte sich im gesamten Saal und stieg den Leuten in die Nasen.
Der Regent atmete den Rauch ebenfalls ein, der sich in seinem Körper ausbreitete, bis er den kleinen mechanischen Herzschrittmacher fand. Innerhalb von Sekunden legten die chemischen Dämpfe das Gerät lahm.
Er fasste sich an die Brust, die Augen vor Erstaunen und Schmerzen weit aufgerissen und blickte zu Anjuschka.
„Was passiert mit mir? Hilf mir! Bitte!“
Sie war hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Abscheu. Er krümmte sich, von der Gesellschaft unbemerkt, dessen volle Aufmerksamkeit auf das Instrument gerichtet war.
Ausgerechnet in diesem Moment beachtete ihn niemand.
Seine Augen flackerten. Mit seinem letzten Atemzug wirkte er wie der junge Alexej von damals. Kaum hörbar flüsterte er: „Marie ...“ Dann erschlaffte der Körper und rutschte seitlich vom Sessel, auf den blank polierten Boden.
Während seine Gäste erschrocken aufsprangen und sich um ihn scharrten, beugte sich Anjuschka über den Regenten. Tränen der Erleichterung stiegen in ihre Augen und sie verbarg ein zufriedenes Lächeln. Dann sah sie auf und rief in die Runde: „Schnell! Holt Daria, die Medizinerin! Der Regent hatte einen Herzinfarkt!“